Urteil vom Landgericht Koblenz (10. Zivilkammer) - 10 O 244/04
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 100.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.05.2004, abzüglich am 06.07.2005 gezahlter 40.000,00 Euro, zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden zu ersetzen, die diesem infolge der augenärztlichen Behandlung durch den Beklagten in der Zeit ab dem 13.06.2002 entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 30 % und der Beklagte 70 % zu tragen.
5. Das Urteil ist jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Mit der Klage begehrt der Kläger von dem Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, einer Schmerzensgeldrente sowie die Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten für alle materiellen und künftigen immateriellen Schäden des Klägers aus den Folgen einer augenärztlichen Behandlung.
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Der am 28.06.1949 geborene Kläger begab sich am 13.06.2002 wegen Sehstörungen in die augenärztliche Behandlung des Beklagten, welcher in Neuwied eine Augenarztpraxis betreibt. Der Beklagte untersuchte den Kläger, dokumentierte, dass der Kläger an Diabetes leidet und verordnete ihm eine Brille. Die Beschwerden des Klägers verstärkten sich in der Folgezeit, so dass er den Beklagten am 19.07.2002 und 03.09.2002 erneut aufsuchte. Am 03.09.2002 überwies der Beklagte den Kläger zum Ausschluss einer diabetischen Neuropathie an einen Neurologen. Am 19.09.2002 erfolgte eine Eilüberweisung an die Augenklinik des Universitätsklinikums Bonn wegen Verdachts auf diabetische Retinopathie. Die verantwortlichen Ärzte in der Augenklinik am Universitätsklinikum Bonn diagnostizierten am 20.09.2002 und 24.09.2002 das Vorliegen einer proliferativen diabetischen Retinopathie und führten in der Folgezeit Laserflächenkoagulationen und eine Retinokryokoagulation durch. Diese Therapie wurde durch die Universität Frankfurt fortgesetzt. Trotz der Behandlung des Klägers besteht eine ausgeprägte visuelle Beeinträchtigung des Klägers mit beidseits deutlicher Sehschärfenminderung - Fingerzählen am rechten Auge, Handbewegungen am linken Auge - und ausgeprägter Gesichtsfeldeinschränkung. Der Kläger ist infolge seiner Sehbehinderung auf beiden Augen zu 100 % schwer behindert.
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Mit Datum vom 17.09.2003 beantragte der Kläger vor dem Landgericht Koblenz die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens. In dem Verfahren 10 OH 10/03 wurde gemäß Beschluss des Landgerichts vom 17.10.2003 ein Sachverständigengutachten der Dres. ... und ... von der Universitätsaugenklinik Mainz vom 15.03.2004 eingeholt. In dem Gutachten kamen die Ärzte zu dem Ergebnis, dass bei der Erstvorstellung des Klägers bei dem Beklagten sehr wahrscheinlich bereits eine diabetische Retinopathie vorgelegen habe. Aufgrund der dokumentierten Patientenangaben hätte eine zeitnahe Untersuchung des Augenhintergrundes bei erweiterter Pupille unbedingt erfolgen müssen. Eine Schadensregulierung durch die Haftpflichtversicherung des Beklagten erfolgte jedoch nicht, so dass der Kläger sein Begehren auf dem Klagewege verfolgt.
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Nach Vorlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens erkannte der Beklagte gemäß Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 27.06.2005 die von dem Kläger angemeldeten immateriellen und materiellen Schadensersatzansprüche dem Grunde nach an. Darüber hinaus überwies die Haftpflichtversicherung des Beklagten am 06.07.2005 einen Abschlag in Höhe von 40.000,00 Euro.
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Der Kläger trägt vor:
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Im Hinblick auf die schwerwiegenden Beeinträchtigungen durch die eingetretene Sehbehinderung sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 150.000,00 Euro sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500,00 Euro angemessen. Schmerzensgelderhöhend sei auch das zögerliche Regulierungsverhalten des Beklagten zu werten.
