Urteil vom Landgericht Köln - 10 O 30/21
Tenor
1. Die Beklagte zu 2. wird verurteilt, an den Kläger 50.525,36 € nebst Zinsen hieraus in Hohe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.03.2022 zu bezahlen Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des Fahrzeuges des Modells N des Herstellers D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Kläger zu ¾ und die Beklagte zu 2. zu ¼. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. trägt der Kläger. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2. tragen der Kläger und die Beklagte zu 2. jeweils zu ½.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % der zu vollstreckenden Forderung vorläufig vollsteckbar.
1
Tatbestand:
2Der Kläger begehrt von den Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem sog. „Diesel-Skandal“.
3Der Kläger kaufte am 11.07.2018 ein Wohnmobil der Marke D N für 59.000 € als Neufahrzeug. Basisfahrzeug ist ein G. Der Motor inklusive der Motorsteuerung und der Abgasreinigung wurde von der Beklagten zu 2. gefertigt und verbaut.
4Der Kläger hat nachträglich eine Aufbaubatterie im Wert von 420,- € einbauen lassen.
5Die Beklagte zu 1. ist aus einer Fusion der G und des Q Konzerns entstanden. Sie ist eine Holdinggesellschaft, die keine Fahrzeuge produziert, und 100 %iges Mutterunternehmen der Beklagten zu 2.
6Das streitgegenständliche Fahrzeug weist einen aktuellen Kilometerstand von 45 227 km auf.
7Der Kläger behauptet, im streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine Abschalteinrichtung verbaut, die insbesondere dergestalt funktioniere, dass die Abgasreinigung nach 22 Minuten abgeschaltet werden, wobei der Testzyklus 21 Minute dauere (Bl. 23 ff., 250 ff., 470 ff. d.A.).
8Er meint, die Beklagte zu 1. sei die Hauptverantwortliche und müsse jedenfalls als Herstellerin gelten (im Einzelnen: Bl. 119 ff., 194 ff, d.A.).
9Der Kläger hat zunächst beantragt, festzustellen, dass die Beklagte [zu 1.] verpflichtet ist, dem Kläger Schadensersatz zu leisten für Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs des Modells N des Herstellers D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000 durch die Beklagte zu 1. resulieren.
10Mit Schriftsatz vom 15.10.2021, den Beklagten zugestellt am 21.10.2021, hat er die Klage gegen die Beklagte zu 2. erweitert und – neben dem nunmehr gestellten Hauptantrag – hilfsweise für den Fall, dass die Feststellungsanträge unzulässig sein sollte, beantragt:
112. Die Beklagtenparteien werden verurteilt, der Klägerpartei einen Betrag
12bezüglich des Fahrzeugs des Modells N des Herstellers D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens € 14.750,00 betragen muss, zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
133. Es wird festgestellt, dass die Beklagtenparteien verpflichtet sind, der Klägerpartei weiteren Schadensersatz, der über diesen Betrag hinausgeht, zu
14bezahlen für Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs des Modells N des Herstellers D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000 durch die Beklagtenparteien resultieren.
154. Die Beklagtenparteien werden verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von jeweils € 3.291,54 freizustellen.
16Er beantragt seit der mündlichen Verhandlung vom 04.03.2022 nunmehr:
17Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerpartei
18Schadensersatz zu bezahlen für Schäden, die daraus resultieren, dass die
19Beklagten in dem Fahrzeug des Modells N des Herstellers
20D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000
21a) unzulässige Abschalteinrichtungen wie z.B.
