Urteil vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (2. Senat) - L 2 AL 18/13

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Stralsund vom 04. März 2013 wird aufgehoben.

In Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 02. Februar 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. März 2010 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld mit einer Anspruchsdauer von 360 Kalendertagen in Höhe von 47,77 € kalendertäglich ab dem 27. Januar 2010 zu bewilligen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist die Dauer des Arbeitslosengeldanspruches der Klägerin und dabei die Frage streitig, in welchen Zeiten die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich ausgeübt hat.

2

Die am 14. August 1952 geborene Klägerin bezog im Zeitraum vom 30. Januar 2006 bis zum 31. Januar 2008 Arbeitslosengeld. Am 01. Februar 2008 nahm sie eine selbständige, hauptberufliche Tätigkeit als Buchhalterin auf und stellte am 06. März 2008 bei der Beklagten einen Antrag auf freiwillige Weiterversicherung. Mit Bescheid vom 25. März 2008 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihrem Antrag entsprochen werde und die freiwillige Weiterversicherung ab dem 01. Februar 2008 beginne. Beiträge zur freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung wurden ab dem 01. Februar 2008 gezahlt.

3

Am 30. Juli 2009 meldete die Klägerin ihren bisherigen Haupterwerb ab dem 30. Juli 2009 zum Nebenerwerb um. Eine Abschrift der Gewerbeummeldung ging bei der Beklagten am 13. August 2009 ein.

4

Mit Schreiben vom 16. April 2008 bestätigte die Beklagte der Klägerin die Entrichtung von Beiträgen für die freiwillige Weiterversicherung für die Zeit vom 01. Februar 2008 bis 31. Dezember 2008 und wies zudem darauf hin, dass für den Fall der Arbeitslosigkeit damit die Versicherungszeiten nachgewiesen werden könnten. Mit weiterem – und im Wesentlichen gleichlautendem - Schreiben vom 02. Dezember 2009 bestätigte die Beklagte die Zahlung von Beiträgen für die Zeit vom 01. Januar 2009 bis 31. Dezember 2009.

5

Die Klägerin meldete sich am 27. Januar 2010 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld.

6

In dem Arbeitslosengeldantrag wurde die Frage „Ich übe eine Nebenbeschäftigung /-tätigkeit als Arbeitnehmerin, Selbständige/r oder mithelfende/r Familienangehörige/r aus oder werde eine solche aufnehmen“ mit „Ja“ beantwortet. Weiter ist angegeben, dass dies seit dem 01. August 2009 als Buchhalterin in selbständigem Nebenerwerb mit einer wöchentlichen Stundenzahl von 10 erfolge.

7

Mit Bescheid vom 02. Februar 2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 27. Januar 2010 für 240 Tage mit einem täglichen Leistungsentgelt in Höhe von 47,77 €.

8

Die Klägerin legte hiergegen am 08. Februar 2010 Widerspruch unter Verweis auf die Anspruchsdauer ein und gab an, die Ummeldung ihrer seit dem 01. Februar 2008 ausgeübten selbständigen Tätigkeit in einen Nebenerwerb sei nur aufgrund ihrer geringen Einnahmen erfolgt und erforderlich gewesen, weil sie den Krankenkassenbeitrag nicht mehr habe zahlen können. Sie habe durchschnittlich 20 bis 25 Stunden wöchentlich gearbeitet. Nach ihrer Kenntnis sei für die freiwillige Arbeitslosenversicherung eine wöchentliche Arbeitszeit von über 15 Stunden erforderlich. Die Voraussetzung habe sie erfüllt. Die Stundenzahl von 10 Stunden wöchentlich im Antrag auf Arbeitslosengeld beziehe sich auf die Zukunft (ab Februar 2010). Mit dem Ablauf des Jahres 2009 habe es weitere Veränderungen bei den Kunden gegeben, so dass für zwei Kunden (monatliche Einnahmen von 450,00 €) die Buchhaltung des Dezembers sowie die Lohnnachweise, Sozialversicherungs- und Berufsgenossenschaftsmeldungen im Januar letztmalig bearbeitet worden seien. Mit dieser Veränderung habe sich ihr wöchentlicher Arbeitsaufwand auf ca. 10 Stunden vermindert.

