Urteil vom Landgericht Münster - 02 O 160/12
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund
des Urteils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin nimmt die Beklagten aus § 832 BGB wegen Aufsichtspflichtverletzung auf Schadensersatz für ihr Kassenmitglied, die Zeugin C., in Anspruch.
3Die Beklagten sind die Eltern des am 09.04.2003 geborenen Schülers D..
4Die Beklagten betreiben auf der C1straße in H. ein Fleischereifachgeschäft. Dort befindet sich auch ihr Privathaus. Links neben dem Fleischereifachgeschäft befindet sich eine Hofeinfahrt, wo sich Garagen befinden. Hieran grenzt der Gartenbereich des Hauses der Beklagten an. Der Sohn der Beklagten D. besaß seit circa drei Jahren ein Kinderfahrrad. Mit diesem Kinderfahrrad fuhr D. in unregelmäßigen Abständen aus der Hoffläche links herum auf den Bürgersteig vor dem Geschäft der Beklagten bis zur anliegenden Wohnung seiner Großmutter. Von dort fuhr er wieder über den Bürgersteig auf die Hoffläche zurück. Diese Vorgänge sind vom Fleischereifachgeschäft aus erkennbar.
5Am 09.05.2009 gegen 12.55 Uhr befuhr die Zeugin C. mit ihrem Fahrrad gemeinsam mit ihrem Ehemann den rechtsseitig entlang der C1straße. verlaufenden Radweg aus Richtung Innenstadt kommend in Fahrtrichtung T.ring, wobei streitig ist, ob die Zeugin nicht auf dem Bürgersteig fuhr.
6Unmittelbar vor Heranfahren der Zeugin fuhr D. aus der Hofeinfahrt mit seinem Dreirad heraus und kollidierte mit dem Fahrrad der Zeugin C.. Diese stürzte auf die Fahrbahn und erlitt hierdurch eine Klavikulafraktur rechts und eine Unterarmfraktur rechts sowie eine Gehirnerschütterung.
7Die Erstversorgung der Zeugin C. wurde von der C2. gezahlt, die ihre Aufwendungen mit der hinter den Beklagten stehenden Haftpflichtversicherung, der X., nach Teilungsabkommen abrechnete. Für die Zeit der Mitgliedschaft der Zeugin C. bei der Klägerin fanden weitere unfallbedingte stationäre beziehungsweise nachstationäre Krankenhausbehandlungen im Krankenhaus N. in T. statt. Hierfür sind der Klägerin an Aufwendungen insgesamt 16.931,16 € entstanden.
8Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagten gemäß § 832 BGB für den Schaden der Zeugin C. verantwortlich seien. Die Beklagten hätten ihr Kind intensiv über die Gefahren des Straßenverkehrs aufklären müssen, insbesondere darüber, dass man aus der unübersichtlichen Hofeinfahrt nicht blindlings auf die Fahrbahn beziehungsweise den Radweg fahren dürfe.
9Die Klägerin behauptet, dass der Unfall sich auf dem Radweg ereignet habe. Der Sohn der Beklagten D. sei nämlich mit dem Dreirad auf den Radweg gefahren.
10Die Klägerin beantragt,
11die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 16.931,16 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.05.2011 zu zahlen.
12Die Beklagten beantragen,
13die Klage abzuweisen.
14Die Beklagten behaupten, dass sie D. auf die Gefahren hingewiesen hätten. Sie hätten ihn ermahnt, nicht auf den Fahrradweg und erst recht nicht auf die Straße zu fahren. Die Beklagten behaupten, dass der Unfall sich auf dem Bürgersteig ereignet habe.
15Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin C.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 16.08.2012 Bezug genommen. Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
16E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
17Die Klage ist unbegründet.
18Zunächst ist das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme allerdings überzeugt, dass der Zusammenstoß zwischen der Zeugin C. und dem Sohn der Beklagten D. sich auf dem Fahrradweg und nicht auf dem Bürgersteig ereignet hat. Dies hat die Zeugin C. zur Überzeugung des Gerichts ausgesagt. Es gibt für das Gericht keinen Anlass, hieran zu zweifeln.
19Gleichwohl liegt keine Verletzung der Aufsichtspflicht der Beklagten vor.