22- in Gestalt einer Funktion, welche durch Bestimmung der Außentemperatur
23die Parameter der Abgasrückführung so verändert, dass die Abgasrückführung nur innerhalb eines Temperaturrahmens zwischen 20°C und 30°C und nur auf dem Prüfstand optimal funktioniert, während unterhalb 20°C bis 5°C sowie außerhalb der NEFZ-Prüfsituation eine stufenweise Abrampung der Abgasrückführungsrate bis hin zur kompletten Reduktion auf Null erfolgt (sog. Thermofenster),
24- in Gestalt einer Abschaltlogik, welche die Abgasrückführungsrate nach 22
25Minuten nach dem Motorstart und dem Beginn des NEFZ-Modus auf Null
26reduziert,
27- in Gestalt einer Hysterese, welche alle 10 Sekunden nach dem Auftreten einer oder mehrerer der nachfolgenden Störgrößen sucht, sodass gegebenenfalls nach 15 Sekunden oder nach einer Häufigkeit von 5 Mal oder mehr die Abgasreinigung eingestellt wird, wobei es sich bei diesen Störgrößen um
28- einen Lenkwinkel größer als 30°,
29- eine Geschwindigkeit an der Hinterachse größer als 3,9 km/h,
30- eine Gaspedal-Stellung größer als 80,00049% handelt
31oder
32- in Gestalt eines weiteren Timers, welcher nach 4 Minuten nach Auftreten
33einer oder mehrerer der nachfolgenden Störgrößen die Abgasreinigung einstellt, wobei es sich bei diesen Störgrößen um
34- ein Drehmoment über 34 kW (höher als 300/340 Nm),
35- eine Geschwindigkeit, welche die für den NEFZ-Zyklus typische Geschwindigkeit überschreitet und auf ein Verlassen der Prüfsituation hindeutet,
36- einen Bremsvorgang, welcher öfter als 20 Mal erfolgt, handelt,
37- in Gestalt noch zusätzlicher Timer-Strategien, welche durch das Einbringen von Zeitpuffer sicherstellen sollen, dass die Abgasreinigung nicht vorschnell trotz andauernder Prüfsituation abgeschaltet wird,
38- in Gestalt eines AGR-Kennfeldes, welches sicherstellen soll, dass die Abgasreinigung im Straßenverkehr auch innerhalb des o.g. Thermofensters
39ausgeschaltet wird,
40verbaut haben, mit ihrer Billigung oder auf ihre Anweisung hin verbaut wurden und hierdurch die Emissionswerte auf dem Rollenprüfstand, welcher
41stets 1180 Sekunden dauert, innerhalb eines Temperaturrahmens zwischen 20°C und 30°C stattfindet, mit einer vorgeschriebenen Standzeit von 25% und einer Antriebsleistung von maximal 34 kW bzw. einer Geschwindigkeit bis maximal 120 km/h erfolgt, reduziert werden.
42b) ein On-Board-Diagnosesystem einsetzen, welches dahingehend
43programmiert war, die Erhöhung der Emissionswerte infolge der Abschaltung der Abgasrückführungsrate entgegen der bestehenden gesetzlichen Überwachungspflicht in Bezug auf die abgasbeeinflussenden Systeme nicht anzuzeigen.
44und hilfsweise für den Fall, dass der Feststellungsantrag unzulässig sein sollte:
452. Die Beklagten werden verurteilt, an die Klagepartei € 59.420,00 nebst Zinsen hieraus in Hohe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, abzüglich einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Nutzungsentschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs
46des Modells N des Herstellers D mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) 00000 Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Rückübereignung des vorgenannten Fahrzeuges.
473. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klagepartei darüber hinaus Schadensersatz zu leisten für weitere Schaden, die der Klagepartei dadurch entstanden sind oder entstehen werden, dass in das in Klageantrag Ziff. 1 genannte Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut wurde.
484. Es wird feststellt, dass die Beklagten sich mit der Annahme des in Klageantrag Ziffer 1 genannten Fahrzeugs im Verzug befinden.
495. Die Beklagten werden verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Hohe von € 3.291,54 freizustellen.
50Die Beklagten beantragen,
51die Klage abzuweisen.
52Sie behaupten, es gebe keine Abschaltung der Abgasrückführung (Bl. 411 d.A.).
53Sie meinen, den vermeintlichen Ansprüchen stünde die EG-Typgenehmigung des Fahrzeugs entgegen (im Einzelnen: Bl. 299 ff. d.A.).
54Sie berufen sich auf die Einrede der Verjährung, da der Kläger – so behaupten sie – im Erwerbszeitpunkt bereits gewusst habe, dass das streitgegenständliche Fahrzeug vom sog. Dieselskandal betroffen sein könnte.
55Entscheidungsgründe:
56Die Klage ist teilweise zulässig und begründet.
57I. Die Klage gegen die Beklagte zu 1. ist jedenfalls vollumfänglich unbegründet, da es an deren Passivlegitimation fehlt.
58Das Landgericht Frankfurt a.M. hat im Urteil vom 11.01.2022 (Az. 2-18 O 68/21 = BeckRS 2022, 14950 Rn. 28-31, beck-online) in einem ähnlich gelagerten Fall ausgeführt:
59„Es fehlt insoweit bereits an der Passivlegitimation.
60Dies folgt zunächst daraus, dass die Beklagte zu 2) weder das streitgegenständliche Fahrzeug noch den Motor konstruiert, hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht hat. Die Beklagte zu 2) ist insbesondere nicht als „Herstellerin“ oder im weitesten Sinne als produzierende Gesellschaft des streitgegenständlichen (Basis-)Fahrzeuges bzw. des Motors, der nach den klägerischen Behauptungen mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen sein soll, anzusehen (vgl. LG Freiburg, Urteil vom 27.08.2021 - 4 O 5/21). Vielmehr weist die EG-Übereinstimmungsbescheinigung die Beklagte zu 3) als Herstellerin des Basisfahrzeuges aus und ist damit Herstellerin im Sinne des Art. 3 Abs. 27 der Richtlinie 2007/46/EG.
61Der Umstand, dass sich die Beklagte zu 2) öffentlichkeitswirksam als Mutter- bzw. Dachgesellschaft verschiedener Automarken und in ihrer Eigendarstellung als Automobilhersteller ausgibt, rechtfertigt keine andere Beurteilung. „Hersteller“ sind nur die einzelnen in der EG-Übereinstimmungsbescheinigung aufgeführten Gesellschaften, nicht aber die hiervon zu unterscheidende Konzernmutter bzw. Holdinggesellschaft. Eine generelle Einstandspflicht von Konzernunternehmen für die Verbindlichkeiten anderer Konzernunternehmen (Konzernhaftung), ist dem deutschen Recht für den Regelfall fremd. Vielmehr haften nach dem so genannten Trennungsprinzip selbst im Vertragskonzern für die Verbindlichkeiten der einzelnen Konzernglieder grundsätzlich nur diese, nicht dagegen die anderen Konzernunternehmen einschließlich der Muttergesellschaft. Ein verallgemeinerungsfähiges Prinzip, wonach der Konzern generell als Rechtseinheit behandelt werden soll, besteht nicht (OLG Oldenburg, Urteil vom 16.10.2020 - 11 U 2/20, BeckRS 2020, 26911 - Rn. 59).
62Allein die Stellung als Organmitglied bei der Konzernmutter genügt auch nicht, um eine Involvierung in Entscheidungen der Konzerntöchter oder gar Kenntnis und Billigung von Handlungen innerhalb von Tochtergesellschaften anzunehmen bzw. zu vermuten. So ist insbesondere die Behauptung, die Beklagte zu 2) habe aufgrund ihrer Konzernleitungsmacht, welche sich in der 100 %igen Beteiligung an der Beklagten zu 3) manifestiere, die Anweisungen über die Entwicklung und den Einsatz von Manipulationssoftware erteilt und die Kontrolle über die Vorgänge behalten. Hinreichend konkreter Vortrag zur Beteiligung der Beklagten zu 2) an einer Entscheidung zum Einsatz einer unzulässigen Abschalteinrichtung, der nicht fernab konkreter Anhaltspunkte ins Blaue hineingehalten wurde, fehlt (ausführlich: OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 30.08.2021, Az.: 2 U 109/21). Es ist insbesondere unzureichend, auf eine vermeintlich bestehende Logik abzustellen, wonach es nur die Muttergesellschaft sein könne, die über den Einsatz von Manipulationssoftware entscheide. Denn selbst wenn man der Eigendarstellung der Beklagten zu 2) entnehmen wollte, dass diese tatsächlich auch einzelne operative und strategische Entscheidungen treffe, besagt dies doch in der Tat noch überhaupt nichts zu den konkreten Entscheidungswegen in einem weltweit tätigen Automobilkonzern, der in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen mit verschiedenen Marken in rechtlich eigenständigen Gesellschaften zugleich unterschiedliche (Abgas-)Normen zu beachten hat. Selbst bei Annahme einer gewissen personellen Kongruenz ist daher bereits nicht hinreichend dargetan oder ersichtlich, dass es sich bei der Beklagten zu 2) um einen operativ in das Geschäft der Konzerntöchter eingreifenden „Hersteller“ und nicht nur - wie von Beklagtenseite vorgetragen - um eine reine Holdinggesellschaft handelt.“
63Dem schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung auch für den hier zu entscheidenden Fall an.
64II. Der als Hauptantrag gestellt Feststellungsantrag – ebenso wie der hilfsweise gestellte Antrag zu 3. – ist unzulässig.
65Zum einen ist kein Feststellungsinteresse ersichtlich. Es ist nicht ersichtlich, welcher Schaden dem Kläger droht, den er nicht bereits jetzt geltend machen kann.
66Im Übrigen bestehen auch Bedenken an der Bestimmtheit des Klageantrags, da unklar ist, in welchem Verhältnis (und/oder) die einzelnen geltend gemachten Abschalteinrichtungen zueinander stehen sollen.
67III. Der Hilfsantrag zu 2. ist gegen die Beklagte zu 2. teilweise begründet.
681. Die Beklagte zu 2. hat dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich einen Schaden zugefügt.
69Der eingebaute Timer der Abgasreinigung stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung dar.
70In Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 wird „Abschalteinrichtung“ definiert als „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“.
71Die Beklagte zu 2. hat – insbesondere bei Berücksichtigung der Ausführungen des EuGH im Urteil v. 14.7.2022 (Az. C-128/20, Tz. 24 ff. = BeckRS 2022, 16622 Rn. 24, beck-online) – eine Einrichtung in das Fahrzeug eingebaut, die die Abgasreinigung für den Prüfzyklus verändert. Die Beklagte zu 2. ist dem substantiierten Vortrag des Klägers, dass die Abgasreinigung nach 22 Minuten abgeschaltet wird, nicht hinreichend entgegengetreten. Im normalen Fahrzeugbetrieb ist sodann üblicherweise nicht zu erwarten, dass das Fahrzeug immer weniger als 22 Minuten läuft, sodass die Abgasreinigung im Prüfzyklus – dauerhafte Abgasreinigung – zu der im normalen Fahrbetrieb – Abgasreinigung nur in den ersten 22 Fahrzeugbetriebsminuten – verändert wurde.
72Diesbezüglich liegt auch eine sittenwidrige Schädigung vor.
73Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 13. Juli 2021 - VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 11; vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 12. März 2020 -VII ZR 236/19, VersR 2020, 1120 Rn. 24; jeweils m.w.N.). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urteile vom 13. Juli 2021 - VI ZR 128/20, WM 2021, 1609 Rn. 11; vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn.29; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Beschlüsse vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20, VersR 2021, 661 Rn. 12 und vom 19.Januar 2021- VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 14; Urteile vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020,1715 Rn. 29 und vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15).
74Ein Automobilhersteller handelt gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (vgl. BGH, Urteile vom 25. November 2021 - VI ZR 257/20, juris Rn. 20; vom 16. September 2021 - VII ZR 192/20, juris Rn. 21; vom 8. März 2021 - VI ZR 505/19, juris Rn. 19 und vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, juris Rn. 16 ff.).
75Bereits die objektive Sittenwidrigkeit des Herstellens und des Inverkehrbringens von Kraftfahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Verhältnis zum Fahrzeugerwerber setzt deshalb voraus, dass dies in Kenntnis der Abschalteinrichtung und im Bewusstsein ihrer - billigend in Kauf genommenen - Unrechtmäßigkeit geschieht (vgl. BGH, Urteile vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20, juris Rn. 21 und vom 16. September 2021 - VII ZR 192/20, juris Rn. 22; Beschlüsse vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20, juris Rn. 28 und vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19, juris Rn. 19).
76Bei einer Abschalteinrichtung, die im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise arbeitet wie im realen Fahrbetrieb und bei der die Frage der Zulässigkeit nicht eindeutig und unzweifelhaft beantwortet werden kann, kann bei Fehlen sonstiger Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die für den Motorhersteller handelnden Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen, so dass es bereits an der objektiven Sittenwidrigkeit fehlt (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20, juris Rn. 28; Urteil vom 16. September 2021 - VII ZR 190/20, juris Rn. 16).
77(zum Ganzen: OLG Koblenz, Beschluss vom 16.06.2022 – 16 U 131/22 = BeckRS 2022, 14792 Rn. 16-19, beck-online)
78Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist von einer sittenwidrigen Schädigung auszugehen. Zwar mag in den Fällen des sog. Thermofensters davon auszugehen sein, dass die KFZ-Hersteller nicht von der Unzulässigkeit wussten, womit der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit entfiele. Vorliegend ist die Sachlage aber anders: Es liegt auf der Hand, dass eine Aktivierung der Abgasreinigung nur für die Dauer des Prüfzyklus nicht zulässig ist, weshalb davon auszugehen ist, dass auch die zuständigen Mitarbeiter der Beklagten zu 2. dies zumindest billigend in Kauf genommen haben.
79Dem steht auch nicht die Typengenehmigung der italienischen Zulassungsbehörde entgegen. Denn es entfällt die Tatbestandswirkung einer Typengenehmigung jedenfalls dann, wenn diese arglistig oder jedenfalls mit falschen oder unrichtigen Angaben erwirkt worden ist (vgl. LG Dortmund Urt. v. 3.5.2022 – 3 O 542/20, BeckRS 2022, 16389 Rn. 29, beck-online). Die Beklagte hat vorliegend schon nicht vorgetragen, dass sie die italienische Zulassungsbehörde von der Funktionsweise der Timerfunktion unterrichtet habe und diese auch deshalb die Typengenehmigung erteilt habe.
802. Die Beklagte zu 2. hat dem Kläger nach § 826 i.V.m. den §§ 249 f. BGB den entstandenen Schaden zu ersetzen.
81Der hier relevante Schaden besteht im Kaufvertragsabschluss (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 44 ff. d.A.).
82Die – im Wege des Vorteilsausgleichs anzurechnenden (vgl. Az. VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962, Rn. 64 ff.) – Gebrauchsvorteile des Klägers sind mit 8.894,64 € anzusetzen und in Abzug zu bringen. Dabei hat das Gericht den unstreitigen aktuellen Kilometerstand von 45 227 km abzüglich der bei Kauf bereits vorhandenen Laufleistung von 0 km, also vom Kläger selbst zurückgelegter 45 227 km zugrunde gelegt.
83Das Gericht hat die zu erwartende Gesamtlaufleistung gemäß § 287 ZPO auf 300.000 km geschätzt, sodass die bei Kauf noch verbleibende Restlaufzeit unter Abzug der zurückgelegten Laufleistung von 0 km noch 300 000 km betrug. Denn nach Einschätzung des Gerichts kann eine Gesamtlaufleistung von 300.000 km bei einem als langlebig geltenden Dieselfahrzeug in einem Wohnmobil typischerweise erwartet werden.
84Der Anspruch auf Nutzungsentschädigung bei gebrauchten Kraftfahrzeugen berechnet sich nach zutreffender Rechtsauffassung noch folgender Methode (vgl. Reinking/Eggert, Der Autokauf, 10. Aufl., Rz. 1753 ff.):
85Gebrauchsvorteil = |
Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer |
Voraussichtl. Restlaufleistung |
In dieser Berechnung kommt zum Ausdruck, dass die Parteien mit dem von ihnen vereinbarten Kaufpreis in der Regel den noch verbleibenden Nutzungswert des Gebrauchtwagens abbilden, welcher sich in der Restlaufzeit des Fahrzeuges bei guter, durchschnittlicher Behandlung ausdrückt. Die in der gleichmäßigen Aufteilung auf die gefahrenen Kilometer sich ergebende lineare Wertschwundberechnung entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Reinking/Eggert, a.a.O., Rz. 643 ff.). Soweit in der Praxis generalisierende Faustformel verwendet werden, wonach die Nutzungsentschädigung für Pkw gemäß § 287 ZPO nach der Gesamtlaufleistung für je 1000 km auf 0,3 % bis 1 % des Anschaffungspreises zu schätzen ist (vgl. Palandt-Grüneberg § 346 RZ. 10 mwN), liegt dem eine fixe Gesamtfahrleistung – je nach anzusetzendem Prozentsatz zwischen 100.000 km und 333.333 km zugrunde. Der höchste Wert entspricht annähernd der vom Gericht zugrunde gelegten Gesamtlaufleistung.
87Vorliegend ist als Kaufpreis 59.000,- € zugrunde zu legen.
88Nach der allgemein anerkannten Formel der linearen Wertschwundberechnung (Gebrauchsvorteil = Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer : voraussichtliche Gesamtlaufleistung) - ergibt sich im konkreten Fall ein Betrag von 8.894,64 € (59.000,- € x 45 227 km : 300 000 km).
89Nach Abzug einer Nutzungsvergütung von 8.894,64 € vom Schadensbetrag von 59.420,- € (Kaufpreis zzgl. Aufwendungen) verbleibt ein tatsächlich zurück zu zahlender Betrag von 50.525,36 €.
903. Die Forderung ist auch durchsetzbar und nicht verjährt.
91Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bereits beim Kaufvertragsschluss Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen hatte.
924. Zinsen stehen dem Kläger gemäß §§ 286, 288 Abs. 1 BGB in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach Rechtshängigkeit des Zahlungsantrags zu, dem 04.03.2022.
93IV. Der Antrag zu 4. ist unbegründet.
94Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass er der Beklagten zu 2. das streitgegenständliche KFZ annahmeverzugsbegründend angeboten hat, insbesondere unter Anrechnung der korrekten Nutzungsentschädigung (vgl. BGH, Urteil vom 25.5.2020 – VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962 Rn. 85, beck-online).
95V. Der Antrag zu 5. ist unbegründet.
96Der Kläger hat schon kein anwaltliches Tätigwerden vorgetragen.
97VI. Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 92 Abs. 1, 100 ZPO die Vollstreckbarkeitsentscheidung aus § 709 ZPO.
98Der Streitwert wird auf 59.420,00 EUR festgesetzt.
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