9

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04. März 2010 als unbegründet zurück. Die für die Anspruchsdauer maßgebliche Rahmenfrist umfasse die Zeit vom 30. Juli 2007 bis 29. Juli 2009. Für die Festsetzung der Anspruchsdauer könne die Zeit der Selbständigkeit vom 01. Februar 2008 bis 29. Juli 2009 (18 Monate) berücksichtigt werden. Damit habe die Klägerin, die bei der Entstehung des Anspruchs am 27. Januar 2010 das 55. Lebensjahr vollendet habe, eine Anspruchsdauer von 8 Monaten erworben. Das entspreche 240 Kalendertagen.

10

Die Klägerin hat am 12. März 2010 Klage vor dem Sozialgericht Stralsund erhoben. Sie hat vorgetragen, aufgrund ihrer geringen Einkünfte im Jahr 2009 habe sie am 30. Juli 2009 ihre Tätigkeit beim Gewerbeamt Nord-Rügen als Nebenerwerb deklariert, um so eine sofortige Minderung des Krankenkassenbeitrags zu bewirken. Unzutreffend sei dieses Datum dann der Berechnung der Anspruchsdauer zugrunde gelegt worden. Sie habe die Anspruchsvoraussetzungen für das Versicherungsverhältnis, nämlich die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden, für den gesamten Zeitraum, also vom 01. Februar 2008 bis zum 26. Januar 2010 erfüllt. Die Versicherungsbeiträge seien auch nachweislich gezahlt worden. Die für die Anspruchsdauer maßgebliche Rahmenfrist sei durch die Beklagte nicht richtig festgestellt worden, da die Zeit vom 30. Juli 2009 bis 26. Januar 2010 nicht berücksichtigt worden sei. Unter Beachtung des nicht anerkannten Beschäftigungsverhältnisses von etwa einem halben Jahr, der daraus resultierenden veränderten Rahmenfrist und einem Restanspruch auf die Zahlung von Arbeitslosengeld von 14 Tagen, ergebe sich ein Anspruch auf Arbeitslosengeld gem. § 127 Abs. 2 SGB III nach 24 Monaten Versicherungspflicht und nach Vollendung des 55. Lebensjahres von insgesamt 12 Monaten.

11

Die Beklagte müsse den Sachverhalt erforschen und dürfe nicht nur am Leistungsantrag kleben. Der Antrag auf Arbeitslosengeld sei im Wesentlichen durch eine Mitarbeiterin der Beklagten ausgefüllt worden. Die Angabe der wöchentlichen Stundenzahl habe sich auf die Zukunft bezogen. In den Monaten August 2009 bis Januar 2010 habe sie zwischen 20 und 26,25 Stunden wöchentlich gearbeitet. Aus dem beigefügten Auszug aus dem Rechnungsausgangsbuch ergebe sich, dass sie in der Zeit vom 01. Juli 2009 bis 31. Dezember 2009 einen Betrag in Höhe von 5.673,33 € und damit fast ebenso viel abgerechnet habe wie im ersten Halbjahr.

12

Hinzu komme, dass die Beklagte noch unter dem 02. Dezember 2009 bestätigt habe, dass die freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung nach § 28a SGB III fortdauere. Das habe die Beklagte nur deshalb gekonnt, weil sie selbst davon ausgegangen sei, dass die Klägerin nach wie vor die Erfordernisse des § 28a SGB III erfülle, zu denen auch gehöre, dass der freiwillig Versicherte mindestens 15 Stunden in der Woche arbeite. Die Beklagte trage die Beweislast dafür, dass die ihr günstige Folge der Verkürzung der Anspruchsdauer der Klägerin tatsächlich gegeben sei.

13

Die Klägerin hat beantragt,

14

den Bescheid vom 02. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04. März 2010 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 02. Februar 2010 zu verpflichten, die Anspruchsdauer auf 360 Kalendertage zu erhöhen und somit einen Leistungsbetrag in Höhe von 47,77 € kalendertäglich zu zahlen.

15

Die Beklagte hat beantragt,

16

die Klage abzuweisen.

17

Zur Begründung hat sie unter Verweis auf den Arbeitslosengeldantrag der Klägerin ausgeführt, die Klägerin habe dort angegeben, seit dem 01. August 2009 eine Nebentätigkeit mit einer wöchentlichen Stundenanzahl von 10 Stunden auszuüben. Das werde auch durch die Gewerbeummeldung bestätigt. Ein Versicherungspflichtverhältnis habe somit seit dem 01. August 2009 nicht mehr bestanden (§ 28 a Abs. 1 Nr. 2 SGB III), da keine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich ausgeübt worden sei. Die Klägerin trage die Beweislast für die Behauptung, 20 bis 25 Stunden wöchentlich erwerbstätig gewesen zu sein.

