Beschluss vom Landgericht Stuttgart - 19 T 353/11

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart - Vollstreckungsgericht - vom 11.10.2011 (2 M 2807/08) wird abgeändert:

Es wird festgestellt, dass der seitens der Drittschuldnerin Ziff. 2 zu berücksichtigende Betrag für die Beiträge des Schuldners zur Kranken- und Pflegeversicherung auf den gesetzlichen Beitragssatz (aktuell 16,85%) der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze (aktuell 3.825,-- EUR monatlich) begrenzt ist.

2. Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei. Der Schuldner trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens.

3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Beschwerdewert: 600,-- EUR

Gründe

 
I.
Die Gläubigerin / Beschwerdeführerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus einer notariellen Urkunde des Notars N.N., Stuttgart, vom 17.01.2003, UR-Nr. …, welche der Forderungsaufstellung der Gläubigerin zum 09.06.2008 zufolge eine Hauptforderung i.H.v. 60.000,-- EUR umfasst. Am 09.06.2008 beantragte die Gläubigerin beim Amtsgericht Stuttgart - Vollstreckungsgericht - den Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses, der (Beschluss vom 12.06.2008) u.a. die Pfändung bestehender und künftiger Renten- und Versorgungsleistungen der Drittschuldnerinnen wegen Alters oder Erwerbsunfähigkeit sowie deren Überweisung an die Gläubigerin zur Einziehung bewirkte. Durch Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 30.10.2008 wurde gem. § 850c Abs. 4 ZPO bestimmt, dass die Ehefrau des Schuldners bei der Berechnung des unpfändbaren Teils seines Einkommens als Unterhaltsberechtigte unberücksichtigt zu lassen ist, da sie über eigenes Einkommen verfügt.
Der Schuldner bezieht von der Drittschuldnerin Ziff. 2 monatliche Renteneinkünfte in einer Höhe von - nach letztmaligem Vortrag - 1.973,72 EUR. Er ist Mitglied einer privaten Kranken- und Pflegepflichtversicherung und wendet hierfür - nach letztmaligem Vortrag - monatlich 741,37 EUR auf. Hieraus folgt ein pfändbares monatliches Einkommen i.H.v. gegenwärtig 140,78 EUR.
Mit Schriftsatz vom 26.07.2011 beantragte die Gläubigerin beim Vollstreckungsgericht die Feststellung, dass der seitens der Drittschuldnerin Ziff. 2 zu berücksichtigende Betrag für die Beiträge des Schuldners zur Kranken- und Pflegeversicherung auf den gesetzlichen Beitragssatz begrenzt wird. Diesen Antrag hat das Amtsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 11.10.2011, gegen den sich die Gläubigerin mit ihrer am 21.10.2011 bei Gericht eingegangenen Beschwerde wendet, als unbegründet zurückgewiesen.
In der Beschwerdeinstanz hat die Gläubigerin ihren Antrag auf gerichtlichen Hinweis vom 07.11.2011 mit Schriftsatz vom 10.11.2011 dahingehend beschränkt, dass nunmehr beantragt wird,
festzustellen, dass der seitens der Drittschuldnerin zu berücksichtigende Betrag für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf den gesetzlichen Beitragssatz (aktuell 16,85%) der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze (aktuell 3.712,50 EUR monatlich) begrenzt wird.
Das Gericht versteht diesen Antrag im Wege der interessengerechten Auslegung und unter Berücksichtigung der zum 01.01.2012 auf monatlich 3.825,-- EUR erhöhten Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Krankenversicherung (§ 223 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 6 Satz 1 SGB V) dahingehend, dass
die Feststellung begehrt wird, dass der seitens der Drittschuldnerin Ziff. 2 zu berücksichtigende Betrag für die Beiträge des Schuldners zur Kranken- und Pflegeversicherung auf den gesetzlichen Beitragssatz (aktuell 16,85%) der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze (aktuell 3.825,-- EUR monatlich) begrenzt ist.
Auf dieser Berechnungsgrundlage stünden zurzeit monatlich 189,78 EUR für die Pfändung zur Verfügung.
Zur Begründung ihres Antrags führt die Gläubigerin aus, dass der Schuldner nach Einführung des branchenweit einheitlichen Basistarifs für die substitutive (private) Krankenversicherung durch § 12 Abs. 1a und 1b VAG zum 01.01.2009 durch Wechsel in diesen Basistarif einen dem Schutzniveau der gesetzlichen Krankenversicherung mindestens äquivalenten Versicherungsschutz erlangen könne. Der Beitragssatz des Basistarifs ist gem. § 12 Abs. 1c VAG auf den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung begrenzt. Die Gläubigerin zieht hieraus die Schlussfolgerung, dass der Basistarif im Falle des Schuldners weniger kostenaufwendig als dessen bisheriger Versicherungstarif und mithin vollstreckungsfreundlicher ist, und ihm ein Wechsel in diesen Tarif bzw. eine Nichtberücksichtigung höherer als der mit dem Basistarif verbundenen Kranken- und Pflegeversicherungskosten im Rahmen der Zwangsvollstreckung zuzumuten sei.
10 
Die Gläubigerin vertritt die Ansicht, dass die Berücksichtigung höherer als der mit dem Basistarif verbundener Versicherungsbeiträge den „Rahmen des Üblichen“ i.S.v. § 850e Nr. 1 Satz 2 lit. b) ZPO übersteigen würde.
11 
Das Amtsgericht hat dem Rechtsmittel der Gläubigerin mit Beschluss vom 31.10.2011 nicht abgeholfen und die Akte dem Landgericht Stuttgart zur Entscheidung vorgelegt. Der zuständige Einzelrichter des Landgerichts hat das Verfahren der mit der Beschwerde befassten Kammer mit Beschluss vom 09.05.2012 zur Entscheidung übertragen.
12 
Auf die Stellungnahmen der Parteien im Beschwerdeverfahren wird Bezug genommen.
II.
13 
Die gem. §§ 793, 567 Abs. 1 Nr. 1, 569 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insb. fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist in der Sache begründet.
14 
Die Gläubigerin kann die begehrte Feststellung verlangen, da die Berücksichtigung höherer als der im Tenor bezeichneter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge des Schuldners den Rahmen des Üblichen i.S.v. § 850e Nr. 1 Satz 2 lit. b) ZPO übersteigen würde.
15 
1. § 850e Nr. 1 Satz 1 ZPO zufolge sind bei der Berechnung des pfändbaren Arbeitseinkommens neben den nach § 850a ZPO der Pfändung entzogenen Bezügen Beträge, die unmittelbar aufgrund steuerrechtlicher oder sozialrechtlicher Vorschriften zur Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen des jeweiligen Schuldners abzuführen sind, nicht mitzurechnen. Hierunter fallen Beiträge zur gesetzlichen Krankenpflichtversicherung i.S.v. § 5 SGB V. Für den Fall der Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 6 SGB V - Gleiches gilt jeweils für die gesetzliche Pflegeversicherung - stellt § 850e Nr. 1 Satz 2 lit. b) ZPO die an eine Ersatzkasse oder an ein Unternehmen der privaten Krankenversicherung geleisteten Beträge den in § 850d Nr. 1 Satz 1 ZPO aufgeführten, vorstehend genannten Beträgen insoweit gleich, als sie den „Rahmen des Üblichen“ nicht übersteigen.
16 
2. Den Begriff des „Rahmens des Üblichen“ hat die Rechtsprechung in den zurückliegenden Jahrzehnten - teilweise durchaus unterschiedlich - konkretisiert (LG Hannover, Beschluss v. 25.04.1983 - 11 T 76/83; Kammergericht, Beschluss v. 21.12.1984 - 1 W 5496/83; LG Hannover, Beschluss v. 07.10.1986 - 11 T 168/86; LG Berlin, Beschluss v. 30.03.1994 - 81 T 483/93 - alle zitiert nach juris; Lüke in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Aufl. 1999, § 850e Rn. 11 m. weiteren Rechtsprechungsnachweisen in Fußn. 16 f.). Einigkeit besteht jedoch darüber, dass die unter gleichen Verhältnissen erwachsenden Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung einen Anhalt dafür bieten, wann Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung - bzw. der jeweilige individuelle Tarif - den Rahmen des Üblichen übersteigen (Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2004, § 850e Rn. 8 m. Hinweis zur Normgeschichte in Fußn. 10; Smid in: Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl. 2007, § 850e Rn. 4; Musielak, ZPO, 9. Aufl. 2012, § 850d Rn. 4). Ferner ist offensichtlich, dass die o.g. Rechtsprechung zu berücksichtigen hatte, dass privat krankenversicherten Schuldnern in der Vergangenheit regelmäßig kein mit dem Versicherungsschutz der gesetzlichen Krankenversicherung gleichlaufender Tarif bzw. - aus Beitragsgründen - kein die Versicherungskosten reduzierender Wechsel in einen solchen möglich war. Darüber hinaus war - und ist - solchen Personen wegen ihrer Versicherungsfreiheit gem. § 6 SGB V auch ein Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung regelmäßig verwehrt.
17 
Vor diesem Hintergrund hatte die Rechtsprechung bei der Konkretisierung der Begrifflichkeit „Rahmen des Üblichen“ zu erwägen, ob dem jeweiligen Versicherten ein Übermaß an Versicherungsschutz zu attestieren war und ihm deshalb der Wechsel in einen anderen Tarif der privaten Krankenversicherung - im Zweifel: seines Versicherungsunternehmens - mit einem geringeren Leistungsumfang zugemutet werden konnte. Zugleich hat die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang mehrheitlich darauf erkannt, dass eine Begrenzung der i.R.v. § 850e Nr. 1 Satz 2 lit. b) ZPO abzuziehenden Beträge auf die an seinem realen Einkommen bemessenen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung allenfalls dann sachlich gerechtfertigt wäre, wenn ein Schuldner hierfür einen der gesetzlichen Krankenversicherung gleichwertigen Versicherungsschutz erlangen würde (KG a.a.O. - RPfleger 1985, 154).
18 
3. Mit der Einführung des branchenweit einheitlichen Basistarifs für die private Krankenversicherung durch § 12 Abs. 1a und 1b VAG zum 01.01.2009 haben die für die vorstehend skizzierte Abwägung maßgeblichen Gesamtumstände indes eine aus Sicht der Beschwerdekammer erhebliche Änderung erfahren.
19 
Mit diesem Tarif steht allen Krankenversicherten, die nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 5 SGB V unterfallen, ein Tarif zur Verfügung, dessen Leistungsumfang aufgrund gesetzlicher Vorgabe (§ 12 Abs. 1a Satz 1 VAG) dem Schutzniveau der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nachsteht. Insofern entspricht der Leistungsumfang dieses Tarifs demjenigen aller gesetzlich Versicherter - ca. 85% der deutschen Bevölkerung (Zahlenquelle: Bundesministerium für Gesundheit) - und mithin genau demjenigen Kranken- und Pflegeversicherungsschutz, den der Sozialgesetzgeber sowohl als notwendig als auch als angemessen erachtet. Jeder bei einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung i.S.v. § 850e Nr. 1 Satz 2 lit. b) ZPO Versicherte besitzt die Möglichkeit, den versicherungsseitig seit dem 01.01.2009 von Gesetzes wegen anzubietenden Basistarif auf der Grundlage einer autonomen Entscheidung in Anspruch zu nehmen und seinen Krankenversicherungsschutz hierdurch demjenigen aller gesetzlich Versicherten gleichzustellen.
20 
4. Wenn demnach jedoch - anders als früher (s.o.) - jeder privat Krankenversicherte die Dispositionsfreiheit über einen Wechsel in den Basistarif besitzt und mit einem solchen Wechsel - wegen des Gleichlaufs des Basistarifs mit dem gesetzlichen Pflichtversicherungsschutz: von Verfassungs wegen - kein sozial inadäquater Leistungsverlust verbunden sein kann, vermag die mit dem Rechtsmittel der Gläubigerin befasste Kammer nicht zu erkennen, weshalb Versicherungsbeiträge oberhalb der für den vorstehend erläuterten Tarif anfallenden - der Beitragssatz des Basistarifs ist gem. § 12 Abs. 1c VAG auf den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung begrenzt - „üblich“ und im Rahmen der Zwangsvollstreckung - zum Nachteil der Gläubiger - zu berücksichtigen sein sollten. Vielmehr ist die Kammer in Bezug auf die hiesige Beschwerdesache der Auffassung, dass dem Schuldner die Nichtberücksichtigung von Versicherungsbeiträgen oberhalb der gesetzlichen Beitragsbemessungsgrenze i.R.v. § 850e Ziff. 1 Satz 2 lit. b) ZPO und ggf. auch - mittelbar - ein Tarifwechsel zuzumuten ist; Gegenteiliges ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
21 
Wünscht der Schuldner dem gegenüber den Verbleib in seinem bisherigen Versicherungstarif, bleibt es ihm freigestellt, den hiermit verbundenen finanziellen Mehraufwand selbst zu erbringen, ohne dass dies der Gläubigerin im Rahmen der Zwangsvollstreckung zum Nachteil gereichen darf.
III.
22 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO und Nr. 2121 KV GKG.
23 
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde folgt aus der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und daraus, dass - soweit für die Kammer erkennbar - bislang keine obergerichtliche Judikatur zu der streitgegenständlichen Frage der Bedeutung der für den Basistarif der privaten Krankenversicherung bedeutsamen Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung für die Bestimmung des „Rahmens des Üblichen“ i.S.v. § 850e Ziff. 1 Satz 2 lit. b) ZPO existiert.
24 
Den Beschwerdewert hat die Kammer gem. § 3 ZPO auf der Grundlage desjenigen Jahresbetrages bestimmt, der der Pfändung nunmehr zusätzlich zur Verfügung steht.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen

This content does not contain any references.