Urteil vom Landgericht Münster - 015 O 90/15
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
1
T a t b e s t a n d
2Die Klägerinnen, eine gesetzliche Krankenkasse und eine gesetzliche Pflegekasse, verlangen von den Beklagten nach einem Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang den Ersatz von Aufwendungen, die sie für ihr verunglücktes Kassenmitglied Frau C erbringen mussten. Die Beklagte zu 2) befuhr in Begleitung der Beklagten zu 1), ihrer Schwester, zum Unfallzeitpunkt mit ihrem Pkw den T in H-E in der Nähe des Bereichs, in dem Frau C mit dem Fahrrad stürzte. Die Beklagte zu 1) ist die Halterin des etwa 1,70 Meter breiten Pkw, der bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist.
3Am 09.05.2013 befuhr die damals 75 Jahre alte Frau C mit ihrem Fahrrad außerorts von H-E den T in Richtung G. Der T ist eine etwa 3,00 Meter breite asphaltierte Straße, die an beiden Seiten von einem mit Schotter und Rasen lose befestigten Seitenstreifen flankiert wird. Frau C befuhr die Straße aus ihrer Sicht gesehen im äußerst rechten Bereich. Die Beklagte zu 2) kam ihr mit einem Pkw der Marke Daimler Crysler A-Klasse entgegen.
4Als Frau C und die Beklagte zu 2) sich noch in einigem Abstand voneinander entfernt befanden, geriet Frau C ins Straucheln, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob dies auf der Bankette oder auf der Fahrbahn geschah. Sie stürzte mit dem Rad und schlug mit dem Kopf auf dem Asphalt der Straße auf. Hierdurch erlitt sie schwere Kopfverletzungen, darunter eine Subarachnoidalblutung mit kleinen Coup-Contre-Blutungen. Sie fiel ins Koma. Die Beklagte zu 2) lenkte ihr Fahrzeug in den rechtsseitigen Graben, um der auf der Straße liegenden Frau C auszuweichen. Sie und die Beklagte zu 1) erlitten jeweils einen Schock. Zu einem Zusammenstoß zwischen dem von Frau C geführten Fahrrad und dem von der Beklagten zu 2) geführten Pkw kam es nicht.
5Frau C wurde unmittelbar nach dem Unfall in das Krankenhaus N im niederländischen U verbracht. Hier wurde sie bis zum 12.05.2013 intensivmedizinisch überwacht. Für die Zeit vom 13.05.2013 bis 17.05.2013 wurde sie innerhalb des Krankenhauses auf die neurochirurgische Station verlegt und dort weiter behandelt. Hieran schlossen sich stationäre Behandlungen im St. B-Hospital in H (17.05.2013 bis 24.05.2013 sowie 26.10.2013 und 27.10.2013) und im Evangelischen M-Krankenhaus in H (24.05.2013 bis 10.06.2013) an.
6In der Zeit vom 10.06.2013 bis zum 07.07.2013 befand sich Frau C im St.-B in H zur Kurzzeitpflege. Sie wurde danach acht Tage lang zu Hause gepflegt und befand sich ab dem 16.07.2013 im Pflegeheim E1 Hof in H. Frau C starb am 21.09.2014. Bis zu ihrem Tod lebte sie in dem Pflegeheim.
7Der Klägerin zu 1) entstanden als Krankenkasse von Frau C Kosten in Höhe von insgesamt 19.075,32 Euro. Als Pflegekasse von Frau C musste die Beklagte zu 2) Kosten in Höhe von insgesamt 21.240,83 Euro. Eine Abrechnung des Krankenhauses N U unterblieb bislang verwaltungsbedingt, wird jedoch von der Klägerin zu 1) innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre erwartet.
8Nach vorprozessualem Schriftverkehr zahlte die Beklagte zu 3) unter dem 09.06.2015 jeweils ein Viertel der Behandlungs- und Pflegekosten sowie außergerichtliche Anwaltskosten zu einem Streitwert von 13.000,00 Euro. Insgesamt zahlte sie an die Klägerin zu 1) einen Betrag in Höhe von 4.748,83 Euro und an die Klägerin zu 2) einen Betrag in Höhe von 5.310,21 Euro. Außerdem entrichtete sie Anwaltskosten in Höhe von 958,19 Euro. Die restlichen Beträge begehren die Klägerinnen mit der vorliegenden Klage.
