Beschluss vom Landgericht Dortmund - 8 O 4/18 (Kart)
Tenor
Die Kammer weist nach Beratung ergänzend zu den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung in der gebotenen Kürze auf folgende Aspekte hin:
1
I.
2Die Kammer geht nach vorläufigem Beratungsergebnis aufgrund des bisherigen Sach- und Streitstandes davon aus, dass ein Schaden – in welcher Höhe auch immer – aufgrund der Kartellrechtsverletzung der Beklagten eingetreten ist. Dies gilt vorbehaltlich näheren Vortrages der Parteien im Rahmen der nachgelassenen Schriftsatzfristen im Allgemeinen sowie näheren Vortrags zu Rückerstattungen im Rahmen der zweiten streitgegenständlichen Transaktion im Besonderen.
31)
4Im Rahmen der Frage, ob ein Schaden dem Grunde nach eingetreten ist, ist eine Gesamtwürdigung aller für und gegen einen Schadenseintritt sprechenden Indizien vorzunehmen (vgl. BGH KZR 19/20, Rn 52 f. – LKW II - Juris). Die Feststellung des Schadenseintritts ist dabei nach den Maßstäben des § 287 Abs. 1 ZPO zu treffen, sodass für die richterliche Überzeugungsbildung eine deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit, dass ein Schaden entstanden ist, ausreicht (BGH KZR 19/20 - LKW II - Rn 64 juris; KZR 24/17- Schiene II - Rn. 35 juris m.w.N.).
5In diese Würdigung muss jeder Umstand mit indizieller Bedeutung für oder gegen einen Preiseffekt des Kartells einbezogen werden, sofern dieser festgestellt oder von der Partei, die sich auf ihn beruft, unter Beweis gestellt worden ist (BGH, – KZR 19/20 Rn 64 - juris). Die von den Parteien vorgelegten Regressionsgutachten stellen im Rahmen dieser vorzunehmenden Abwägung ebenfalls – lediglich - Indizien für oder gegen einen Schaden dar (vgl. BGH KZR 19/20 Rn 63 – juris).
62)
7Wesentliche der für eine Schadensentstehung auf Klägerseite sprechenden Aspekte ergeben sich bereits aus der Kommissionsentscheidung vom 19.07.2016; zu nennen sind hier insbesondere die zeitliche Lebensdauer des europaweiten Kartells, die hohe Marktabdeckung, die fehlende Substituierbarkeit des Produktes, die Fragen von Kartelldisziplin und Organisationsgrad usw.
8Ausgehend von gesicherten Erkenntnissen ökonomischer Theorie sowie empirischer Auswertungen handelt es sich insoweit um Faktoren bzw. Strukturmerkmale, die regelmäßig Auswirkungen auf die Preisentwicklung im Rahmen eines Kartells, nämlich im Sinne einer Preissteigerung haben (Vgl. Coppik/Heimeshoff, Praxis der Kartellschadensermittlung, S. 67 ff, 75 m.w.N., Hellmann/Schliffke, WUW 2021, WUW1373601, S. 7 f.).
9Insbesondere eine hohe Marktabdeckung – vorliegend mehr als 90% auf dem europäischen bzw. nahezu 100% auf dem deutschen Markt (vgl. zu letzterem OLG Naumburg, Urt. v. 30.07.2021- 7 Kart 2/20) – lässt regelmäßig auf kartellbedingte Preiserhöhungen schließen (vgl. dazu Bayer/Rinnen/Wandschneider, NZKart 2021, 407, 409; Hellmann/Schliffke, WUW 2021, WUW1373601, S. 7 f.; Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Auflage 2018, S. 96 sowie Bolotova, Journal of Economic Behavior and Organization 2009, 321). Auch ein langer Kartellzeitraum wird ganz überwiegend als wesentlicher Faktor für Kartellpreisaufschläge anerkannt (Bayer/Rinnen/Wandschneider, NZKart 2021, 407, 409; Coppik/Heimeshoff, Praxis der Kartellschadensermittlung, S. 75, Connor/Bolotova, International Journal of Industrial Organization 2006, 1109; Bolotova, Journal of Economic Behavior and Organization 2009, 321; Boyer/Kotchoni, Review of Industrial Organization 2015, 119; zum Ganzen auch Hellmann/Schliffke aaO.), zumal die durchschnittliche Lebensdauer von Kartellen nach empirischen Erfahrungen nur 5 Jahre beträgt und lediglich ein geringer Prozentsatz von Kartellen länger als 10 Jahre operiert (Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Auflage 2018, S. 170; Levenstein/Suslow, J. Econ, Lit. 2006, 43, 49 ff.).
