Beschluss vom Landgericht Heidelberg - 3 T 18/17

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg vom 23.03.2017, Az. 431 XIV 23/17 B, aufgehoben. Der Antrag des Regierungspräsidiums K. vom 23.3.2017 auf Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 14.4.2017 mit sofortiger Wirksamkeit nach § 422 FamFG wird zurückgewiesen.

2. Die sofortige Entlassung des Betroffenen und Beschwerdeführers aus der Haft wird angeordnet.

3. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Land B. auferlegt. Eine etwaige Gerichtskostenfreiheit bleibt unberührt.

4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Auf den Antrag des Regierungspräsidiums K. vom 23.3.2017, auf den wegen der näheren Einzelheiten verwiesen wird, ordnete das Amtsgericht Heidelberg – nach persönlicher Anhörung des Betroffenen – mit Beschluss vom selben Tage gegen den Betroffenen die Abschiebehaft bis längstens zum 14.4.2017 an. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 23.3.2017 verwiesen.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts legte der Betroffene mit Anwaltsschriftsatz vom 11.4.2017 eine näher begründete Beschwerde ein. Wegen der Einzelheiten der Beschwerdebegründung wird auf den genannten Anwaltsschriftsatz verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerde ist nach § 58 Abs. 1 FamFG statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Ob die in der Beschwerdebegründung - insbesondere unter Hinweis auf eine von ihm behauptete psychische Erkrankung - vorgetragenen Einwendungen des Betroffenen berechtigt sind, kann dahinstehen, da bereits keiner der in § 62 AufenthG normierten Haftgründe vorliegt.
1. Der vom Regierungspräsidium und dem Amtsgericht angenommene Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG ist gegeben, wenn sich ein vollziehbar ausreisepflichtiger (vgl. Kluth, in: BeckOK Ausländerrecht, 13. Edition, Stand: 1.2.2017, § 62 AufenthG, Rn. 14) Ausländer in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen hat. Dies setzt voraus, dass bereits eine konkrete, mit der eigentlichen Abschiebung im Sinne einer Verbringung des Ausländers in ein Gebiet außerhalb des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik im Zusammenhang stehende Maßnahme ins Auge gefasst worden ist, derer sich der Ausländer entziehen könnte (vgl. LG Münster, Beschluss vom 22.2.2016, Az. 5 T 42/16, juris, Rn. 10-12). In der Regel wird das der Fall sein, wenn bereits ein konkreter Termin zur Abschiebung bestimmt worden ist.
Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm. In § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG heißt es „sich der Abschiebung entzogen hat“ und nicht „sich der Abschiebung entziehen wird“.
Die vorliegende Auslegung ergibt sich des Weiteren aus der Systematik des § 62 Abs. 3 S. 1 AufenthG. Zum einen zeigt die auf eine gegenwärtige Absicht zu einem künftigen Verhalten bezogene Formulierung „er sich der Abschiebung durch Flucht entziehen will“ (Unterstreichung durch die Kammer) in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AufenthG, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der einzelnen Haftgründe Unterschiede bei der Wahl der Zeitformen gemacht hat. Hieraus ist zu folgern, dass die vergangenheitsbezogene Formulierung „sich der Abschiebung entzogen hat“ in § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG vom Gesetzgeber bewusst gewählt worden ist. Zudem knüpft der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG durch seine systematische Stellung nach § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 AufenthG und die Formulierung „in sonstiger Weise“ an den Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 AufenthG an, welcher nach dem unzweideutigen Wortlaut voraussetzt, dass bereits ein für die Abschiebung angekündigter Termin erfolglos verstrichen ist. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG auch für Fälle gilt, in denen eine Abschiebung noch nicht konkret ins Auge gefasst worden ist, der ausreisepflichtige Ausländer sich jedoch in einer Weise verhält, die die künftige Durchführung gefährdet, hätte es nahegelegen, diesen Haftgrund hinter dem gegenwartsbezogenen Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AufenthG zu nennen und damit die Formulierung „in sonstiger Weise“ auf diesen zu beziehen.
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Schließlich begegnet die im angefochtenen Beschluss vorgenommene Auslegung des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese läuft darauf hinaus, dass reines Untätigbleiben des Betroffenen in dem der eigentlichen Abschiebung vorgelagerten Verfahren wegen der darin liegenden Verletzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG eine Freiheitsentziehung rechtfertigt. Hiermit wird in der Sache nicht die Durchführung der Abschiebung als solche gesichert, sondern die Verletzung verfahrensrechtlicher Pflichten sanktioniert. Die Durchsetzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt bei der gebotenen Abwägung des staatlichen Interesses an einer zügigen Durchführung des Asylverfahrens und des daran anschließenden Vollstreckungsverfahrens einerseits und der gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG grundrechtlich geschützten körperlichen Freiheit den mit der Abschiebehaft verbundenen massiven Eingriff in letztere nicht (vgl. Beichel-Benedetti, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 62 AufenthG, Rn. 19: alleine die Zwangsmaßnahme der Abschiebung darf durch die Abschiebungshaft gesichert werden, nicht jedoch die Mitwirkung im Abschiebungs- oder Asylverfahren; a.A. scheinbar Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 62 AufenthG, Rn. 74, allerdings unter unrichtigem Verweis auf OLG Frankfurt, Beschluss vom 4.12.1997, Az. 20 W 432/97, juris, Rn. 19, welches sich nicht zu § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 AufenthG, sondern zu dem dem heutigen § 62 Abs. 4 S. 2 AufenthG entsprechenden § 57 Abs. 3 S. 2 AuslG a.F. verhält und damit die Frage behandelt, ob eine Verhinderung der Abschiebung durch den Ausländer eine Verlängerung der Abschiebehaft rechtfertigt; die entsprechenden Erwägungen sind auf die Frage des Vorliegens eines Haftgrundes nicht übertragbar).
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Vorliegend war in dem Zeitpunkt der Nichterfüllung der Pflicht zur Vorlage des Reisepasses durch den Beklagten, nämlich bis zu der Wohnungsdurchsuchung, bei der der Reisepass beschlagnahmt wurde, keine konkrete Abschiebungsmaßnahme ins Auge gefasst worden, insbesondere noch kein Abschiebungstermin bestimmt worden. Dass zwischenzeitlich ein Abschiebungstermin bestimmt wurde, der nicht durchgeführt werden konnte, ist im vorliegenden Zusammenhang irrelevant, da dies seine Ursache nicht in der vom Regierungspräsidium und dem Amtsgericht angeführten Verweigerung der Vorlage des Reisepasses findet, sondern darin, dass der Betroffene in legitimer Weise von den ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht hat (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.1.1994, Az. 20 W 12/94, juris, Ls. 4).
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2. Auch der vom Regierungspräsidium und vom Amtsgericht angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 AufenthG besteht nicht. Hierzu müssten im Einzelfall Gründe vorliegen, die auf den in § 2 Abs. 14 AufenthG festgelegten Anhaltspunkten beruhen, und deshalb der begründete Verdacht bestehen, dass sich der Betroffene der Abschiebung durch Flucht entziehen will. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne können nach § 2 Abs. 14 AufenthG – soweit hier von Interesse – insbesondere darin bestehen, dass der Ausländer gesetzliche Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität verweigert oder unterlassen hat und aus den Umständen des Einzelfalls geschlossen werden kann, dass er einer Abschiebung aktiv entgegenwirken will. Beides ist vorliegend nicht der Fall.
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Die von dem Betroffenen unterlassene Mitwirkungshandlung, nämlich die Vorlage des Reisepasses, sollte nicht der Feststellung seiner den Ausländerbehörden bekannten und von ihm – soweit ersichtlich – zu keiner Zeit geleugneten Identität dienen, sondern seine Abschiebung ermöglichen.
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Auch kann aus den Umständen des Einzelfalls nicht geschlossen werden, dass der Betroffene einer Abschiebung aktiv entgegenwirken will. Das bloße Unterlassen gebotener Mitwirkungshandlungen reicht ebenso wie die bloße Ausreiseverweigerung nicht aus, um den Verdacht zu begründen, dass die Abschiebung nicht ohne Festnahme des Betroffenen durchgeführt werden könne. Erforderlich sind vielmehr konkrete Verdachtsmomente, dass der Ausreisepflichtige sich durch Untertauchen oder sonstige Verhaltensweisen aktiv der Abschiebung entziehen werde (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 7.2.2001, Az. 3 W 37/01, juris; Beichel-Benedetti, in: Huber, AufenthG, § 62 AufenthG, Rn. 19). Daran fehlt es vorliegend. Unabhängig davon, ob das Vorbringen des Betroffenen, er sei aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage gewesen, seine Post zu öffnen oder seine Wohnung zu verlassen, zutreffend ist, erschöpft sich sein eine Abschiebung verzögerndes Verhalten darin, auf die mehrfachen Aufforderungen des Regierungspräsidiums zur Vorlage seines Reisepasses nicht reagiert zu haben.
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In der bloßen Passivität des Betroffenen liegt der entscheidende Unterschied zu den in der Rechtsprechung entschiedenen Fällen, in denen Fluchtgefahr wegen der versuchten Verheimlichung der zur Ausreise notwendigen Papiere (BGH, NJW 1980, 891, 892) bzw. der ausdrücklichen Erklärung, die Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisepapieren werde verweigert, um die Abschiebung zu verhindern (BayObLG, Beschluss vom 26.9.1995, Az. 3Z BR 258/95, BeckRS 1995, 18365, Rn. 7 f.), angenommen wurde.
III.
16 
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 81 Abs. 1 S. 1, 430 FamFG.

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