Beschluss vom Landgericht Wuppertal - 26 Ns 19/07
Tenor
1.
Das Verfahren wird wegen eines Verfahrenshindernisses (hier: dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten) eingestellt.
2.
Der Arrestbeschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 31.01.2005 (Az. 11 BLs 85 Js 92/03) vom 31.01.2013 wird aufgehoben.
3.
Der Antrag der Bergischen Universität Wuppertal, die Zwangsvollstreckung des von ihr erlassenen Leistungsbescheides vom 10.07.2006 in die von dem Land NRW, vertreten von dem Oberstaatsanwalt in Wuppertal, arretierten Vermögensgegenstände für zulässig zu erklären, wird abgelehnt.
4.
Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last. Es wird davon abgesehen, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen
1
Gründe:
2I.
3Gegen den Angeklagten ist durch Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Wuppertal vom 12.02.2007 (Az. 10 Ls-85 Js 92/03-2560/06) wegen Betruges in Tateinheit mit Untreue in elf Fällen sowie Bestechlichkeit in zwei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten erkannt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist (Bd. XIII, Bl. 1971-1981). Gegen dieses Urteil haben sowohl die Staatsanwaltschaft (Bd. XIII, Bl. 1959) als auch der Angeklagte (Bd. XIII, Bl. 1961) jeweils form- und fristgemäß Berufung eingelegt.
4Nachdem der Angeklagte nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens seine Verhandlungsunfähigkeit geltend gemacht hat, ist er in der Folgezeit mehrere Male zu der Frage seiner Verhandlungsfähigkeit sachverständig untersucht worden, erstmalig durch den Sachverständigen B (vgl. Gutachten vom 27.07.2008, Bd. IX, Bl. 2068-2094, und Ergänzungsgutachten vom 19.03.2009, Bd. IX, Bd. 2103-2112), und in der Folge durch den von der Staatsanwaltschaft Wuppertal (vgl. Bd. IX, Bl. 2123) vorgeschlagenen Sachverständigen Dr. med. V (vgl. Gutachten vom 10.09.2009, Bd. IX, Bl. 2143-2157; vom 31.03.2011, Bd. IX, Bl. 2180-2184; vom 24.04.2012, Sonderband Gutachten Dr. V, Bl. 1-5; vom 31.12.2012, Sonderband Gutachten Dr. V, Bl. 6-10 sowie vom 16.07.2014, Bl. 11-14). Auf der Grundlage der bis dahin eingeholten Sachverständigengutachten ist das Verfahren durch Beschlüsse der Kammer vom 09.11.2009 (Bd. IX, Bl. 2161), 26.05.2011 (Bd. IX, Bl. 2200) und - nachdem zwischenzeitlich Termine zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung vom 15.01. bis 04.03.2013 (vgl. Bd. IX, Bl. 2240-2241) anberaumt worden waren - vom 09.01.2013 (vgl. Bd. IX, Bl.2262-2263) wegen nicht zweifelsfrei feststehender dauernder Verhandlungsunfähigkeit jeweils nach § 205 StPO vorläufig eingestellt worden.
5II.
61.
7Das Verfahren ist nunmehr wegen einer dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nach § 206a StPO endgültig einzustellen.
8Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne bedeutet, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Dauernde Verhandlungsunfähigkeit stellt im Strafverfahren ein Prozesshindernis dar, das zur endgültigen Verfahrenseinstellung zwingt. Einschränkungen dieses Grundsatzes sieht das Gesetz zur Wahrung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in bestimmtem Umfang (nur) für Fälle einer selbstverschuldeten Verhandlungsunfähigkeit vor (vgl. § 231a StPO).
9Mit diesem Inhalt genügt der Begriff der Verhandlungsfähigkeit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden verfassungsrechtlichen Gebot, den Angeklagten nicht als bloßes Objekt des Strafverfahrens zu behandeln, ihm vielmehr zur Wahrung seiner Interessen die Möglichkeit einzuräumen, auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Gebot, den Angeklagten nicht als bloßes Objekt des Verfahrens zu behandeln, bedeutet allerdings vor allem, dass dem Angeklagten zur Wahrung seiner Verteidigungsinteressen Verfahrensrechte eingeräumt werden müssen, die es ihm erlauben, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Es bedeutet nicht, dass der Angeklagte auch tatsächlich fähig sein müsse, die ihm gesetzlich eingeräumten Verfahrensrechte in jeder Hinsicht selbständig und ohne fremden Beistand wahrzunehmen. Auch bei solchen Beschuldigten, deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, muss die Schuld- und Straffrage nach Möglichkeit in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren geklärt und entschieden werden können. Von Verfassung wegen ist es daher nicht geboten, Verhandlungsunfähigkeit bei solchen Einschränkungen der geistigen, psychischen oder körperlichen Fähigkeiten anzunehmen, deren Auswirkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch verfahrensrechtliche Hilfen für den Beschuldigten hinreichend ausgeglichen werden können. Dabei muss jedoch die Grenze der Verhandlungsfähigkeit dort gezogen werden, wo dem Beschuldigten auch bei Inanspruchnahme solcher verfahrensrechtlicher Hilfen eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung und eine sachgerechte Wahrnehmung der von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist.
10Es steht mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Einklang, dass die Strafprozessordnung grundsätzlich von der Verhandlungsfähigkeit jedenfalls bei erwachsenen Angeklagten ausgeht und die Rechtsprechung der Strafgerichte einen (dauernden) Ausschluss der Verhandlungsfähigkeit in der Regel nur bei schweren geistigen, psychischen oder körperlichen Mängeln in Betracht zieht. Das Gesetz sieht für den Fall, dass sich ein Beschuldigter nicht selbst verteidigen kann, vorrangig die notwendige Mitwirkung eines Verteidigers am Verfahren vor (§ 140 Abs. 2 StPO). Der Verteidiger ist nach der Strafprozessordnung in weitem Umfang zur Wahrnehmung von Verteidigungsrechten des Angeklagten aus eigener Initiative ermächtigt; er bedarf nicht stets der ausdrücklichen Zustimmung des Angeklagten, kann vielmehr zur Wahrung von dessen objektiven Verteidigungsinteressen vielfach - etwa bei der Stellung von Beweisanträgen - sogar gegen den Willen des Angeklagten handeln. Vor diesem Hintergrund erscheint es - auch aus verfassungsrechtlicher Sicht - nicht notwendig, Verhandlungsunfähigkeit anzunehmen, wenn der Angeklagte durch den Rat und den Beistand seines Verteidigers ausreichend in die Lage versetzt wird, seine Verfahrensrechte aufgrund eigenen Willensentschlusses entweder selbst oder durch seinen Verteidiger auszuüben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.02.1995, Az. 2 BvR 345/95, Rz. 29-31 bei juris).
11Die verfassungsrechtliche Pflicht zu einer wirksamen Rechtspflege rechtfertigt indessen nicht in jedem Fall eines hinreichenden Tatverdachts die Durchführung des Strafverfahrens. Diese kann - unabhängig von einer Verurteilung des Beschuldigten und deren Folgen - ihrerseits mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Widerstreit treten und Grundrechte des Beschuldigten beeinträchtigen. Das kann der Fall sein, wenn angesichts seines Gesundheitszustandes zu befürchten ist, dass er bei Fortsetzung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde. In solchen Fällen entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, zu deren Schutz das Grundgesetz den Staat ebenfalls verpflichtet, ein Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang vor dem anderen. Weder darf der staatliche Strafverfolgungsanspruch ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Beschuldigten durchgesetzt werden, noch erfordert jede denkbare Gefährdung dieser Rechte ein Zurückweichen jenes Anspruchs.
12Für das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gilt nichts anderes. Ein hier entstehender Konflikt ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das bei der Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ganz allgemein Beachtung erfordert, durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Beschuldigten im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 abs. 2 Satz 1 GG. Bei der Beurteilung dieser Frage können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern.
13Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Verfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
14Treten im Strafverfahren Zweifel auf, ob der Beschuldigte mit Rücksicht auf seine physische oder psychische Verfassung den Belastungen einer Hauptverhandlung wird standhalten können, so kann seinem Interesse, die Verhandlung aus diesem Grunde zu verhindern, die verfassungsrechtliche Schutzwürdigkeit nicht schon mit dem Hinweis abgesprochen werden, die Fortsetzung des Strafverfahrens bewirke allenfalls eine Gefährdung seiner Grundrechte. Zwar liegen bloße Grundrechtsgefährdungen im Allgemeinen noch im Vorfeld verfassungsrechtlich relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen. Sie können jedoch unter besonderen Voraussetzungen Grundrechtsverletzungen gleich zu achten sein. Eine solche Grundrechtsverletzung im weiteren Sinne liegt jedenfalls vor, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde.
15Dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den staatlichen Organen verbietet, den Beschuldigten im Strafverfahren in eine naheliegende, konkrete Lebensgefahr zu bringen, versteht sich für den Rechtsstaat des Grundgesetzes von selbst. Darüber hinaus steht auch eine mit der Durchführung der Hauptverhandlung etwa verbundene ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit des Beschuldigten der Fortsetzung des Strafverfahrens entgegen, sofern die zu befürchtende gesundheitliche Schädigung als schwerwiegend zu erachten ist. In solchen Fällen tritt der staatliche Strafverfolgungsanspruch gleichfalls hinter das Interesse des Beschuldigten am Schutz seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zurück.
16Ob im Einzelfall eine bei Durchführung der Hauptverhandlung drohende Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Beschuldigten so schwer wiegt, dass sie zur Einstellung des Verfahrens zwingt, hat der Strafrichter unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Falles zu entscheiden. Dabei wird von Bedeutung sein, ob der Schaden, dessen Eintritt droht, dauernder oder nur vorübergehender Natur ist. Besteht die ernsthafte Befürchtung, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung einen schwerwiegenden, irreparablen gesundheitlichen Schaden erleiden würde, so ist das Strafverfahren in jedem Fall einzustellen. Hingegen kann seine Gefährdung durch die Hauptverhandlung im Einzelfall hinnehmbar sein, wenn ihm gesundheitliche Beeinträchtigungen lediglich vorübergehender Art - etwa in Gestalt bestimmter Anfälle - drohen. Ob der Beschuldigte auf die Möglichkeit späterer Heilung oder Besserung verwiesen werden darf, hängt davon ab, wie schwer die zu befürchtende Beeinträchtigung wiegt und wie - mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Beschuldigten - die Aussichten auf einen günstigen Verlauf einzuschätzen sind.
17Ist zu entscheiden, ob die Durchführung der Hauptverhandlung das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten in solchem Maße gefährden würde, dass sie auch in Ansehung der staatlichen Strafverfolgungspflicht als unzulässiger Eingriff in das Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu werten wäre, so vermag nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung zu rechtfertigen.
18Die unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegende bloße Möglichkeit des Todes oder einer gesundheitlichen Schädigung des Beschuldigten berechtigt das Gericht ersichtlich nicht, von der Durchführung der Hauptverhandlung Abstand zu nehmen. Diese stellt auch für den gesunden Beschuldigten regelmäßig eine erhebliche psychische und oftmals auch eine nicht geringe physische Belastung dar. Die Möglichkeit, dass er solchen Anspannungen nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen. Derartige Risiken sind indessen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Rechtspflege hingenommen werden.
19Auf der anderen Seite dürfen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit solcher Beeinträchtigungen nicht überspannt werden. Die Annahme, in derartigen Fällen sei von der Durchführung der Hauptverhandlung nur dann abzusehen, wenn sich mit Sicherheit vorhersagen lasse, dass die Verhandlung schwerwiegende gesundheitliche Nachteile oder gar den Tod des Beschuldigten zur Folge hätte, brächte den Beschuldigten in eine mit der Bedeutung und Tragweite seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht zu vereinbarende Gefahr (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.06.1979, Az. 2 BvR 1060/78, Rz. 69-77 bei juris).
20Nach den überzeugenden und gut nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. med. V in seinem schriftlichen Gutachten vom 16.07.2014 besteht bei dem Angeklagten infolge seiner andauernden schweren depressiven Symptomatik ein erhöhtes Suizidrisiko, sofern er - was in einer Hauptverhandlung unvermeidlich sein wird - mit den verfahrensgegenständlichen Vorwürfen konfrontiert wird, weil sie ihn in eine emotional hoch angespannte Verfassung versetzen, was (hochwahrscheinlich) zur Folge haben wird, dass es hierbei krankheitsbedingt zu psychischen Dekompensationszuständen mit der Gefahr eines Suizids kommt.
21Die von dem Sachverständigen Dr. med. V gestellte Diagnose ist widerspruchsfrei und stimmig. Bereits der zunächst in dieser Sache tätig gewordene und den Angeklagten untersuchende Sachverständige Weiß hat eine anhaltende schwere depressive Symptomatik diagnostiziert, infolge derer er sich in einer Hauptverhandlung rasch in einer emotional hoch angespannten Situation befinden würde, in der seine Fähigkeit, den Inhalten der Verhandlung zu folgen, gravierend eingeschränkt wäre. Auch dieser Sachverständige hat bei dem Angeklagten die Gefahr eines Suizids als Folge einer mit der Hauptverhandlung einhergehenden psychischen Belastung erkannt (vgl. Bd. IX, Bl. 2093-2094). An dem von dem Sachverständigen Dr. med. V auch aktuell diagnostizierten krankheitsbedingten erhöhten Suizidrisiko bestehen vor diesem Hintergrund keine vernünftigen Zweifel.
22Der Bewertung einer nicht nur vorübergehenden Verhandlungsunfähigkeit steht vorliegend auch nicht der Umstand einer fehlenden stationären psychiatrischen Behandlung des Angeklagten in der jüngeren Vergangenheit entgegen. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass es einer verbreiteten Ansicht in der obergerichtlichen Rechtsprechung entspricht, wonach der Angeklagte, der die Verhandlungsunfähigkeit nicht durch eigenes Tun oder Unterlassen bewirkt hat, grundsätzlich verpflichtet ist, eine zur Beseitigung der nicht von ihm herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit notwendige ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen (vgl. OLG Nürnberg NJW 2000, 1804; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 274; OLG Hamm NJW 1977, 1739). Auch wird in diesem Zusammenhang die abweichende Ansicht vertreten, nach der sich ein verhandlungsunfähiger Angeklagter nicht ärztlich behandeln lassen müsse, um seine Verhandlungsfähigkeit wieder herzustellen (so etwa auch LG Nürnberg-Fürth NJW 1999, 1125; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 231a StPO Rdn. 7).
23Demgegenüber hält die Kammer eine differenzierte Betrachtung für angezeigt. Die letztgenannte Ansicht verkennt, dass die staatliche Gewalt verfassungsrechtlich verpflichtet ist, das Strafverfahren vor Manipulationen von Seiten des Angeklagten zu bewahren und auf diesem Wege den Rechtsfrieden in Gestalt einer funktionierenden Strafrechtspflege zu sichern. Dies verlangt das Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafrechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, die Aufgabe des Staatswesens, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu schützen und die Gleichbehandlung aller Angeklagten im Strafverfahren verlangen daher nach einer effektiven Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Dies bedeutet, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten und diese Entscheidungen nicht von der Kooperationsbereitschaft des Angeklagten abhängig zu machen. Danach ist zur Gewährleistung einer effektiven Strafverfolgung einerseits sowie zum Schutze des grundgesetzlich garantierten Anspruchs des Angeklagten auf rechtliches Gehör, körperliche Unversehrtheit und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 103 Abs. 1, 2 Abs. 2, 20 GG andererseits eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der insbesondere die Bedeutung der strafrechtlichen Vorwürfe sowie die Erheblichkeit, die Intensität und das Risiko der geforderten ärztlichen Behandlung gegeneinander abzuwägen sind.
24Eine solche nach dem vorgenannten Maßstab anzustellende Interessenabwägung ergibt vorliegend, dass hier der Schutz des Angeklagten an seiner körperlichen Unversehrtheit gegenüber dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung überwiegt.
25Die Kammer verkennt dabei nicht die sich in der erstinstanzlich erkannten Höhe des Strafmaßes von elf Monaten Gesamtfreiheitsstrafe widerspiegelnden Bedeutung und die Anzahl der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, über geraume Zeit seine herausgehobene beamtenrechtliche Leitungsposition im AVMZ (audiovisuelles Medienzentrum) an der Bergischen Universität Wuppertal missbraucht und hierdurch dem Dienstherrn einen wirtschaftlichen Schaden in nicht unerheblicher Höhe zugefügt zu haben.
26Allerdings liegt der Tatzeitraum inzwischen sehr viele Jahre zurück. Das Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung und einer raschen Durchführung der Hauptverhandlung kann in Anbetracht des Umstandes, dass das erstinstanzliche Urteil von Anfang des Jahres 2007 datiert, ohnehin nicht mehr gewahrt werden. Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat infolge des gegen ihn gerichteten, nunmehr mehrere Jahre andauernden Strafverfahrens seine Leitungsposition verloren und ist in den Ruhestand versetzt worden. Gegen ihn ist ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren eingeleitet und seine Bezüge sind in erheblicher Weise gekürzt worden. Insbesondere ist die in diesem Zusammenhang von der Staatsanwaltschaft geforderte stationäre psychotherapeutischen Therapie mit einem erheblichen und über einen geraumen Zeitraum andauernden freiheitseinschränkenden Eingriff verbunden, ohne dass hierdurch ein nachhaltiger Erfolg im Sinne einer Wiederherstellung oder zumindest eingeschränkten Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten gewährleistet wäre. Der Angeklagte befand sich ausweislich der Arztberichte der Klinik P Therapie GmbH in F in der Zeit vom 24.01. bis 04.03.2011 sowie vom 10.01. bis 01.02.2012 jeweils in stationärer psychotherapeutischer Behandlung (vgl. Bd. IX, Bl. 2188-2197 und Bl. 2227-2232). Die stationären Behandlungen wirkten sich deutlich stabilisierend auf den Angeklagten aus und führten jeweils zu einer Remission seiner depressiven Symptomatik. Dementsprechend hat auch der Sachverständige Dr. med. V in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.04.2012 zu diesem Zeitpunkt festgestellt, dass der Angeklagte (eingeschränkt) verhandlungsfähig sei. Die Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten ist jedoch nicht nachhaltig gewesen. Vielmehr ist ausweislich des weiteren schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. med. V vom 31.12.2012 eine rapide Verschlechterung seiner psychischen Erkrankung eingetreten, nachdem die Berufungshauptverhandlung terminiert worden war und für den Angeklagten die erneute Konfrontation mit den Anklagevorwürfen näher rückte. Vor diesem Hintergrund würde eine weitere stationäre psychotherapeutische Behandlung des Angeklagten in Bezug auf die Wiederherstellung seiner Verhandlungsfähigkeit auch keinen vernünftigen Sinn ergeben, da nach den bisherigen Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass bei dem Angeklagten hierdurch ohne Zweifel eine Stabilisierung seines psychischen Zustandes erreicht wird, dieser positive Effekt aber nur vorübergehender Natur sein wird und durch eine erneute Terminierung der Berufungshauptverhandlung zunichte gemacht werden würde, da durch das Naherücken der Berufungshauptverhandlung und der Konfrontation mit den Tatvorwürfen trotz durchgängiger und täglicher Einnahme des ihm ärztlich verordneten Antidepressivums Trevilor zu einer psychischen Dekompensation mit der Gefahr eines Suizids führen würde. In einem solchen psychischen Zustand ist er jedoch außerstande, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist der Sachverständige Dr. med. V in seinem aktuellen schriftlichen Gutachten vom 16.07.2014 in überzeugender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass mangels Nachhaltigkeit des positiven Effekts der durchgeführten stationären psychotherapeutischen Behandlungen des Angeklagten und des nunmehr seit mehreren Jahren ununterbrochen vorliegenden Krankheitsbildes eine Chronifizierung der psychischen Erkrankung eingetreten ist, die eine künftige Besserung des psychischen Zustandsbildes als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.
27Nach alledem überwiegt im vorliegenden Fall aufgrund einer Einzelfallabwägung der Schutz der - im Falle der Durchführung einer Berufungshauptverhandlung gefährdeten - körperlichen Integrität des Angeklagten gegenüber dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung und einer raschen Durchführung der Hauptverhandlung trotz der Bedeutung und der Vielzahl der gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe.
282.
29Der Arrestbeschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 31.01.2005 (Az. 11 BLs 85 Js 92/03) vom 31.01.2013 ist aufzuheben.
30Bereits aufgrund des Vorliegens einer dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten liegen die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Arrestbeschlusses nicht mehr vor. Dem steht nicht entgegen, dass das das subjektive Verfahren grundsätzlich in ein objektives Verfahren übergehen kann und Maßnahmen nach den §§ 111b ff. StPO auch zulässig sind, wenn die Anordnung des Verfalls lediglich in einem objektiven Verfahren zu erwarten ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 11.04.2007, Az. 2 Ws 41/07, Rz. 26 bei juris). Vorliegend ist jedoch aufgrund der dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eine Anordnung des Verfalls - und somit Maßnahmen nach den §§ 111b ff. StPO nicht möglich. Die Vorschrift des § 76a Abs. 2 StGB ist für den Verfall nicht anwendbar (vgl. Fischer, StGB, 61. Auflage, § 76a Rz. 10). Der Anwendungsbereich des § 76a Abs. 3 StGB ist aufgrund der nicht nur vorübergehenden Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gleichfalls nicht eröffnet, eine selbstständige Verfallsanordnung nach § 76a Abs. 1 StGB ist ebenfalls nicht möglich, da in diesem Falle keine tatsächlichen Gründe, sondern rechtliche Gründe einer Strafverfolgung entgegenstehen (vgl. Fischer, a.a.O., Rz. 6).
313.
32Aufgrund der Aufhebung der Arrestanordnung mangelt es an einer Grundlage für den Antrag der Bergischen Universität Wuppertal, die Zwangsvollstreckung des von ihr erlassenen Leistungsbescheides vom 10.07.2006 in die von dem Land NRW, vertreten von dem Oberstaatsanwalt in Wuppertal, arretierten Vermögensgegenstände für zulässig zu erklären.
334.
34Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO. Aufgrund der auf einer insoweit geständigen Einlassung des Angeklagten beruhenden Schuldfeststellungen durch das Amtsgericht Wuppertal in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung konnte die Kammer von einer Auslagenerstattung absehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, § 467 Rz. 16).
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