Grund- und Teilurteil vom Landgericht Düsseldorf - 3 O 427/88
Tenor
1) Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 1) verpflichtet ist, der Klägerin allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr anlässlich der fehlerhaften Geburtsbetreuung am 17./18.9.1985 entstanden ist oder entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht tauf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
2) Hinsichtlich des beantragten Schmerzensgeldes ist die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Klage dem Grunde nach gerechtfertigt.
3) Die gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Klage wird abgewiesen.
4) Die KIägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2). Die Kos-tenentscheidung im Übrigen bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
5) Das Urteil ist für die Beklagte zu 2) gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 11.500,-- DM vorläufig vollstreckbar. Die Sicherheitsleistung kann auch durch Bürgschaft einer in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen großen Bank oder Sparkasse erbracht werden.
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T a t b e s t a n d :
2Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin von den Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie die Feststellung der Verpflichtung zur Leistung materiellen Schadensersatzes wegen angeblicher Behandlungsfehler im Zusammenhang mit ihrer Geburt am 18.9.1985.
3Die Mutter der Klägerin begab sich am 17.9.1985 gegen 18.00 Uhr nach erfolgtem Blasensprung in die geburtshilfliche Abteilung des Elisabeth-Hospitals in Meerbusch Lank. Die Beklagte zu 2) führte eine CTG-Überwachung durch, die keine Besonderheiten zeigte. Die nächste Kontrolle erfolgte erst gegen 3.30 Uhr.
4Auch diese ergab normale Herztöne sowie des weiteren: Muttermund 7-8 cm, Kopf fest im Beckeneingang". Zwischen 5.25 Uhr und 5.35 Uhr traf der Beklagte zu 1) im Kreißsaal ein; gegen 5.45 Uhr erfolgte die Spontangeburt der Klägerin. Sie war schwer asphyktisch, die Apgarwerte für 1,5 und 10 Minuten nach der Geburt ergaben 1-2-4-Der Beklagte zu 1) begann umgehend mit der Reanimation der zunächst klinisch toten Klägerin. Zwischen 6.15 Uhr und 6.30 Uhr wurde sie von dem hinzugerufenen neonatologischen Transportteam übernommen, umintubiert und in die Kinderklinik nach Krefeld verlegt. Dort wurde der Verdacht geäußert, die Klägerin habe bei der Geburt bzw. kurz davor oder kurz danach einen hypoxischen Hirnschaden erlitten, der später bei verschiedenen kinderärztlichen Spezialuntersuchungen bestätigt wurde. Die Klägerin ist schwerst dauergeschädigt. Wegen der Einzelheiten dazu wird auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. G vom 10.6.1991 verwiesen.
5Die Klägerin behauptet, ihre schwere gesundheitliche Beeinträchtigung hätten die Beklagten durch Behandlungsfehler verursacht. Das entscheidende Versäumnis bei der Beklagten bestehe darin, daß keine ausreichende GTG-Überwachung erfolgt sei. Geschrieben worden sei nur das Aufnahme-GTG. Ab 3.30 Uhr seien lediglich sporadische Kontrollen erfolgt mit der Folge des vorwerfbaren Nichterkennens der für die Schäden ursächlichen Sauerstoffmangelsituation. Rechtzeitige Maßnahmen hätten die Schäden abwenden können. Die Beatmung nach der Geburt durch den Beklagten zu 1) sei nicht bei erhöhter Sauerstoffzufuhr und damit fehlerhaft erfolgt. Der Geburtsverlauf sei außerdem mangelhaft dokumentiert worden mit negativen Konsequenzen für die Weiterbehandlung.
6Die Klägerin beantragt,
71) die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie z.Hd. ihrer gesetzlichen Vertreter ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens 300.000,--DM, dessen Höhe im Übrigen in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
82) festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihr allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr anlässlich der fehlerhaften Geburtsbetreuung entstanden ist oder noch entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen.
9Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
10Sie bestreiten das Vorliegen von Behandlungsfehlern und behaupten, die Gesundheitsschäden der Klägerin seien als Schicksalhaft zu werten. Das CTG um 3.30 Uhr sei geschrieben worden. Bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin am Vortage gegen 18.00 Uhr habe die Beklagte zu 2) Feststellungen hinsichtlich des Blasensprungs getroffen und das Fruchtwasser untersucht. Im Geburtsprotokoll würden nur atypische, auf Risiken hindeutende Erscheinungen vermerkt; dazu habe keine Veranlassung bestanden. Die CTG-Überwachung sei ausreichend gewesen, auch ohne Niederschrift, soweit nicht erfolgt. Die Reanimation nach der Geburt sei unter Sauerstofferhöhung aus der Krankenhausleitung erfolgt.
11Die Beklagten erheben außerdem die Einrede der Verjährung.
12Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze Bezug genommen.
13Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschlüssen vom 15.12.1988, 13.11.1989, 12.6.1990, 29.8.1990, 22.7. 1991 und 12.3.1992. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften vom 18.12.1989, 30.9.1991 und 9.12.1991 sowie die Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. H vom 27.7. 1989, 21.8.1989, 12.2.1990 und 30.7.1990, Prof. Dr. G vom 10.6.1991 und Prof. Dr. I vom 23.12. 1992 und 9.7.1993 verwiesen.
14Entscheidungsgründe
15I .
16Die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Klage ist hinsichtlich des Feststellungsbegehrens begründet und bezüglich der beantragten Schmerzensgeldzahlung dem Grunde nach gerechtfertigt; die gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Klage ist dagegen unbegründet.
17Die Kammer hat dementsprechend hinsichtlich der Schmerzensgeldforderung gegen den Beklagten zu 1) durch Grundurteil gemäß § 304 ZPO und im übrigen durch Teilurteil gemäß § 301 ZPO entschieden.
18Die Höhe des Schmerzensgeldes kann zur Zeit noch nicht abschließend beziffert werden. Es bedarf insoweit noch einer weiteren Begutachtung durch den Sachverständigen Prof. Dr. G zur Aktualisierung der Gesundheitsschäden der Klägerin, vgl. dazu insbesondere Seite 4 der Sitzungsniederschrift vom 30.9.1991 (Anhörung des Sachvgrständigen Prof. Dr. G), vorletzter Absatz (BI. 372 d.A.).
19I I .
20Die Haftung des Erstbeklagten folgt aus positiver Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages zwischen ihm und der Mutter der Klägerin, in dessen Schutzwirkung die Klägerin einbezogen ist, vgl. 8GHZ 106, 162, sowie aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung gemäß § 823 BGB bezüglich der materiellen Ansprüche und aus §§ 823, 847 BGB in Bezug auf das Schmerzensggeld.
21Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer nämlich fest, dass dem Erstbeklagten im Zusammenhang mit der Geburt der Klägerin am 17./18. 9.1935 mehrere Behandlungsfehler unterlaufen sind, für deren -mögliche -Folgen er einzustehen hat.
22Zunächst ist dem Beklagten vorzuwerfen, dass er bei der Abendvisite am 17.9.1985, bei der er die Mutter der Klägerin ausweislich seines Schreibens an die Haftpflichtversicherung vom 2.11.1986 gesehen hat und von den Untersuchungen durch die Zweitbeklagte wusste, woraus zu schließen ist, dass er auch von dem Blasensprung und der Überschreitung des errechneten Geburtstermins um 7 Tage Kenntnis hatte, dennoch keine regelmäßigen CTG-Kontrollen angeordnet hat. Das folgt aus dem Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. J vom 21.8.1989. Die Kammer schließt sich dieser Feststellung des Sachverständigen wie auch denen in seinem anderen Gutachten an; die Sachkunde des Sachverständigen Prof. J ist dem Gericht bekannt. In seinem Gutachten vom 27.7.1989 hat der Sachverständige ausgeführt, auch im Jahre 1985 sei eine kontinuierliche CTG-Überwachung - auch ohne Einschränkung des natürlichen Geburtsverlaufs - sehr empfehlenswert gewesen; vorliegend sei die CTG-Überwachung unzureichend gewesen, und schwere hypoxische Zustände kündigten sich im CTG in der Regel rechtzeitig an. Bei besserer CTG-Kontrolle wäre ein rechtzeitiges Einschreiten somit eventuell möglich gewesen. Der vom Gericht ebenfalls beauftragte Sachverständige Prof. Dr. I hat das in seinem Gutachten vom 23. 12.1992 bestätigt und festgestellt, dass eine bessere Überwachung der Geburt in der Austreibungsperiode mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu geführt hätte, dass die intrapartale Sauerstoffmangelversorgung zu erkennen gewesen wäre.