18

Mit Bescheid vom 20. August 2010 hat die Beklagte der Klägerin mitgeteilt, dass die Voraussetzungen für die freiwillige Versicherung nicht mehr vorlägen, da ab dem 27. Januar 2010 Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung bestünde. Die bewilligende Entscheidung werde deshalb ab dem 27. Januar 2010 nach § 45 Abs. 2 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III zurückgenommen.

19

Mit Schreiben vom gleichen Tage hat die Beklagte die Beitragszahlungen für die Zeit vom 01. Januar 2010 bis 26. Januar 2010 bestätigt und erneut darauf hingewiesen, dass damit für den Fall der Arbeitslosigkeit die Versicherungszeiten nachgewiesen werden könnten. Ein gleichlautendes Schreiben ist erneut am 24. Januar 2011 ergangen.

20

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin ausweislich des Protokolls u.a. erklärt, der Aufwand bei einigen Mandanten sei tatsächlicher höher gewesen als das, was sie abgerechnet habe. Ihr Stundensatz betrage ansonsten 15,00 €. Bei einigen Mandanten rechne sie aber auch einen geringeren oder höheren Stundensatz ab. Im Jahr 2009 habe sie das ganze Jahr über mehr als 20 Wochenstunden gearbeitet. Seit dem 01. August 2009 sei sie bei ihrem Mann in der gesetzlichen Krankenversicherung familienversichert. In dem Arbeitslosengeldantrag sei das Datum „01.08.2009“ von der Beklagtenmitarbeiterin eingetragen worden.

21

Das Sozialgericht Stralsund hat mit Urteil vom 04. März 2013 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nur für die Dauer von 240 Kalendertagen erfüllt.

22

Die Rahmenfrist beginne am 29. Juli 2009 und laufe rückwärts bis zum 30. Juli 2007. In dieser Zeit habe die Klägerin 18 Monate gearbeitet, sodass sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I für die Dauer von 8 Monate erworben habe.

23

Der Berücksichtigung der Zeiten vom 31. Juli 2009 bis 31. Januar 2010 stünden die eigenen Angaben der Klägerin entgegen.

24

Die Kammer gehe davon aus, dass die Klägerin im genannten Zeitraum lediglich 10 Wochenstunden gearbeitet und damit nicht mehr die Voraussetzungen für ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag erfüllt habe.

25

Nach dem Grundsatz der materiellen Beweislast trage die Klägerin die Darlegungs- und Beweislast für die von ihr behauptete Tatsache, bis Januar 2010 15 Wochenstunden gearbeitet zu haben. Dem stünden ihre Angaben im Antrag und die Gewerbeummeldung entgegen. Selbst wenn eine Mitarbeiterin der Beklagten das Datum des Beginns der zeitlich herabgesetzten Tätigkeit eingetragen hätte, so habe die Klägerin die Angaben mit ihrer Unterschrift bestätigt. Der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Frage des zeitlichen Arbeitsumfangs der Tätigkeit der Klägerin im Zeitraum ab 30. Juli 2009 sei abzulehnen, weil die zu ermittelnden Tatsachen keine Beauftragung eines Sachverständigen erforderten. Soweit die Klägerin nunmehr die Rekonstruktion der geleisteten wöchentlichen Arbeitsstunden anbiete, handele es sich lediglich um einen qualifizierten Vortrag eines Beteiligten, der kein Beweismittel darstelle. Im Übrigen erscheine es im Hinblick auf zum Teil vereinbarte Pauschalhonorare kaum nachvollziehbar, die tatsächliche Arbeitszeit zu ermitteln.

26

Gegen das am 08. März 2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 25. März 2013 Berufung eingelegt.

27

Zur Begründung führt sie aus, das Sozialgericht habe zu Unrecht auf die Angaben im Arbeitslosengeldantrag abgestellt. Zum einen sei der Antrag teilweise von der Beklagtenmitarbeiterin ausgefüllt worden, zum anderen seien die Angaben nicht so zu verstehen, dass sie bereits seit dem 01. August 2009 ihre Selbständigkeit nur im Nebenerwerb ausübe. Sie sei davon ausgegangen, dass sich die Angaben zur wöchentlichen Stundenzahl auf die Zeit nach Antragstellung von Arbeitslosengeld bezögen. Die Gewerbeummeldung sei nur erfolgt, damit sie aufgrund ihrer geringen Einkünfte familienversichert hätte sein können. Dafür käme es nur auf das Nettoeinkommen an, nicht jedoch auf die Anzahl der Stunden. Dies sei ihr auch durch die Krankenkasse schriftlich bestätigt worden.