103)
11Für die Behauptung der Beklagten, das Kartell sei unwirksam geblieben und habe bei der Klägerin keinen Schaden verursacht, streiten im Wesentlichen die von der Beklagten vorgelegten Gutachten aus Oktober 2020 und März 2021 (Anlagen GL 30 und 32). Dem sonstigen, teils auf ältere Gutachten bezogenen Verteidigungsvorbringen der Beklagten dürfte – wie schon im Rahmen der mündlichen Verhandlung erörtert – angesichts der Ausführungen des BGH in der Entscheidung LKW II (BGH KZR 19/20, Rn 37 ff. – juris) der Erfolg versagt bleiben; der Kartellsenat hat hier im Einzelnen dargetan, warum diese Argumente als widerlegt bzw. nicht stichhaltig anzusehen sind. In diesem Zusammenhang sei festgehalten, dass der Kartellsenat des BGH die sich aus den älteren Parteigutachten ergebenden Aspekte aufgrund von Einzelfallbesonderheiten als widerlegt angesehen hat, ohne dass er für diese Bewertung gerichtsgutachterliche Unterstützung erforderlich gehalten hätte (vgl. insbesondere BGH KZR 19/20 Rn 37 und 43).
124)
13Zu berücksichtigen ist nun, dass den Parteigutachten und somit auch dem Gutachten der L1, welches für die Beklagte streitende Indizien für das Fehlen eines Schadens enthält, nicht per se ein höheres Gewicht als den sonstigen Indizien zukommt.
14Vielmehr steht der sich in den Gutachten widerspiegelnde qualifizierte Parteivortrag gleichwertig den übrigen Aspekten gegenüber. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass der Inhalt der Beklagtengutachten durch die Klägerseite streitig gestellt worden ist, wie dies vice versa auch bei den Gutachten der Klägerin durch die Beklagte der Fall ist. Dabei genügt das klägerische Gutachten für sich genommen keineswegs, um die Gutachten der Beklagtenseite gleichsam aufzuwiegen. Vielmehr ist eine Gesamtabwägung anhand einer näheren Auseinandersetzung mit Datengrundlage, Methodik und Ergebnis der Regressionsanalysen erforderlich (vgl. BGH KZR 19/20 Rn 68, 71 - juris), wobei die übrigen Indizien sowie der oben geschilderte Erfahrungssatz Berücksichtigung finden dürfen (BGH KZR 19/20 Rn 5, 56).
15Hierbei ist zu beachten, dass die wesentlichen, für die Klägerin streitenden Aspekte - anders als die Gutachten und deren Datengrundlagen - aufgrund der Bindungswirkung des Bußgeldbescheides als feststehend gelten müssen.
165)
17Selbst wenn man vorliegend aber das Ergebnis der Regressionsanalyse der Beklagtenseite vom 16.10.2020 als auf zutreffender Datenlage gefertigt und in sich schlüssig akzeptiert, und dabei auch die berücksichtigten - durch die Klägerin durchaus bestrittenen - Rohdaten als wahr unterstellt, führt die Gesamtabwägung der durch die Parteien vorgebrachten Indizien gleichwohl zu dem Ergebnis, dass vom Vorliegen eines Schadens in irgendeiner Höhe (vgl. dazu LG Dortmund, 8 O 13/17 Kart = NZKart 2018, 382, Rn 92 mit Verweis auf den „ersten Schilling“ nach der bekannten Formulierung von Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht, 3.Aufl. 1997, Rn 16/8) auszugehen ist.
18Denn in der Gesamtschau hat nach vorläufiger Auffassung der Kammer die Beklagte bislang auch mit den Gutachten nach wie vor keinen hinreichend substantiierten Parteivortrag erbracht, der geeignet wäre, die durch die Klägerin vorgetragenen bzw. aus dem Bußgeldbescheid abzuleitenden Indizien aufzuwiegen.