23Der letztgenannte Gesichtspunkt leitet über zu dem zweiten dem Erstbeklagten anzulastenden Versäumnis. Seide Sachverständige gehen in ihrem Gutachten übereinstimmend davon aus, dass der Beklagte zu 1) zumindest bei seinem Eintreffen im Kreißsaal das Versäumnis hätte korrigieren und eine kontinuierliche CTG-Überwachung hätte anordnen müssen. Dabei spielt es letztlich auch keine Rolle, ob der Erstbeklagte 10-15 Minuten oder 15-20 Minuten vor der Geburt eingetroffen ist. Bei Anordnung der erforderlichen Maßnahmen und damit möglicherweise verbundenen früheren Erkennen der Notlage hätte die Geburt dann mittels Zange oder Saugglocke sofort beendet werden können und müssen, vgl. mündliche Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. J vom 9.12.1991 und Gutachten Prof. Dr. I vom 23.12.1992, insbesondere Seiten 13 und 16.
24Schließlich ist dem Erstbeklagten vorzuwerfen, dass er die Reanimation der Klägerin ohne erhöhte Sauerstoffzufuhr vorgenommen hat.
25Das ergibt sich aus der Aussage des Zeugen Dr. K, der als Arzt sachkundig ist und glaubhaft bekundet hat, zum Zeitpunkt seines Eintreffens gegen 5.15 Uhr sei ausweislieh seiner damaligen Aufzeichnungen mit normaler Luft beatmet worden. Die schlechten Werte der Klägerin hätten gezeigt, dass auch vorher nicht mit erhöhter Sauerstoffzufuhr gearbeitet worden sei; im übrigen hätte auch keine Veranlassung bestanden, eine erhöhte Sauerstoffzufuhr abzubrechen. Eine Behandlung mit erhöhter Sauerstoffzufuhr wäre aber in der damals vorliegenden Situation unbedingt indiziert gewesen. Auch insoweit folgt die Kammer den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Prof. H und Prof. Dr. I. Schließlich war auch die Domkumentation des Geburtsverlaufes und der Erstreanimation der Klägerin außerordentlich mangelhaft, vgl. Gutachten Prof. Dr. H vom 27.7.1989, S. 16.
26Nach alledem geht die Kammer vom Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers aus, den der Erstbeklagte schuldhaft begangen hat. Die dargestellten Fehler sind auch geeignet, einen Gesundheitsschaden der aufgetretenen Art herbeizuführen, und das Risiko, dessen Nichtbeachtung durch den Beklagten zu 1) den Fehler als grob erscheinen lässt, hat sich verwirklicht. Unter diesen Umständen hat nicht die normalerweise dahin beweisbelastete Klägerin, dass der Behandlungsfehler die Gesundheitsschäden verursacht hat - dieser Beweis wäre nach den Gutachten nicht als geführt anzusehen; eine schicksalhafte Schädigung ist nicht auszuschließen -, sondern der Beklagte zu 1) zu beweisen, dass die festgestellten Fehler die schwerwiegenden Folgen nicht hervorgerufen haben. Diesen Beweis hat er nicht zu führen vermocht. Es ist nicht auszuschließen, wie die Sachverständigen festgestellt haben, dass die Schädigung bei ordnungsgemäßer Behandlung nicht aufgetreten wäre, zumal der Aufnahmebefund noch völlig unauffällig war.
27Der Feststellungsantrag der Klägerin ist zulässig und begründet.