28

Der Umfang der tatsächlichen Tätigkeit der Klägerin könne durch ein Sachverständigengutachten anhand der von ihr eingereichten Übersicht zur selbständigen Tätigkeit und der Übersicht der Ausgangsrechnungengeklärt werden. Aus ihren Angaben ergebe sich, dass sie die wöchentliche Stundenzahl von 15 auch nach dem 01. August 2009 deutlich überschritten habe.

29

Die Klägerin beantragt,

30

das Urteil des Sozialgerichts Stralsund vom 04. März 2013 zum Aktenzeichen S 11 AL 42/10 aufzuheben und nach den erstinstanzlich gestellten Anträgen zu entscheiden.

31

Die Beklagte beantragt,

32

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen und die Revision zuzulassen.

33

Zur Begründung verweist die Beklagte im Wesentlichen auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil und führt ergänzend aus, dass eine Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung nur möglich sei, wenn keine hauptberuflich selbständige Tätigkeit vorliege. Auch wenn eine eindeutige zeitliche Grenze nicht gezogen werden könne, gelte zumindest eine mehr als halbschichtige Tätigkeit regelmäßig als hauptberuflich. Mit der Änderung der Gewerbeummeldung auf eine nebenberufliche Tätigkeit habe die Klägerin dem Umstand der Reduzierung der Tätigkeit auf 10 Wochenstunden Rechnung getragen. Es sei nicht ersichtlich, dass die Angaben im Antragsformular nur aufgrund eines Missverständnisses erfolgt seien.

34

Nachdem die Beteiligten durch den Senat auf das Urteil des BSG vom 04. Dezember 2014, B 5 AL 1/14 R hingewiesen worden sind, führt die Beklagte aus, nur im Zusammenhang mit der Nichtzahlung/ nicht rechtzeitigen Zahlung erhalte der Beitragsnachweis eine verbindliche Regelung, die es der Beklagten verwehre, sich nachträglich auf die Umstände der Beitragsentrichtung zu berufen. Der zuständigen Stelle der Beklagten sei regelmäßig nicht bekannt, ob die Voraussetzungen des § 28a SGB III weiterhin vorlägen. Die Klägerin habe auch nicht erwarten können, dass die Beklagte eine solche weitgehende Regelung habe treffen wollen. Im Zeitpunkt der Erstellung der Beitragsnachweise seien der Beitragssachbearbeitung weder die Arbeitslosmeldung noch der Arbeitslosengeldantrag und die Gewerbeummeldung bekannt gewesen. Der Beitragsnachweis werde nach wie vor verwendet. Weder den fachlichen Weisungen noch der Kommentarliteratur sei eine umfassende konstitutive Feststellungswirkung hinsichtlich der Versicherungsvoraussetzungen zu entnehmen. Ergänzend verweist die Beklagte auf ein Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 25.11.2011, L 3 AL 24/10, mit dem das LSG nur auf den gesetzlichen Beendigungstatbestand abgestellt hatte.

35

Die Revision sei hier zuzulassen, da höchstrichterlich nicht geklärt sei, ob es sich im Fall des Beendigungstatbestandes des § 28a Abs. 2 S.2 Nr. 2 SGB III a.F. um einen versicherungspflichtige Zeiten feststellenden Verwaltungsakt handele, auch wenn der Beitragsnachweis keine eine solche Regelungsabsicht zum Ausdruck bringende Rechtsbehelfsbelehrung enthalte.

36

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

37

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

38

Der Bescheid der Beklagten vom 02. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. März 2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld nur für 240 Kalendertage und nicht für 360 Kalendertage bewilligt hat.

39

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer von 360 Kalendertagen.

40

Die Voraussetzungen des Arbeitslosengeldanspruches nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB III idF. vom 20. April 2007 liegen unstreitig seit dem 27. Februar 2010 vor.