9Die Klägerinnen sind der Ansicht, dass die Beklagten für den Unfall in voller Höhe haften. Sie meinen, der Unfall habe sich bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs der Beklagten ereignet, und behaupten zudem, die Beklagte zu 2) sei mit unangepasster Geschwindigkeit mittig auf der Straße gefahren, so dass Frau C sich genötigt gesehen habe, auf den Seitenstreifen auszuweichen. Im Zusammenhang mit diesem Vorgang sei Frau C ins Straucheln geraten und auf die Fahrbahn gestürzt. Sie habe aufgrund des aus Sicht der Klägerinnen zu geringen Seitenabstands der Beklagten zu 2) befürchten müssen, dass der Verkehrsraum für sie zu eng werden würde.
10Die Klägerinnen sind der Meinung, aus dem Umstand, dass die Beklagte zu 2) das von ihr geführte Fahrzeug in den Straßengraben gelenkt hat, ergebe sich zwingend, dass sie mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren sei. Anderenfalls hätte die Beklagte zu 2) nach Auffassung der Klägerinnen ohne weiteres vor der gestürzten Frau C bremsen können.
11Die Klägerinnen beantragen sinngemäß,
12die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) einen Betrag in Höhe von 14.306,49 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.03.2015 zu zahlen,
13festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin zu 1) sämtliche Kosten in voller Höhe zu ersetzen, die ihr in Zukunft für ihr Kassenmitglied C aus Anlass des Unfalls vom 09.05.2013 in H-E, T, entstehen werden,
14die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) einen Betrag in Höhe von 15.930,62 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.03.2015 zu zahlen sowie
15an die Klägerinnen weitere 1.127,76 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für die ihnen durch die vorgerichtliche Tätigkeit ihrer Prozessbevollmächtigten entstandenen Kosten zu zahlen.
16Die Beklagten beantragen,
17die Klage abzuweisen.
18Sie bestreiten, dass die Beklagte zu 2) mit unangepasster Geschwindigkeit gefahren sei und behaupten, dass diese angesichts der Straßenverhältnisse, speziell aufgrund der Breite des Weges sowie auch im Hinblick darauf, dass sie einen Fußgänger mit seinem Hund wahrgenommen hatte, sehr langsam gefahren sei. In diesem Zusammenhang behaupten die Beklagten, die Beklagte sei mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h äußerst rechts gefahren, also mit den rechten Reifen unmittelbar im Bereich des Übergangs der asphaltierten Fläche zum Seitenstreifen.
19Das Gericht hat die Akte der Staatsanwaltschaft Münster, die gegen Frau C ein Ermittlungsverfahren führte, beigezogen (Az. 62 Js 5960). Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17.11.2015 hat das Gericht zudem die Beklagte zu 2) angehört. Hinsichtlich ihrer Angaben wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen (Bl. 52-54 d. A.).
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
21Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
22Ein Anspruch der Klägerinnen gegen die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG besteht nicht. Es kann nicht mit der nach § 286 ZPO erforderlichen Überzeugung festgestellt werden, dass sich die Verletzung von Frau C gem. § 7 Abs. 1 StVG bei dem Betrieb des durch die Beklagte zu 2) geführten Fahrzeugs ereignete. Im Ausgangspunkt ist zu sehen, dass das in § 7 Abs. 1 StVG enthaltene Tatbestandsmerkmal "bei Betrieb" voraussetzt, dass die Unfallursache im Betrieb des Kraftfahrzeugs der Beklagten zu 1) liegt (vgl. BGH, Urteil vom 04.05.1976, Az. VI ZR 193/74 = VersR 1976, 927). Die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Stelle, an der es zu dem Unfall kam, rechtfertigt noch nicht die Annahme, der Unfall sei bei dem Betrieb dieses Fahrzeugs entstanden; vielmehr muss dieses Fahrzeug durch seine Fahrweise zum Entstehen des Unfalls beigetragen haben (BGH a a O m. w. N.; BGH, Urteil vom 26.04.2005, Az. VI ZR 168/04 = NJW 2005, 2081).
23Daran gemessen kann eine Verurteilung der Beklagten zur Leistung von Schadensersatz nicht erfolgen. Es kann vorliegend nicht festgestellt werden, dass von dem durch die Beklagte zu 2) geführten Fahrzeug irgend ein Verursachungsbeitrag für den Sturz der Frau C ausging. Unabhängig davon, dass eine Haftung aus Betriebsgefahr auch bei fehlender Berührung von zwei Verkehrsteilnehmern möglich ist, beispielsweise wenn der eine den anderen erschreckt und dieser dann ausweicht und stürzt (vgl. BGH, Urteil vom 26.04.2005, Az. VI ZR 168/04 = NJW 2005, 2081; OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.10.2010, Az. 13 U 46/10 = NZV 2011, 196f.), war eine solche Haftung vorliegend nicht anzunehmen. Es lässt sich nicht feststellen, dass der Sturz von Frau C auf ein Ausweichen der Frau C und damit auf den Betrieb des Fahrzeugs der Beklagtenseite zurückzuführen ist.
24Zwar ist das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs" i.S. d. § 7 Abs. 1 StVG entsprechend dem weiten Schutzzweck dieser Norm weit auszulegen (BGH aaO; OLG Celle, Urteil vom 07.06.2001, Az. 14 U 210/00, gefunden bei juris). Umfasst sind alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe (BGH aaO). Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensereignis in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist (BGH aaO).
25Deshalb wird ein Unfall, der sich infolge einer Abwehr- oder Ausweichreaktion ereignet hat, selbst dann dem Betrieb des Kfz zugerechnet, das die Reaktion ausgelöst hat, wenn diese objektiv nicht erforderlich war (OLG Celle aaO). Stets ist aber aufgrund einer insoweit gebotenen wertenden Betrachtung des Schadensereignisses die Feststellung erforderlich, dass die Reaktion des geschädigten Verkehrsteilnehmers - aus seiner Sicht des konkreten Verkehrsgeschehens vor dem Unfall - subjektiv vertretbar erschien (OLG Celle aaO). Es müssen also Anhaltspunkte dafür festgestellt werden, dass das Verhalten des in Anspruch Genommenen dem Geschädigten subjektiv zur Befürchtung hätte Anlass geben können, es werde ohne seine Reaktion zu einer Kollision mit dem anderen Verkehrsteilnehmer kommen (OLG Celle aaO). Diesbezüglich tragen die Klägerinnen als Anspruchsstellerinnen die Beweislast. Das Gericht hat vorliegend jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte zu 2) ein Fahrverhalten an den Tag gelegt hat, das Frau C subjektiv Anlass gegeben hat, einen Zusammenstoß oder ähnliches zu befürchten. Es ist genauso gut denkbar, dass Frau C zwischen Bankette und Straße ins Straucheln geraten und gestürzt ist, ohne dass dies mit dem durch die Beklagte zu 2) geführten Fahrzeug in irgend einem Zusammenhang steht.
26Sofern sich die Klägerseite darauf berufen hat, bei angepasster Geschwindigkeit habe für die Beklagte kein Grund bestanden, das Fahrzeug in den Graben zu lenken, führt dies aus Sicht des erkennenden Gerichts zu keiner anderen Beurteilung. Zwar ergibt sich aus der beigezogenen Ermittlungsakte, dass das durch die Beklagte zu 2) geführte Fahrzeug etwa 15,00 Meter hinter der gestürzten Frau C im Graben zum Stillstand gekommen ist. Zum einen ist dies gemessen an der Länge des Fahrzeugs keine große Strecke. Zum anderen hat die Beklagte zu 2) diesen Umstand aus Sicht des Gerichts plausibel damit begründet, sie sei aufgrund des Sturzes von Frau C auf die Straße geschockt gewesen und habe den Wagen aufgrund des Überraschungsmoments in einer Ausweichbewegung in den Graben gelenkt.
27Da den Klägerinnen hinsichtlich der Zahlungsbegehren keine Ansprüche zustehen, ist auch die Feststellungsklage unbegründet. Diesbezüglich wird auf die vorherigen Ausführungen verwiesen. Die erhobenen Nebenforderungen - Zinsen und vorgerichtliche Rechtswaltskosten - teilen das Schicksal der Hauptforderungen und waren als unbegründet abzuweisen.
28Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hat ihre Grundlage in § 709 ZPO. Der Streitwert wird auf einen Betrag von bis zu 60.237,11 Euro festgesetzt. Er setzt sich zusammen aus den Werten der bezifferten Klageanträge zu I. und zu III. sowie aus dem Wert des Feststellungsantrags. Der Wert hierfür war auf 30.000,00 Euro festzusetzen, da die Klägerinnen mit der Klageschrift vorgetragen haben, sie erwarteten eine weitere Rechnung in Höhe von 30.000,00 Euro aufgrund des Aufenthaltes von Frau C in dem Krankenhaus in U.
29Unterschrift |
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