20Das Maß der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des zu Beaufsichtigenden, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um derartige Schädigungen Dritter, wie sie in Frage stehen, durch ihr Kind zu verhindern (vergleiche BGH NJW 84, 2574). Dabei hat sich der Aufsichtspflichtige insbesondere darum zu kümmern, wie der zu Beaufsichtigende sich verhält, wenn er sich nicht überwacht glaubt; das Maß der Aufsicht muss aber auch mit dem Erziehungsziel, die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln einzuüben, in Einklang gebracht werden.
21Schon bei einem mehr als 4 Jahre alten Kind braucht – wenn nicht besondere Unarten bekannt oder besondere Gefahren zu gegenwärtigen sind – eine jederzeitige Eingriffsmöglichkeit der Eltern nicht mehr gewährleistet zu sein, wenn es sich auf dem Bürgersteig längs der Straße etwa 100 Meter von zu Hause entfernt (OLG Celle Versicherungsrecht 69, 333; vergleiche auch BGH Versicherungsrecht 1957, 340). In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass jedenfalls ein fast achtjähriges Kind, das ein Fahrrad ruhig und sicher zu fahren vermag, über Verkehrsregeln eindringlich und genau unterrichtet worden ist und sich über eine gewisse Zeit im Verkehr bewährt hat, auch ohne eine Überwindung durch die aufsichtspflichtigen Eltern mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen kann, etwa um zur Schule zu fahren, und zwar auch auf Bundesstraßen (vergleiche OLG Nürnberg Versicherungsrecht 62, 1116; OLG Oldenburg Versicherungsrecht 63, 491). Der BGH hat bestätigt, dass ein Schuldvorwurf gegen die Eltern nicht daraus hergeleitet werden könne, dass sie ihre sieben- und achtjährigen Kinder mit Fahrrad und Roller ohne ständige Aufsicht oder Begleitung durch Erwachsene auf die Straße ließen, wenn es sich um völlig normale und ordentliche Kinder handele, die mit den Verkehrsregeln vertraut seien und sie nach den heimlichen Beobachtungen ihrer Eltern auch befolgen (BGH Versicherungsrecht 65, 606).
22Nach diesen Grundsätzen ist eine Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten zu verneinen.
23Die Beklagte zu 1) hat bei ihrer persönlichen Anhörung erklärt, dass der Sohn D. das fragliche Fahrrad, womit er auch am Unfalltag gefahren ist, bereits seit drei Jahren hatte. Die Strecke, das heißt das Herunterfahren von der Hoffläche auf den Bürgersteig bis zu dem Eingangsbereich der Großmutter von D., der hinter der Fleischerei gelegen ist, sei von D. bereits mit dem Bobby-Car befahren worden. Die beklagte Ehefrau habe vom Ladengeschäft aus selber gesehen, wie D. diese Strecke gefahren sei. Er habe das circa 6 Mal am Tag gemacht. Er sei prinzipiell nur zum Eingangsbereich der Großmutter gefahren und dann wieder zurück. Auch zum Kindergarten sei sie mit D. mit dem Fahrrad gefahren. Sie habe D. in die Verkehrsregeln entsprechend eingewiesen und ermahnt, dass er nicht auf dem Fahrradweg und natürlich erst recht nicht auf die Straße fahren solle. Es sei der beklagten Ehefrau nie aufgefallen, dass ihr Sohn das anders gemacht habe.
24Das Gericht hat keinerlei Veranlassung, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Die Richtigkeit folgt auch aus der Natur der Sache. Wenn D. tatsächlich die „Angewohnheit“ gehabt hätte, mit dem Dreirad auf dem Bürgersteig oder gar auf die Straße zu fahren, hätte die beklagte Ehefrau das notgedrungen vom Fleischereifachgeschäft aus mitbekommen müssen. Das Gericht vermag sich nicht vorzustellen, dass sie eine solche für D. lebensgefährliche Fahrweise hingenommen hätte oder nichts veranlasst hätte.
25Von daher sind nach Auffassung des Gerichts die Grundzüge der Entscheidung des OLG Celle NJW-RR 1988, 216 auf den Fall zu übertragen. Das Gewähren lassen, dass D., wie in zahlreichen Fällen vorher auch, von der Hoffläche auf den Bürgersteig fährt, ist als solches angesichts der langjährigen Praxis nicht zu beanstanden. Warum D. in diesem Fall auf den Fahrradweg gefahren ist und dort mit der Zeugin C. zusammen gestoßen ist, ist nicht zu klären gewesen. Jedenfalls ist darin keine Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten mehr zu erkennen.
26Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO abzuweisen.
27Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 ZPO.
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