41

Die Dauer des Arbeitslosengeldanspruches richtet sich gemäß § 127 Abs.1 S.1 SGB III (in der hier geltenden Fassung vom 15.07.2009-a.F.) nach der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um drei Jahre erweiterten Rahmenfrist und ggf. dem Lebensalter des Arbeitslosen bei der Entstehung des Anspruchs. Nach § 127 Abs.2 SGB III a.F. beträgt der Anspruch auf Arbeitslosengeld nach Versicherungspflichtverhältnissen

42

mit einer Dauer von insgesamt mindestens 16 Monaten 8 Monate,

43

mit einer Dauer von insgesamt mindestens 20 Monaten 10 Monate

44

mit einer Dauer von insgesamt mindestens 24 Monaten 12 Monate.

45

Nach § 127 Abs. 4 SGB III a.F. verlängert sich die Dauer des Anspruchs um die Restdauer des wegen Entstehung eines neuen Anspruchs erloschenen Anspruchs, wenn nach der Entstehung des erloschenen Anspruchs noch nicht fünf Jahre verstrichen sind; sie verlängert sich längstens bis zu der dem Lebensalter des Arbeitslosen zugeordneten Höchstdauer.

46

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts umfasst die um drei Jahre erweiterte Rahmenfrist des § 127 Abs.1 S.1 Nr.1 SGB III a.F. nicht die Zeit vom 29. Juli 2009 bis zum 30. Juli 2007, sondern die Zeit vom 26. Januar 2010 bis zum 30. Januar 2006.

47

Nach § 124 Abs.1 SGB III in der Fassung vom 17. Dezember 2003 beträgt die Rahmenfrist zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld.

48

Die Rahmenfrist begann nicht bereits am 29. Juli 2009, sondern am 26. Januar 2010, da erst am 27. Februar 2010 die Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (Arbeitslosigkeit und Arbeitslosmeldung) vorlagen. Denn ausweislich des Arbeitslosengeldantrages erfolgte die Arbeitslosmeldung an diesem Tag. Die Rahmenfrist beträgt auch nicht lediglich zwei Jahre, sondern wird nach § 127 Abs.1 S.1 Nr.1 SGB III a.F. um drei Jahre erweitert. Vorliegend endet die fünfjährige Rahmenfrist jedoch bereits am 30.01.2006, da zu diesem Zeitpunkt die vorherige Rahmenfrist geendet hat. Denn nach

49

§ 127 Abs. 1 S.2 SGB III a.F. i.V.m. § 124 Abs.2 SGB III a.F. reicht die Rahmenfrist nicht in eine vorangegangene Rahmenfrist hinein, in der der Arbeitslose eine Anwartschaftszeit erfüllt hat.

50

Innerhalb der vorgenannten Rahmenfrist war das Bestehen eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag nach § 28a SGB III mit einer Dauer von 24 Monaten zu berücksichtigen, nämlich für die Zeit vom 01. Februar 2008 bis 26. Januar 2010. Dies sind 725 Tage, die nach § 339 SGB III 24 Monaten entsprechen.

51

Nach § 28a Abs.1 SGB III idF vom 28. Mai 2008 können Personen ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag begründen, die

52

1. als Pflegeperson einen der Pflegestufe I bis III im Sinne des Elften Buches zugeordneten Angehörigen, der Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Buch oder Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch oder gleichartige Leistungen nach anderen Vorschriften bezieht, wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegen,

53

2. eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnehmen und ausüben oder

54

3. eine Beschäftigung in einem Staat, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nicht anzuwenden ist, aufnehmen und ausüben.

55

Das Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag begann unstreitig am 01. Februar 2008, denn an diesem Tag nahm die Klägerin eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich auf und hatte unmittelbar vor der Aufnahme auch Anspruch auf Arbeitslosengeld. Auch die übrigen Voraussetzungen lagen unstreitig vor. Mit Bescheid vom 25. März 2008 bestätigte die Beklagte der Klägerin dementsprechend den Beginn der freiwilligen Weiterversicherung ab dem 01. Februar 2008.

56

Vorliegend kann dahinstehen, ob die Klägerin bereits am 01. August 2009 wöchentlich weniger als 15 Stunden selbständig tätig gewesen ist und damit das Versicherungspflichtverhältnis kraft Gesetztes bereits – wie die Beklagte meint - Ende Juli 2009 endete. Zwar endete nach § 28a Abs. 2 Nr. 2 SGB III a.F. das Versicherungsverhältnis auf Antrag mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen nach Absatz 1 letztmalig erfüllt waren.

