Beschluss vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (9. Senat) - L 9 AY 27/20 B ER

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Stralsund vom 10. November 2020 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 2. November 2020 Leistungen nach den §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (BS 1) zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten bewilligt.

Gründe

I.

1

Der 1993 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 10. August 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Aufgrund eines am 11. August 2020 gestellten Asylantrages befindet er sich im laufenden Asylverfahren und verfügt derzeit über eine Aufenthaltsgestattung.

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Ab dem 8. Oktober 2020 wurde der Antragsteller dem Landkreis des Antragsgegners zugewiesen. Ab diesem Tage ist der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht.

3

Mit Bescheid vom 12. Oktober 2020 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz ab dem 9. Oktober 2020 bis auf weiteres und zwar anteilig für den Monat Oktober 2020 in Höhe von 131,32 € und ab dem Monat November 2020 monatlich 316,- € (Bedarfsstufe – BS – 2).

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Hiergegen legte der Antragsteller am 27. Oktober 2020 Widerspruch ein. Er habe ab November 2020 einen Anspruch auf Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Bedarfsstufe 1. Die „Zwangsverpartnerung“ seiner Person mit den anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft sei verfassungswidrig. Er wirtschafte nicht gemeinsam mit den anderen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkunft.

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Am 2. November 2020 hat der Antragsteller einen Eilantrag beim Sozialgericht (SG) Stralsund gestellt. Er habe Anspruch auf Leistungen in Höhe von monatlich 351,- €. Die Regelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz sei verfassungswidrig. Sie verletze das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber habe den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung getragen. Er habe keinerlei Ermittlungen hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten gemäß § 3a Abs. 2 Asylbewerberleistungsgesetz angestellt. Der Bedarf von Leistungsberechtigten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz weiche nicht signifikant von dem Bedarf alleinstehender erwachsener Leistungsberechtigter ab. Der Gesetzgeber begnüge sich davon auszugehen, dass eine Gemeinschaftsunterbringung für die Bewohner solcher Unterkünfte Einspareffekte zur Folge habe, die denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar seien. Personen einer Gemeinschaftsunterkunft hätten keine gleichlautenden Einspareffekte. Die gesetzgeberische Begründung dürfte eher in den finanziellen Auswirkungen des Gesetzes zu finden sein. Auch sei unklar, welche Leistungen die anderen Mitbewohner des Antragstellers bezögen. Es sei der Entscheidung des LSG Mecklenburg – Vorpommern vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER - zu folgen.

6

Der Antragsteller hat beantragt,

7

den Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab dem 2. November 2020 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz nach der Bedarfsstufe 1 zu gewähren.

8

Der Antragsgegner hat beantragt,

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den Antrag abzuweisen.

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Der Antragsteller habe bedarfsdeckende Leistungen nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit 3a Abs. 1 Nr. 2b und 3 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit 3a Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz (BS 2) erhalten und habe keinen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen nach der Bedarfsstufe 1. Der Antragsgegner sei an Gesetz und Recht gebunden. Er hat eine Stellungnahme des Ministeriums für Inneres und Europa zum Beschluss des Senats vom 11. Mai 2020 zur Akte gereicht. Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers sei daher nicht gegeben. Auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sei zu verneinen. Dem Antragsteller sei ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache zumutbar. Dessen Existenz sei durch die gewährten Leistungen nicht gefährdet.