28Neben der vorstehend festgestellten grundsätzlichen Haftung des Erstbeklagten ist auch davon auszugehen, " dass die Klägerin dauergeschädigt ist mit der Folge zur Zeit noch nicht absehbarer Ansprüche. Auch insoweit wird auf die eingeholten Sachverständigengutachten, insbssondere das des Sachverständigen Prof. Dr. G vom 10.6.1991 verwiesen.
29Der Feststellungsantrag ist auch nicht deswegen unzulässig, weil die Antragstellung möglicherweise auch bereits entstandene und bezifferbare Ansprüche umfasst, nicht nur zukünftige. Ist aber eine abschließende Bezifferung nicht möglich, wie vorliegend, so darf der Feststellungsantrag auch den bereits bezifferbaren Schaden mit umfassen, ohne dass es einer Aufspaltung in Leistungs- und Feststellungsklage bedürfte.
30Die Ansprüche der Klägerin gegen den Erstbeklagten sind auch nicht verjährt.
31Frühestens am 18.9.1985 konnten die Eltern der Klägerin Kenntnis vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen haben, § 852 18GB. Am 2.7.1986 hat die vom Erstbeklagten eingeschaltete Haftpflichtversicherung den außergerichtlichen Bevollmächtigten der Klägerin die Aufnahme der Ermittlungen mitgeteilt; am 6.7.1987 hat die Versicherung eine Haftung abgelehnt. In dem genannten Zeitraum haben danach Verhandlungen stattgefunden, während derer die Verjährung gehemmt war, § 852 11 BGB. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 25.11.1988 war mithin die 3-jährige Frist noch nicht abgelaufen.
32III.
33Eine Haftung der Zweitbeklagten ist nicht gegeben.
34Allerdings ist auch ihr ein fehlerhaftes Vorgehen vorzuwerfen. Die Klägerin hat aber den gegenüber der Zweitbeklagten ihr obliegenden Beweis, dass der Behandlungsfehler die Gesundheitsschäden verursacht hat, nicht zu führen vermocht. Die Beweislastumkehr, die im Verhältnis der Klägerin zum Erstbeklagten eingegriffen hat - wie oben ausgeführt -, gilt nicht in ihrem Verhältnis zur Zweitbeklagten, da dieser kein grober Fehler anzulasten ist.
35Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. vom 15.12.1992 war die Betreuung der Mutter der Klägerin durch die Zweitbeklagte bis 3.30 Uhr am 18.9.1985 ausreichend und zweckmäßig. Danach hätte eine intensivere GTG-Überwachung durch die Beklagte zu 2) erfolgen müssen. Dafür, dass das unterblieben ist, ist die Zweitbeklagte bis zum Eintreffen des Erstbeklagten gegen 5.30 Uhr verantwortlich, zumindest mitverantwortlich, vgl. Sitzungsniederschrift vom 9.12. 1991 (Anhörung Prof. Dr. J), S. 5 vorletzter Absatz. Zu berücksichtigen ist bei der Bewertung des Fehlverhaltens dar Zweitbeklagten aber, dass, wie schon an anderer Stelle ausgeführt, der Erstbeklagte es bei der Abendvisite am 17.9.1985 unterlassen hat, Einzelheiten hinsichtlich der GTG-Überwachung anzuordnen, und dass sie möglicherweise in einer Klinik tätig war, die die GTG-Überwachung als nicht sanft oder inhuman bezeichnet hat mit der Folge eines Ausstrahlens dieser - unrichtigen - Auffassung auch auf die Hebammen. Danach erscheint das Fehlverhalten der Zweitbeklagten nicht als ein grobes.
36Da aber letztlich offen geblieben ist, ob bei ausreichender GTG-Überwachung die kritische Situation rechtzeitig hätte erkannt werden können und auch, wann genau sie aufgetreten ist, mithin eine Ursächlichkeit des Fehlers der Zweitbeklagten für die bedauernswerten Schäden nicht erwiesen ist, entfällt ihre Haftung.
37IV.
38Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 709, 108 ZPO.
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