19a)
20Die notwendige Gesamtschau aller vorgebrachten Aspekte führt vorliegend zu dem gleichsam paradoxen Ergebnis, dass zwischen den für einen Schaden sprechenden Indizien und der gegen einen Schaden sprechenden empirischen Analyse der Beklagten ein unauflösbarer Widerspruch besteht. Denn vorliegend sind sämtliche, in aller Regel für eine kartellbedingte Preissteigerung sprechenden Kernindizien (vgl. dazu die Nachweise oben und Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Auflage 2018, S. 94 ff.) in höchstem Maße erfüllt, weshalb der zu einer tatsächlichen Vermutung führende Erfahrungssatz, wonach im Rahmen eines Kartells erzielte Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten und als dessen Grundlage die wirtschaftliche Erfahrung, dass die Gründung und Durchführung eines Kartells regelmäßig einen Mehrerlös der daran beteiligten Unternehmen zur Folge hat (ständige Rspr des Kartellsenats des BGH, zuletzt BGH KZR 19/20 Rn 25 f. - juris), ganz besonderes Gewicht erhält.
21Dennoch kommt die empirische Analyse in Form des Regressionsgutachtens der Beklagtenseite zu einem „Nullschaden“. Das aufgrund der tatsächlichen Vermutung nebst den unterstützenden, für einen Schadenseintritt streitenden Indizien zu erwartende Ergebnis wird in dieser Analyse folglich nicht abgebildet.
22b)
23Doch ist dies nur scheinbar ein unauflöslicher Widerspruch, weshalb an dieser Stelle nicht stehenzubleiben ist. Vielmehr muss aus Sicht der Kammer ein weiterer entscheidender Punkt in die Abwägung der Aspekte mit einfließen:
24Wird ein Kartell nicht nur über viele Jahre mit dem aus dem Bußgeldbescheid der Kommission bereits ersichtlichen hohen Aufwand und unter dem Risiko eines drakonischen Bußgeldes, sondern auch unter Austausch sensibelster Unternehmensdaten zwischen Mitbewerbern betrieben, so bedürfte es – gleichsam im Sinne einer „theory of no harm“ – plausibler Erklärungen, warum das Kartell weit über die durchschnittliche Lebensdauer von Kartellen aufrechterhalten blieb, wenn keinerlei Kartellrendite dadurch erzielt wurde. Eine solche nachvollziehbare Erklärung hat weder die Beklagtenseite geliefert noch ergibt sie sich aus den vorgelegten Gutachten; eine solche theory of no harm ist auch im Übrigen in keiner Weise ersichtlich.
25c)
26Zwar ist zu berücksichtigen, dass die vorliegend für einen Schadenseintritt streitenden Indizien allesamt „weiche“, nämlich einer Abwägung im Sinne eines „Mehr oder Weniger“ zugängliche Elemente (z.B. längerer oder kürzerer Kartellzeitraum, höhere oder niedrigere Marktabdeckung) sind, während das Ergebnis der Regressionsanalyse ein gleichsam „hartes“ Element ist, da es als empirischer Wert naturgemäß keiner Abwägung zugänglich ist.
27Doch führt dies nicht dazu, dass der einer Abwägung nicht zugängliche Wert notwendig die sich aus einer Abwägung ergebenden Werte überwindet oder auch nur aufwiegt. Denn auch eine Regressionsanalyse besteht ihrerseits aus mehreren Elementen, die durch den Gutachter aggregiert, untereinander gewichtet bzw. auch ausgeschlossen wurden, so dass dort ohne weiteres Ungleichgewichte oder Fehler vorliegen können.
28aa)
29Mangels einer plausiblen Erklärung für den oben geschilderten Widerspruch spricht hier daher alles dafür, dass entweder Elemente nicht, nicht korrekt oder fehlgewichtet eingebracht wurden, der Datensatz zu klein bzw. nicht auf den richtigen Zeitraum bezogen war, dass tatsächliche Aspekte der Absprachen unberücksichtigt geblieben sind, die Einflüsse auf das Ergebnis hätten haben können oder ähnliches.
30Naheliegend erscheint insbesondere, dass anstelle der „während-nachher“-Analyse womöglich eine „vorher-während“ oder eine „vorher-während-nachher“- Analyse sachgerechter gewesen wäre (Vgl. dazu sowie zu den aus einer „während-nachher“-Betrachtung erwachsenden Problemen auch Inderst/Thomas, Schadensersatz bei Kartellverstößen, 2. Auflage 2018, S. 169 f.), zumal diese Methoden auch im Gutachten der L1 zunächst erwähnt, dann aber ohne weitere Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen außer Acht gelassen wurden (S. 10, 14 f des L1-Gutachtens vom 16.10.2020).
31Der - zwischen den Parteien ausweislich des Sitzungsprotokolls der Sache nach unstreitige - Einwand der Beklagten, ausreichend Daten für den Zeitraum vor Kartellbeginn seien nicht vorhanden, kann dem nicht entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung des BGH sind Erleichterungen bei der Darlegungslast zugunsten der Kartellteilnehmer – um die Effizienz des Kartelldeliktsrechts nicht zu gefährden – nur zurückhaltend zu erwägen (BGH, Urt. v. 19.5.2020 – KZR 8/18, Schienenkartell IV, Rn. 53, beck-online).
32Eine weitere potentielle Fehlerquelle liegt in den betrachteten „Nettopreisen“, die sich möglicherweise aus anderen Elementen („Bündel“, vgl. S.43 des L1-Gutachtens v. 16.10.2020) hätten zusammensetzen müssen. Weiter betrifft dies neben der Auswahl der Variablen insbesondere auch die Datengrundlage der Regression, die unstreitig teilweise bereits auf aggregierten Daten beruht, so dass ihr jedenfalls insoweit auch die erforderliche Transparenz fehlt.
33bb)
34Damit liegt mit dem Ergebnis der Regressionsanalyse keinesfalls eine gleichsam „unmögliche Tatsache“ vor, welche hier im Sinne des „Palmström-Theorems“ aufgelöst würde, sondern es sind konkrete Ansatzpunkte vorhanden, welche erhebliche Zweifel an der Stichhaltigkeit der Regressionsanalyse nähren, soweit nicht sonstige Erklärungen zur Plausibilisierung des Ergebnisses im Sinne einer oben angesprochenen „theory of no harm“ durch die Beklagtenseite erbracht werden.
35d)
36Dies führt in der Konsequenz dazu, dass aufgrund einer Gesamtabwägung die Ergebnisse der Regressionsanalyse in Frage gestellt sind, weil - auch unter dem Regime des § 287 ZPO erhebliche - Zweifel an ihrem Inhalt beziehungsweise der Stichhaltigkeit des Ergebnisses verbleiben und ihr deshalb mit der Formulierung des BGH (KZR 19/20, Rn 71) die Eignung, indiziell gegen einen Preiseffekt zu sprechen, abgesprochen werden muss.
37e)
38Bezüglich des weiteren, durch die Beklagtenseite eingebrachten Gutachtens aus März 2021 wird auf die umfassenden Erörterungen im Termin verwiesen.
39f)
40Bezüglich des durch die Klägerin eingebrachten Gutachtens bestehen Bedenken, da die Datengrundlage nicht vorgetragen und somit auch nicht erkennbar ist, ob die streitgegenständlichen LKW Bestandteil des Datensatzes waren. Zudem erscheint es als prinzipiell fragwürdig, wenn für die hier interessierenden Zeiträume jeweils derselbe Schadensbetrag unabhängig vom Gesamtpreis und den übrigen Umständen der Transaktion ermittelt wird.
41Im Hinblick auf die Diskussion in der mündlichen Verhandlung bleibt indes darauf hinzuweisen, dass in dem Gutachten zwar für die Produkte mancher Kartellbeteiligter im späten Kartellzeitraum kein Preisaufschlag festgestellt wurde, dies aber nicht die Produkte der Beklagten hier betraf.
42II.
43Jedenfalls nach derzeitigem Sach- und Streitstand sieht die Kammer nach vorläufiger Rechtsauffassung im Übrigen aufgrund dieser Umstände keine Veranlassung dafür, ein gerichtliches Gutachten zur Frage der Schadensentstehung dem Grunde nach einzuholen. Dazu sieht sie sich - auch aufgrund der in der Rechtsprechung des Kartellsenats aufgestellten Grundsätze - nicht verpflichtet (vgl. insoweit BGH KZR 19/20 Rn 37, 43, 87 f.).
44III.
45Ob darüber hinaus unter Anwendung von § 33 III GWB a.F. i.V.m. § 287 ZPO ein Schaden auch der Höhe nach festgestellt werden kann und ob hierfür die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich ist, wird Gegenstand der Schlussberatung zur Vorbereitung des Verkündungstermins unter Berücksichtigung des noch zu erwartenden, den Parteien nachgelassenen Sachvortrages sein.
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- GWB § 33 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch 1x
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- ZPO § 287 Schadensermittlung; Höhe der Forderung 3x