57

Die Beklagte hat vorliegend jedoch bereits gemäß § 77 SGG verbindlich durch Verwaltungsakt festgestellt, dass in der Zeit vom 01. Februar 2008 bis 26. Januar 2010 ein Versicherungspflichtverhältnis der Klägerin bestand.

58

Denn sie hat der Klägerin mit Schreiben vom 16. April 2008, 02. Dezember 2009, 20. August 2010 und 24. Januar 2011 - Betreffzeile: "Freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung nach § 28a Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III)" - bescheinigt, dass und in welcher Höhe sie in der Zeit vom 01.02.2008 bis 26.01.2010 Beiträge für die freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung entrichtet hat und dass sie mit diesen Schreiben im Fall der Arbeitslosigkeit die Versicherungszeiten nachweisen kann.

59

Für die Auslegung dieser Schreiben ist maßgebend, wie der Empfänger sie ihrem objektiven Sinngehalt nach verstehen durfte. Auszugehen ist dabei vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde erkennbar in die Entscheidung einbezogen hat (BSG, Urteil vom 04. Dezember 2014 – B 5 AL 2/14 R –, SozR 4-4300 § 28a Nr 10, Rn. 24).

60

Die oben genannten Mitteilungen der Beklagten, die mit dem ausdrücklichen Hinweis verbunden waren, dass das jeweilige Schreiben als Nachweis für zurückgelegte Versicherungszeiten diene, konnte die Klägerin vorliegend auch von einem objektivierten Empfängerhorizont aus nur dahin verstehen, dass die Beklagte im Sinne einer Beweissicherung die Entrichtung von Beiträgen in bestimmter Höhe und zudem das Bestehen einer Versicherungspflicht nach § 28a SGB III für die Monate Februar 2008 bis zum 26. Januar 2010 verbindlich festgestellt hat. Der Senat schließt sich der entsprechenden Rechtsprechung des 5. Senates des BSG (Urteil vom 04. Dezember 2014 – B 5 AL 2/14 R -juris) an. Überzeugend hat das BSG mit vorgenannten Urteil zu einem gleichlautenden Schreiben begründet, dass es sich bei diesem um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 S.1 SGB X handelt, mit dem die Entrichtung von Beiträgen in einer bestimmten Höhe und das Bestehen eines Versicherungspflichtverhältnisses gemäß § 28a SGB III für den angegebenen Zeitraum festgestellt wird. Eine Einschränkung auf bestimmte Beendigungstatbestände vermag der Senat dem Urteil des BSG insbesondere auch deshalb nicht zu entnehmen, weil das BSG ausdrücklich entschieden hat, dass mit der streitgegenständlichen Mitteilung nicht nur die Entrichtung von Beiträgen in einem bestimmten Zeitraum, sondern auch das Bestehen einer Versicherungspflicht verbindlich festgestellt wird. Die hier streitgegenständlichen Schreiben bestätigen, anders als Begrüßungsschreiben der Krankenkassen und Mitgliedsbescheinigungen nach § 175 SGB V, die regelmäßig keine Erklärung zum versicherungsrechtlichen Status enthalten und demnach keinen Verwaltungsakt mit einer Regelung zur Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung darstellen, ausdrücklich auch das Bestehen von Versicherungszeiten (BSG aaO).

61

Im vorliegenden Verfahren durfte die Klägerin die Schreiben der Beklagten so verstehen, dass das Bestehen von Versicherungspflicht nach § 28a SGB III für den Zeitraum 01. Februar 2008 bis 26. Januar 2010 damit verbindlich festgestellt wird. Der Beklagten war – entgegen ihrer Behauptung - schon seit August 2009 und damit vor Erstellen der Bescheide vom 02. Dezember 2009, 20. August 2010 und 24. Oktober 2011 bekannt, dass die Klägerin ihr Gewerbe in einen Nebenerwerb umgemeldet hatte. Ab dem 29. Januar 2010 – und damit wiederum vor Erlass der Bescheide vom 20. August und 24. Oktober 2011 - hatte die Beklagte auch Kenntnis von der Arbeitslosigkeit der Klägerin und ihrem Arbeitslosengeldantrag. Die Klägerin konnte daher davon ausgehen, dass diese Umstände bei Bescheiderlass berücksichtigt worden waren. Dies gilt umso mehr, da die Beklagte mit Bescheid vom 20. August 2010 ihre Entscheidung über das Bestehen einer Versicherungspflicht nach § 28a SGB III vom 19. März 2008 (erst) ab dem 27. Januar 2010 zurückgenommen hat und mit Schreiben vom selben Tag die Versicherungszeiten bis zu diesem Zeitpunkt bestätigt hat.