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Der Kläger beantragt,
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1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn für die durch die augenärztliche Behandlung durch den Beklagten in der Zeit ab dem 13.06.2002 erlittenen immateriellen Schäden ein angemessenes Schmerzensgeld und eine Schmerzensgeldrente zu zahlen, dessen/deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, im Falle der Säumnis nicht weniger als 150.000,00 Euro Schmerzensgeldkapital und 500,00 Euro monatliche Schmerzensgeldrente, zu verzinsen mit 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 20.05.2004 bzw. jeweiliger Fälligkeit, abzüglich am 06.07.2005 gezahlter 40.000,00 Euro, zu zahlen,
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2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm alle materiellen und weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm - Kläger - infolge der augenärztlichen Behandlung durch den Beklagten in der Zeit ab dem 13.06.2002 entstanden sind und in Zukunft noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Das Gericht hat die Akte des selbständigen Beweisverfahrens vor dem Landgericht Koblenz, Az: 10 OH 10/03, beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
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Die Kammer hat gemäß Beweisbeschluss vom 10.02.2005 Beweis erhoben durch Einholung eines ergänzenden schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das von dem Sachverständigen Prof. Dr. med. ... in dem selbständigen Beweisverfahren erstattete Gutachten vom 15.03.2004 (Bl. 60 - 92 d. A. LG Koblenz, 10 OH 10/03) sowie das im vorliegenden Verfahren erstattete augenärztliche Ergänzungsgutachten des Dr. med. ... vom 02.04.2005 (Bl. 129 - 145 d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
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Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
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1. Der Kläger hat gegen den Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a. F. einen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,00 Euro, so dass nach erfolgter Zahlung der Haftpflichtversicherung in Höhe von 40.000,00 EUR noch ein Zahlungsanspruch des Klägers in Höhe von 60.000,00 EUR besteht.
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Infolge eines Behandlungsfehlers, den der Beklagte rechtswidrig und schuldhaft begangen hat, ist bei dem Kläger ein Gesundheitsschaden, die fast vollständige Erblindung auf beiden Augen, eingetreten. Nach den Sachverständigenausführungen hat es der Beklagte behandlungsfehlerhaft unterlassen, angesichts des ihm mitgeteilten Diabetes des Klägers eine medikamentöse Pupillenerweiterung und weitere erforderliche Kontrolluntersuchungen vorzunehmen. Die Entwicklung der diabetischen Retinopathie hätte bei fachgerechter Behandlung zumindest vermindert werden können.
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Der Beklagte hat die Haftung mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 27.06.2005 dem Grunde nach anerkannt. Der Beklagte ist dem Kläger daher zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verpflichtet. Schätzungsgrundlage für die Bemessung des Schmerzensgeldes nach § 287 ZPO sind Umfang und Schwere der immateriellen Schäden, Verschuldensgrad und Mitverschulden sowie die Vermögensverhältnisse der Beteiligten, vor allem auch das Bestehen einer Haftpflichtversicherung.
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Vorliegend hat der Kläger die Sehkraft auf beiden Augen im Alter von 53 Jahren fast vollständig verloren. Aufgrund der verspäteten Diagnosestellung der diabetischen Retinopathie waren die Chancen auf einen bestmöglichen Sehschärfenerhalt wesentlich gemindert. Der heute 56-jährige Kläger ist aufgrund der beidseitigen Erblindung dauerhaft eingeschränkt. Der Sachverständige führte insoweit aus, dass die sich Sehschärfe des Klägers am rechten Auge auf Fingerzählen und am linken Auge auf Handbewegungen beschränke. Dies hat für den Kläger sowohl im beruflichen, als auch im privaten Bereich erhebliche Auswirkungen. Der Kläger ist aufgrund seiner Sehbehinderung schwer behindert und kann keinen Beruf mehr ausüben. Dies führt insbesondere auch zu psychischen Belastungen. Im Vordergrund steht hierbei auch die Abhängigkeit, die ein Mensch empfindet, wenn er nahezu keinen Wunsch, und sei er auch noch so bescheiden, ohne fremde Hilfe verwirklichen kann. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass dem Kläger vielfältige Möglichkeiten seiner Freizeitgestaltung, welcher für das geistige, körperliche und vor allem das seelische Wohlbefinden eines Menschen eine hohe Bedeutung zukommt, verloren gegangen sind.
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Unter Berücksichtigung aller Umstände und vergleichbarer Entscheidungen (vgl. u. a. Slizyk, Beck'sche Schmerzensgeldtabelle, 3. Aufl. lfd. Nr. 1010), erachtet die Kammer ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 100.000,00 Euro für angemessen. Der Kapitalbetrag des Schmerzensgeldes bedurfte vorliegend unter dem Aspekt der Genugtuungsfunktion einer Erhöhung. Hier ist neben der Schwere der ärztlichen Fehlleistung (grober Behandlungsfehler), insbesondere das völlig uneinsichtige Verhalten des Beklagten kompensationsbedürftig, welches den Kläger angesichts der besonders schwerwiegenden Behandlungsfolgen ganz erheblich belastet. Schmerzensgelderhöhend war insoweit das vorgerichtliche und prozessuale Verhalten des Beklagten gegenüber dem Kläger zu berücksichtigen. Nach den Feststellungen der Kammer ist es unverständlich, dass der Beklagte bzw. der hinter diesem stehende Haftpflichtversicherer auch nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens in dem selbständigen Beweisverfahren im März 2004 weiterhin die Einstandspflicht ablehnte und so das für den Kläger belastende Klageverfahren erforderlich machte. Insbesondere der mit der Schadensregulierung befasste Haftpflichtversicherer hatte aber nicht nur Gelegenheit, sondern auch Veranlassung, den eigenen ablehnenden Standpunkt einer Überprüfung zu unterziehen. Stattdessen hat der Beklagte bzw. sein Haftpflichtversicherer stetig die Regulierung des Schadens abgelehnt und selbst dann noch darauf beharrt, als bereits deutlich gegen die Richtigkeit der Behauptung sprechende Kenntnisse auf der Grundlage sachverständiger Begutachtung vorlagen. Der Beklagte hat damit die gebotene zeitnahe Entschädigung zumindest teilweise unangemessen hinausgezögert. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass schließlich nach Eingang des Sachverständigengutachtens in dem vorliegenden Verfahren im Juli 2005 eine Abschlagszahlung in Höhe von 40.000,00 Euro erfolgte.
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2. Neben dem zugesprochenen Kapitalbetrag des Schmerzensgeldes hat die Kammer davon abgesehen, eine Schmerzensgeldrente zuzuerkennen. Regelmäßig wird das Schmerzensgeld als Kapital geschuldet. Bei schweren Dauerschäden kann dem Verletzten unter Umständen neben dem Einmalbetrag eine Rente zustehen. Dabei müssen Kapital und Rentenbetrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen und der Gesamtbetrag muss eine billige Entschädigung für den insgesamt erlittenen immateriellen Schaden darstellen. Vorliegend wurde der Kapitalbetrag unter Berücksichtigung des schweren Dauerschadens erhöht, so dass es der Zuerkennung einer zusätzlichen Schmerzensgeldrente nicht bedurfte.
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3. Das Feststellungsbegehren des Klägers ist gemäß § 256 ZPO zulässig und begründet. Das besondere Feststellungsinteresse des Klägers folgt aus der tatsächlichen Unsicherheit, in welcher Höhe ihm zukünftig materielle Einbußen durch die vorzeitige Erblindung entstehen werden. Zudem sind aufgrund der dauerhaften Schädigung und gegebenenfalls erforderlichen Folgebehandlungen weitere immaterielle Schäden zu erwarten.
II.
- 23
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 1 BGB.
III.
- 24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.
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Streitwert: 260.000,00 Euro.
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Im Einzelnen:
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Klageantrag zu 1: 180.000,00 Euro, Klageantrag zu 2: 80.000,00 Euro.
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Referenzen
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