11

Mit Beschluss vom 10. November 2020 hat das SG dem Antragsteller Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit weiterem Beschluss vom 10. November 2020 hat das SG Stralsund den Eilantrag abgelehnt. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO lägen nicht vor, da es an dem erforderlichen Anordnungsanspruch fehle. Entgegen den Ausführungen des LSG Mecklenburg–Vorpommern (Beschluss vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER) sehe sich die Kammer nicht ermächtigt, als weitergehendes ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 3a Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz eine tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorauszusetzen. Es werde vielmehr den Ausführungen in dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 9. Juli 2020 (L 8 AY 52/20 B ER) gefolgt. Wegen des Wortlautes der gesetzlichen Regelungen und dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, für Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften ein eigenständiges Leistungsniveau einzuführen, habe sich das LSG Niedersachsen–Bremen jedenfalls im gerichtlichen Eilverfahren an einer Auslegung gehindert gesehen, nach der die Bedarfsstufe 2 gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen voraussetze. Das LSG Niedersachsen–Bremen habe sich wegen der Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht gehindert gesehen, in einem gerichtlichen Eilverfahren unter Außerachtlassung der gesetzlichen Vorschriften die vorläufige Gewährung höherer Leistungen zuzusprechen. Die Konkretisierung des Grundrechts auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sei dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten. Dem Antragsteller sei ein Zuwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Anordnungsanspruch und -grund zumutbar, auch wenn die Differenz der streitigen Leistung in der Situation Bedürftiger einen nicht unerheblichen Betrag von 10 % der (Regel–) Bedarfsstufe 1 ausmache (im Jahr 2020 belaufe sich die Differenz auf 35,- € pro Monat).

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Da die Kammer den Ausführungen im Beschluss des LSG Niedersachsen–Bremen folge, habe der Eilantrag abgewiesen werden müssen.

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Der Antragsteller hat am 12. November 2020 Beschwerde eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt. Er habe einen Anspruch auf Leistungen in Höhe von 351,- € monatlich. Insoweit werde auf den Beschluss des LSG Mecklenburg–Vorpommern vom 11. Mai 2020 verwiesen. Die Eilbedürftigkeit ergebe sich aus der grundrechtsrelevanten Kürzung der Leistungen zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums.

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Der Antragsteller beantragt,

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den Beschluss des Sozialgerichts Stralsund aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 100 % des Regelsatzes ab dem 2. November 2020 zu gewähren.

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Der Antragsgegner beantragt,

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die Beschwerde zurückzuweisen.

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Der Antragsgegner nimmt auch auf sein bisheriges Vorbringen Bezug. Entgegen der Ausführungen der vom Antragsteller angeführten Entscheidung des LSG Mecklenburg–Vorpommern vom 11. Mai 2020 (L 9 AY 22/19 B ER) könne ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 3a Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz nicht angenommen werden.

II.

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Die zulässige Beschwerde ist begründet.

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Die Beschwerde ist nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen, weil in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. In der Hauptsache wäre die Berufung zulässig (§ 144 Abs. 1 SGG). Zwar ist nur die Differenz der Leistungen in Höhe von monatlich 35,- € ab November 2020 streitig. Der Antragsgegner hat jedoch mit seinem Bescheid vom 12. Oktober 2020 einen Dauerverwaltungsakt auf unbestimmte Zeit erlassen und die Leistungsdauer nicht begrenzt (vergl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

21

Die Beschwerde hat Erfolg, weil das SG Stralsund den Eilantrag des Antragstellers zu Unrecht abgewiesen hat. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer undifferenzierten Anwendung der in § 3a Asylbewerberleistungsgesetz geregelten neuen Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte bestehen, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften und vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind. Eine verfassungskonforme Auslegung dieser Norm gebietet es daher, dass als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten vorauszusetzen ist, wofür die objektive Beweislast (im Eilverfahren die Darlegungslast) beim Leistungsträger (hier: dem Antragsgegner) liegt (vergl. Beschlüsse des Senats vom 11. Mai 2020 – L 9 AY 22/19 B ER – und vom 23. Juli 2020 – L 9 AY 3/20 B ER –).

22

Für ein gemeinsames Wirtschaften des Antragstellers mit anderen in der Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Personen hat der Antragsgegner nichts vorgetragen und ist auch nach Aktenlage nichts ersichtlich.

23

Der Hinweis des Sozialgerichts auf den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 9. Juli 2020 – L 8 AY 52/20 B ER – veranlasst den Senat nicht, von seiner bisherigen Rechtsprechung – jedenfalls in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – abzuweichen, zumal auch das LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Beschluss Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Normen deutlich macht. So heißt es unter Rn. 31 (zitiert nach juris): „Ob der Gesetzgeber bei der Bemessung der lebensunterhaltssichernden Geldleistungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b Asylbewerberleistungsgesetz die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) richtig erfasst und auch im Übrigen die Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an ein inhaltlich transparentes und sachgerechtes Verfahren folgerichtig ausgerichtet nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht, beachtet hat, ist [...] in besonderer Weise zweifelhaft.“

24

Der Senat hält im Hinblick auf die Rechtsfolge der von ihm geteilten Zweifel an seiner Auffassung fest, dass die Bedarfsstufe 2 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzt. Die Auslegung der einschlägigen Vorschriften durch den Senat überschreitet auch nicht die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung. Zu den anerkannten Auslegungsmethoden gehört neben der Auslegung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck der Gesetzesregelung auch eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung. Zwar findet diese in der Tat ihre Grenze dort, wo sie mit Wortlaut und klar erkennbarem Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde. Wenn allerdings von mehreren möglichen Deutungen eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist diese geboten. Dabei gehört auch eine sog. teleologische Reduktion von Vorschriften entgegen ihrem Wortlaut zu den anerkannten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsgrundsätzen (vergl. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 35, 263, 279 f.; 88, 14, 166 f.). Der Senat hat in seinen Entscheidungen dargelegt, dass er die Vorschrift im Sinne einer teleologischen Reduktion für auslegungsfähig hält und damit die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Da damit ein verfassungswidriges Ergebnis vermeidbar ist, ist diese Auslegung geboten und führt auch dazu, dass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermieden werden kann (vergl. BVerfGE 86, 71, 77). Die Prüfung möglicher verfassungskonformer Auslegung und Vermeidung von Vorlagen des Bundesverfassungsgerichts ist gerade primäre Aufgabe der Instanzgerichte. Dieser Verantwortung gilt es auch in einem Eilverfahren gerecht zu werden und nicht erst in einem Hauptsacheverfahren, da ansonsten kein effektiver vorläufiger Rechtsschutz garantiert ist. Der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch fordert vom Richter, den Rechtsstreit so zu behandeln, dass eine Verzögerung durch Anrufen des Bundesverfassungsgerichts nach Möglichkeit vermieden wird (vergl. BVerfGE 78,165, 178).

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Der Senat ist auch weiterhin der Auffassung, dass auch vorliegend ein Anordnungsgrund besteht. Die Bejahung des Anordnungsgrundes beruht auf der Erwägung, dass die Anforderungen an den Anordnungsgrund bei dieser existenzsichernden Leistung auf allerniedrigstem Niveau der denkbaren Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland nicht übertrieben hoch angesetzt werden dürfen. Die Anforderungen an den Anordnungsgrund sind hier gering zu bemessen, da der Senat den Anordnungsanspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als gegeben ansieht. Der Senat teilt nicht die vom SG und dem Antragsgegner vertretene Rechtsauffassung, der Unterhalt sei durch die niedrigeren laufenden Leistungen gesichert und einem Hauptsacheverfahren dürfe nicht vorgegriffen werden. Dies würde angesichts der üblichen sozialgerichtlichen Verfahrenslaufzeiten eine Verweigerung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes bedeuten. Die hier streitige monatliche Differenz von 35,- €, die mehr als 10 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, genügt jedenfalls, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen.

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Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich vorliegend um ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren handelt, hat die abschließende Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Vorschriften dem Hauptsacheverfahren vorbehalten zu bleiben.

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Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen, da sein Antrag aus den vorstehenden Gründen Erfolg hat und die wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sind (vergl. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Abs.1 Satz 1 ZPO).

28

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

29

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

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