62

Die hiergegen vorgebrachten Argumente der Beklagten verfangen nicht. Insbesondere ist unerheblich, ob die zuständige Stelle der Beklagten sämtliche Voraussetzungen des

63

§ 28a SGB III geprüft hat oder und ob dieser die oben genannten Umstände bekannt waren. Denn den Antragstellern sind die internen Aufgabenverteilungen innerhalb der Beklagten regelmäßig nicht geläufig. Diese dürfen regelmäßig davon ausgehen, dass alle maßgeblichen Informationen an die zuständigen Mitarbeiter weitergeleitet werden und von diesen geprüft werden.

64

Der Qualifizierung der vorgenannten Schreiben als Verwaltungsakt steht auch nicht entgegen, dass diese keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten. Vielmehr ist von einem Verwaltungsakt auch dann auszugehen, wenn dieser z.B. in der Höflichkeitsform eines normalen Briefes abgefasst wurde, solange die kennzeichnenden Merkmale eines Verwaltungsakts vorliegen, dieser insbesondere hinreichend bestimmt in seinem Anliegen ist und der rechtliche Bindungswille deutlich in Erscheinung tritt (Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 31 SGB X (Stand: 27.11.2018), Rn. 26). Dies ist vorliegend der Fall, denn schon der Hinweis, dass mit dem Schreiben Versicherungszeiten nachgewiesen werden können, verdeutlicht den Bindungswillen der Beklagten. Die fehlende Rechtsbehelfsbelehrung führt lediglich dazu, dass die Rechtsbehelfsfrist nicht zu laufen beginnt.

65

Die hier maßgeblichen Bescheide vom 02. Dezember 2009, 20. August 2010 und 24. Januar 2011 sind für den Zeitraum vom 01. Februar 2008 bis 27. Januar 2010 weder ausdrücklich noch konkludent aufgehoben worden und haben sich auch nicht auf andere Weise erledigt. Vielmehr sind sie nach § 39 Abs. 2 SGB X wirksam geblieben.

66

Eine Aufhebung ist insbesondere nicht in der Bewilligung des Arbeitslosengeldes für 240 Tage zu sehen. Auch wenn die Beklagte bei der Berechnung der Dauer des Arbeitslosengeldes geringere Versicherungszeiten zugrunde gelegt hat, hat sie damit ihre vorangegangene Entscheidung nicht aufgehoben. Erst mit Bescheid vom 20. August 2010 erfolgte eine Aufhebung der vorherigen Entscheidung über die Versicherungspflicht nach § 28a SGB III a.F. Diese Aufhebung bezog sich ausweislich des eindeutigen Wortlautes des Bescheides jedoch auf die Zeit ab dem 27. Januar 2010.

67

Für die Zeit vor dem 27. Januar 2010 hat die Beklagte das Bestehen von Versicherungszeiten bestandskräftig festgestellt und zwar unabhängig davon, ob die Feststellung rechtmäßig oder rechtswidrig war. Eine Nichtigkeit der Verwaltungsakte nach § 40 Abs.1 SGB X ist nicht gegeben. Selbst wenn die Bescheide vom 02. Dezember 2009, 20. August 2010 und 24. Januar 2011 § 28a SGB III verletzen sollten, läge kein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne von § 40 Abs.1 SGB X vor. Eine "einfache" Gesetzesverletzung wie die hier mögliche steht den in § 40 Abs 2 SGB X aufgeführten, eine Nichtigkeit begründenden Fehlern nicht gleich (vgl BSG, Urteil vom 04. Dezember 2014 – B 5 AL 2/14 R).

68

Aufgrund der bestandskräftigen Feststellung von Versicherungszeiten in dem Zeitraum vom 01. Februar 2008 bis 27. Januar 2010, die eine Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldanspruchs von 360 Kalendertagen begründet, kann dahinstehen, ab welchem Zeitraum die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit weniger als 15 Stunden wöchentlich ausgeübt hat.

69

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

70

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), bestehen nicht. Die hier streitige Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Mitteilungen der Beklagten über Beitragszahlungen und Versicherungszeiten als Verwaltungsakt zu qualifizieren sind, ist durch die angeführte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bereits geklärt.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen