Urteil vom Landessozialgericht NRW - L 10 P 41/99
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 15.02.1999 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtliche Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
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Tatbestand:
2Streitig ist die Zahlung von Pflegegeld und Aufwendungsersatz für die Zeit vom 01.11.1997 bis 13.06.2000 in Höhe von 30 v.H. der Vertragsleistung.
3Die Klägerin (geboren 26.05.1917) ist bei der Beklagten auf der Grundlage der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die private Pflegeversicherung (Teil I und II, Stand 2.97) pflegepflichtversichert. Sie leidet im Wesentlichen an degenerativen Veränderungen des gesamten Stütz- und Bewegungsapparates, Fettleibigkeit, an einer chronischen Schwindelneigung auf Grund zentraler Durchblutungsstörungen sowie an Herzschwäche mit belastungsabhängiger Luftnot und Blasenschwäche mit tropfweisem Urinabgang.
4Am 19.11.1997 stellte sie einen Antrag auf Pflegegeld. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Facharzt für Innere Medizin A ... Die ser bejahte einen Hilfebedarf beim Waschen, beim An- und Auskleiden sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Gutachten vom 02.01.1998). Zum zeitlichen Umfang der jeweiligen Hilfestellungen enthält das Gutachten keinerlei Angaben. Die Voraussetzungen für die Pflegestufe I verneinte der Gutachter. Nachdem sich die Klägerin gegen die Leistungsablehnung wandte, beauftragte die Beklagte die M ...-GmbH mit der Erstellung eines Obergutachtens. Der Arzt für Allgemeinmedizin/Betriebsmedizin Dr. J ... nahm einen täglichen grundpflegerischen Hilfebedarf von 23 Minuten an (Gutachten vom 03.06.1998). Die Beklagte lehnte die Zahlung von Pflegegeld ab.
5Mit der hiergegen - fristgerecht - gerichteten Klage hat die Klägerin vor getragen, der durchschnittliche tägliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege betrage 75 Minuten. Die von der Beklagten eingeholten Gutachten seien unzutreffend. Eine Untersuchung habe nicht stattgefunden. Die Gutachter hätten lediglich Fragen gestellt und anschließend die Antworten falsch ausgelegt. Zum Beispiel sei nicht erkannt worden, dass vor der Haustür acht Stufen zu überwinden seien. Seit dem 16.03.1998 erbringe das Deutsche Rote Kreuz auf Grund eines Pflegevertrags ambulante Pflegemaßnahmen. Die Kosten würden von der Stadt B ... übernommen. Daraus folge, dass ein erheblicher Umfang an Pflege notwendig sei.
6Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
7die Beklagte zur Zahlung von Pflegegeld der Stufe I für die Zeit vom 01.11.1997 bis zum 15.03.1998 sowie zur Erstattung der Aufwendungen für häusliche Pflegehilfe nach der Stufe I ab dem 16.03.1998 zu verurteilen.
8Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für Leistungen nach der Stufe I lägen nicht vor. Hierzu hat sie sich die von ihr eingeholten Gutachten der Ärzte A ... und J ... bezogen.
11Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben und hierzu ein Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin S ... eingeholt. Der Sachverständige hat für den Zeitpunkt der Begutachtung (17.10.1998) als Hilfebedarf für grundpflegerische Verrichtungen 73 Minuten/tägl. angenommen, nämlich Körperpflege ca. 45 Minuten, Ernährung 7 Minuten, und Mobilität ca. 21 Minuten. Den Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung hat er mit ca. 60 Minuten beziffert. Der Pflegebedarf habe sich infolge der progredient-chronischen Gesundheitsstörungen seit dem 24.09.1997 erhöht. Ein exakter Zeitpunkt sei nicht bestimmbar. Seinerzeit habe kein Hilfebedarf beim Aufstehen, Gehen, Stehen und nur ein fallweiser Hilfebedarf beim Kämmen, Zähneputzen und der Nahrungszubereitung bestanden. Der durchschnittliche Grundpflegeanteil habe seinerzeit ca. 56 Minuten und der Hilfebedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung unverändert ca. 60 Minuten betragen.
12Das SG hat die Beteiligten angehört. Durch Gerichtsbescheid vom 15.02.1999 hat es die Beklagte sodann verurteilt, der Klägerin Pflegegeld nach Stufe I für die Zeit vom 01.11.1997 bis zum 15.03.1998 zu zahlen und ab dem 16.03.1998 Aufwendungen für häusliche Pflegehilfe nach der Stufe I zu erstatten. Die Klägerin benötige durchschnittlich ca. 73 Minuten Hilfe im Bereich der Grundpflege. Zum Zeitpunkt der Antragstellung habe sich der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auf ca. 56 Minuten belaufen. Die von der Beklagten gegen das Gutachten des Sachverständigen S ... erhobenen Einwendungen seien unsubstantiiert. Das treffe insbesondere auf die monierten Zeitwerte für das Waschen zu. Die vom Sachverständigen angenommenen Zeitwerte würden an der untersten Grenze bzw. sogar erheblich unterhalb der in den Richtlinien festgelegten Zeitwerte liegen. Der Sachverständige habe insoweit berücksichtigt, dass die Klägerin sich teilweise noch selbstständig waschen könne. Mit einem Körpergewicht von über 80 kg sowie einer sehr eingeschränkten Beweglichkeit fast aller Gelenke, Schwindel und erheblicher Luftnot seien Erschwernisfaktoren zu berücksichtigen. Der vom Sachverständigen festgestellte Hilfebedarf beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung sei auf Grund der Gefühlsstörungen im Bereich der Hände ohne weiteres nachvollziehbar. Dies gelte ebenfalls für den zeitlichen Umfang der Hilfe beim An- und Auskleiden, der den in den Richtlinien niedergelegten Zeitkorridoren mit zehn Minuten für das Ankleiden und sechs Minuten für das Entkleiden entspreche, wobei wiederum die genannten Erschwernisfaktoren zu berücksichtigen seien. Wartezeiten seien nicht einbezogen. Der Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe I bestehe seit Antragstellung.
13Die Beklagte greift diese Entscheidung mit der Berufung an. Der Gerichtsbescheid enthalte keine betragsmäßig festgesetzte Leistungsverpflichtung, vielmehr die allgemeine Verurteilung zu einer unbezifferten Zahlung im Sinn einer reinen Feststellung. Ein solches Feststellungsurteil sei unzulässig. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 SGG seien nicht gegeben. Eine Auslegung des Tenors in eine Verpflichtung gem. § 54 Abs. 1 SGG komme nicht in Betracht. Als Aktiengesellschaft könne sie keine Verwaltungsakte setzen. Auch als echter Leistungsausspruch könne der Tenor nicht verstanden werden; dem müsse ein individueller Anspruch auf Vollzug einer sozialrechtlichen Norm zugrunde liegen. Darum gehe es hier nicht. Schon deswegen sei der Gerichtsbescheid aufzuheben. Die Begutachtungsrichtlinien würden private Pflegepflichtversicherer nicht binden. Das SG habe nicht beachtet, dass sich der Zustand der Klägerin verschlechtert habe. Aus diesem Grunde habe sie - die Beklagte - im Januar 1999 durch eine neue ärztliche Begutachtung überprüfen wollen, ob nunmehr die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit vorliegen. Der Betreuer der Klägerin habe die Durchführung der hierfür notwendigen Begutachtung abgelehnt. Damit sei jeglicher Leistungsanspruch entfallen, weil die Klägerin ihren vertraglichen Obliegenheiten nicht nachgekommen sei. Im Übrigen sei der Gerichtsbescheid fehlerhaft, weil die Beklagte zur vollen Zahlung des Pflegegeldes bzw. Erstattung der Aufwendungen verurteilt worden sei, obgleich sie allenfalls verpflichtet werden könne, den anteiligen Betrag von 30 v.H. zu zahlen.
14Die Beklagte beantragt,
15den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 15.02.1999 abzuändern und die Klage abzuweisen.
16Die Klägerin beantragt,
17die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
18In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat sie die Klageforderung auf 30 v.H. der Vertragsleistungen begrenzt. Im Übrigen sieht sie die angefochtene Entscheidung als zutreffend an.
19Losgelöst vom Streitverfahren hat die Beklagte eine weitere Begutachtung der Klägerin durchführen lassen. Die Ärztin v ... O ... (M ...) hat im Gutachten vom 14.06.2000 dargelegt, der Allgemeinzustand der Klägerin habe sich ab Dezember 1999 so stark verschlechtert, dass seither die Voraussetzungen für die Pflegestufe I vorliegen. Die Beklagte erbringt seit dem Begutachtungstermin (14.06.2000) die vertraglichen Leistungen nach Pflegestufe I; für den vorgängigen Zeitraum (ab Dezember 1999) hat sie dies abgelehnt, weil die Klägerin sich zunächst geweigert habe, sich untersuchen zu lassen.
20Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens vom Dipl. Krankenpfleger H ..., Pflegedirektor des Kreiskrankenhauses L ... Dieser ist in seinem Gutachten vom 08.12.2000 nebst ergänzender Stellungnahme vom 26.03.2001 zum Ergebnis gelangt, dass sich der Aufwand für die Grundpflege auf 78 Minuten/tägl. und für die hauswirtschaftliche Versorgung auf 106 Minuten/tägl. beläuft. Angesichts des progredienten Krankheitsverlaufs habe sich der Hilfebedarf von 56 Min/tägl. im Zeitpunkt der Antragstellung auf 73 Min/tägl. am 17.10.1998 und schließlich 78 Min./tägl. im Zeitpunkt seines Hausbesuchs am 11.11.2000 erhöht. In der Anhörung vor dem Senat in der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2001 hat der Sachverständige diese Einschätzung nochmals erläutert.
21Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der Gerichtsakte, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
22Entscheidungsgründe:
23Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
241. Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich bei der erstinstanzlichen Entscheidung nicht um ein - unzulässiges - Feststellungsurteil. Der Gerichtsbescheid enthält zwar keine betragsmäßig festgesetzte Leistungsverpflichtung, sondern nur die allgemeine Verurteilung zu einer unbezifferten Zahlung. Dies ist indes nicht im Sinn einer reinen Feststellung zu verstehen. Der Antrag der Klägerin vor dem SG war auf die Zahlung von Pflegegeld nach Stufe I gerichtet. Entsprechend hat das SG ausgeurteilt. Dass es sich dabei nicht um eine Verpflichtungsurteil im Sinn des § 54 Abs. 1 SGG handelt, liegt auf der Hand. Das SG hat ein echtes Leistungsurteil (§ 54 Abs. 5 SGG) erlassen. Denn der Beklagten ist hierdurch auferlegt worden, Leistungen nach Pflegestufe I zu zahlen. Der Leistungsumfang ist angesichts der Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) für die private Pflegepflichtversicherung 2.97 Teil II Ziffer 2a Teil II - Tarif PV (2.97) mit 400 DM/monatlich unschwer bestimmbar. Hinsichtlich des Aufwendungsersatzanspruchs gilt nichts anderes. Auch insoweit hat das SG die Beklagte verurteilt, die Aufwendungen der Klägerin für häusliche Pflegehilfe nach Stufe I zu erstatten. Dieser Ausspruch ist wiederum bezifferbar und damit unmittelbar als Leistungsurteil nach § 54 Abs. 5 SGG zu verstehen (vgl. auch BSG vom 13.03.2001 - B 3 P 10/00 R -).
252. Verfahrensrechtlich ist der angefochtene Gerichtsbescheid fehlerhaft, weil das SG a) die Beteiligten nicht ordnungsgemäß angehört und dadurch deren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hat (§ 62 SGG) und b) abschließend entschieden hat, obgleich das erstinstanzliche Verfahren nicht beendet war.
26zu a) Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG sind die Beteiligten als Ausfluss des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) vor Erlass des Gerichtsbescheides anzuhören. Eine formularmäßige Mitteilung ohne Bezug auf den konkreten Fall genügt nicht (LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.09.1993 - L 4 J 109/93 -; LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.09.1995 - L 2 Kn 69/95 -; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Auflage, 1997, VI Rdn. 220, Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren, 1996, Rdn. 207). Seine Rechtsauffassung muss das Gericht allerdings nicht mitteilen (BSG vom 16. 03.1994 - 9 BV 151/93 - und vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - zu § 153 Abs. 4 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 105 Rdn. 10a mwN). Andererseits soll die Anhörungsmittelung sicherstellen, dass die Beteiligten sachgerechte Einwendungen erheben können (Kummer aa0). Deswegen muss aus der Anhörung jedenfalls ersichtlich sein, dass die Beteiligten die Gelegenheit haben, Gründe für die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vorzubringen oder Beweisanträge zu stellen (eingehend hierzu Senatsurteile vom 05.09.2001 - L 10 SB 70/01 - und vom 07.11.2001 - L 10 SB 50/01 -; vgl. auch Meyer-Ladewig aaO Rdn. 10a mwN; BSG vom 17.09.1997 - 6 RKa 97/96 - zu § 153 Abs. 4 SGG).
27Die an die Beteiligten gerichtete Anhörungsmitteilung vom 11.01.1999 lautet: "Das Gericht beabsichtigt zur Beschleunigung des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Auf § 105 des Sozialgerichtsgesetzes wird insoweit hingewiesen. Danach kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden werden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
28Nach Auffassung des Gerichts liegen diese Voraussetzungen hier vor. Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme besteht innerhalb von zwei Wochen."
29Diese Anhörungsmittelung genügt nicht den aufgezeigten rechtlichen Anforderungen. Sie verweist lediglich auf die Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen und beschränkt sich im übrigen auf eine Wiedergabe des Gesetzestextes. Es handelt sich nicht um einen einzelfallbezogenen Hinweis, vielmehr nur um eine formularmäßige Mitteilung ohne Bezug auf den konkreten Fall. Aus der Entscheidung des BSG vom 20.10.1999 folgt nichts anderes. Hiernach ist eine Anhörungsmitteilung zwar nicht von vornherein fehlerhaft, wenn nur auf die Möglichkeit einer "Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG" hingewiesen wird, ohne die Art und Weise der Entscheidung zu erläutern; zumindest aber muss der nicht anwaltlich vertretene Kläger in der Anhörungsmitteilung darauf hingewiesen werden, dass die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen soll und dass im Rahmen der beabsichtigten Verfahrensweise eine Zurückweisung der Berufung in Betracht kommt (BSG vom 20.10.1999 - B 9 SB 4/98 R -; vgl. aber BVerwG vom 21.03.2000 - 9 C 39/99 -: Die Anhörung zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO muss unmissverständlich erkennen lassen, wie das Berufungsgericht zu entscheiden beabsichtigt). Diese zu § 153 Abs. 4 SGG vertretene Auffassung kann auf die Anhörung nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht übertragen werden. Für den rechtskundigen Beteiligten genügt es, wenn das Gericht auf die Absicht verweist, nach § 153 Abs. 4 SGG entscheiden zu wollen. Welcher Art die Entscheidung sein wird, folgt unmittelbar aus dem Gesetz. Demgegenüber ist der Gerichtsbescheid an andere Voraussetzungen geknüpft. Auch für den rechtskundigen Beteiligten ist - im Gegensatz zu § 153 Abs. 4 SGG - aus der Ankündigung des Gerichts, durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen, nicht ohne weiteres ersichtlich, wie das Gericht entscheiden will. Deswegen hält es der Senat für erforderlich, wenn sowohl ein rechtsunkundiger Beteiligter als auch ein rechtskundiger Beteiligter in der Anhörung nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG darauf hingewiesen werden, wie das Gericht zu entscheiden beabsichtigt; ggf. mag es ausreichen, wenn das Gericht sich insoweit auf die Mitteilung beschränkt, die Entscheidung solle auf der Grundlage des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme ergehen. Das ist nicht geschehen. Hiervon kann jedoch dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn sich für die Beteiligten aus dem Sach- und Streitstand offenkundig nur eine Entscheidung aufdrängt (Senatsurteile vom 05.09.2001 - L 10 SB 70/01 - und vom 07.11.2001 - L 10 SB 50/01 -). Auch das ist nicht der Fall. Denn das SG hat der Beklagten das Gutachten des Sachverständigen Stssss am 22.10.1998 mit dem Bemerken übersandt, es möge ein Anerkenntnis geprüft werden. Hieraus konnte die Beklagte zwar entnehmen, wie das SG das Ergebnis der Beweisaufnahme bewertet hat. Dennoch liegt ein Anhörungsfehler vor. Denn die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 27.11.1998 rechtserhebliche Einwände gegen das Sachverständigengutachten erhoben. Deswegen hätte das SG nunmehr in der Anhörung deutlich machen müssen, dass es beabsichtigte, der Klage stattzugeben.
30zu b) Der angefochtene Gerichtsbescheid entspricht einem Grundurteil (§ 130 SGG). Hierdurch wird es entbehrlich, einen Zahlbetrag auszuwerfen (BSG vom 20.04.1999 - B 1 KR 15/98 R - und vom 06.08.1999 - B 4 RA 25/98 B; Senatsurteil vom 29.08.2000 - L 10 V 70/96; hierzu auch Meyer-Ladewig § 130 Rdn. 1 ff). Das Grundurteil auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) ist ein Endurteil (BSG vom 14.12.1998 - 9/4b RV 39/87 -). Es erledigt den Rechtsstreit in vollem Umfang (Meyer-Ladewig § 130 Rdn. 4; Zeihe , SGG, § 130 Rdn. 1a). Um einen solchen Fall geht es hier nicht. Klageart ist die echte Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG). Ein Grundurteil auf eine echte Leistungsklage ist lediglich ein Zwischenurteil gem. § 304 ZPO (BSG vom 24.03.1987 - 4b RV 7/86 -), d.h. der Rechtsstreit bleibt bei dem erkennenden Gericht bis zur Durchführung des Nachverfahrens über die Höhe der Leistung anhängig (BSG vom 17.12.1968 - 6 RKa 36/68 -; Meyer-Ladewig § aaO Rdn. 4d mwN; Zeihe § 130 Rdn. 5d). Haben die Beteiligten sich über die Leistungshöhe geeinigt, zeigen sie dem Gericht die Erledigung der Hauptsache an (Meyer-Ladewig aaO).
31Die Verfahrensfehler sind zwar wesentlich im Sinn des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Von einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG sieht dennoch der Senat ab. Die Sache ist entscheidungsreif.
323. Das SG hat den Leistungsanspruch der Klägerin unzutreffend tenoriert. Mit der Verurteilung zur Zahlung von Pflegegeld nach Stufe I für die Zeit vom 01.11.1977 bis zum 15.03.1998 hat das SG einen Monatsbetrag von 400 DM (AVB 2.97 Teil II Ziffer 2a) ausgeurteilt. Dabei hat das SG verkannt, dass die Klägerin zum Tarif PVB versichert ist. Diese Tarifstufe sieht für versicherte Personen mit Anspruch auf Beihilfe oder Heilfürsorge bei Pflegebedürftigkeit nur eine Tarifleistung von 30 v.H. der in der Tarifstufe PVN nach den Nummern 1- 9 vorgesehenen Beträge vor. Das Pflegegeld nach Pflegestufe I beläuft sich auf 400 DM, so dass an sich nur 30 v.H. hiervon hätten ausgeurteilt werden dürfen. Insoweit hätte die Berufung der Beklagten Erfolg. Allerdings hat die Klägerin ihren Anspruch nunmehr auf die ihr vertragliche zustehende Leistung von derzeit 30 v.H. von 400 DM bei Pflegestufe I beschränkt.
33Auch soweit das SG die Beklagte verpflichtet hat, ab dem 16.03.1998 Aufwendungen für häusliche Pflegehilfe nach Stufe I zu erstatten, hat es unzutreffend tenoriert. Es hat nicht beachtet, dass die Beklagte nur 30 v.H. der vorgelegten Rechnungen zu erstatten hat (Teil II - Tarif PV, Tarif PVB Ziffer 1 a.E.). Das private Pflegeunternehmen erbringt im Gegensatz zur Pflegekasse keine Sachleistung (vgl. auch BSG vom 13.03.2001 - B 3 P 10/00 R -), sondern erstattet nur die notwendigen Aufwendungen. Deshalb schließt hier auch der Versicherte unmittelbar mit dem Leistungserbringer (hier: DRK) einen Pflegevertrag; die Rechnungen der DRK sind sodann der Beklagten zur Begleichung vorzulegen. Deswegen kann der Antrag nur darauf gerichtet sein, dass die Beklagte verurteilt wird, ab dem 01.03.1998 30 v.H. der Aufwendungen für die häusliche Pflegehilfe nach Pflegestufe I Zug um Zug gegen Vorlage der Originalrechnungen zu erstatten. Auch insoweit hat die Klägerin ihr Begehren in der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2001 entsprechend umgestellt.
34Einer Abänderung des erstinstanzlichen Urteils bedurfte es insoweit nicht. Berufungsführerin ist die Beklagte und nicht die Klägerin. Die Reduzierung des geltend gemachten Anspruch auf 30 v.H. der Vertragsleistung stellt sich damit nicht als teilweise Rücknahme der Berufung (§ 156 SGG), sondern als teilweise Rücknahme der Klage (§ 102 Satz 1 SGG) dar. Diese ist zulässig, wenn - wie hier - der Klageantrag in der Hauptsache beschränkt wird (Meyer-Ladewig § 102 Rdn. 4). Die Einwilligung der Beklagten ist nicht erforderlich. Der Rechtsstreit im übrigen bleibt anhängig. Soweit das SG zur vollen Leistung verurteilt hat, ist dem durch die teilweise Klagerücknahme die Grundlage entzogen. Nötigenfalls muss auf Antrag durch Beschluss oder Urteil (vgl. Zeihe § 102 Rdn. 3b) die teilweise Erledigung in der Hauptsache ausgesprochen werden (§ 102 Satz 2 SGG).
354. Die Klägerin hat gem. Teil II - Tarif PV Tarifstufe PVB einen Anspruch auf Gewährung der Tarifleistung von 30 v.H. des für die Pflegestufe I festgelegten Pflegegeldes von 400 DM/monatlich für die Zeit vom 19.11.1997 (Antrag) bis 13.06.2000.
36Nach § 1 Abs. 1 AVB, Teil I gewährt der Versicherer im Versicherungsfall in vertraglichem Umfang Ersatz von Aufwendungen für Pflege oder ein Pflegegeld. Versicherungsfall ist die Pflegebedürftigkeit einer versicherten Person (§ 1 Abs. 2 AVB, Teil I). Nach Satz 2 sind pflegebedürftig Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, nach Maßgabe des Absatzes 6 in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Nach § 1 Abs. 5 AVB, Teil I sind gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 2 Satz 2
37a) im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,
38b) im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
39c) im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.
40d) im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
41Nach Maßgabe des § 1 Abs. 6 AVB, Teil I sind versicherte Personen für die Gewährung von Leistungen einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Nach Buchst. a) der Vorschrift sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muss nach § 1 Abs. 8 Buchst. a) AVB, Teil I der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.
42Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der Grundpflegebedarf im streitbefangenen Zeitpunkt durchgängig deutlich mehr als 45 Minute/tägl. betragen hat. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung war ab Antrag bis zum Zeitpunkt der Begutachtung durch den Sachverständigen S ... (17.10.1998) Hilfe im Umfang von ca. 60 Minuten/tägl erforderlich. Der Hilfebedarf für hauswirtschaftliche Versorgung hat sich anschließend bis zur Begutachtung durch den Sachverständigen H ... (11.11.2000) auf ca. 106 Minuten/tägl. erhöht. Den Grundpflegebedarf hat der Sachverständige S ... am 17.10.1998 auf ca. 73 Minuten fixiert. Hiernach war Hilfe erforderlich im Bereich der
43Körperpflege 45 Minuten
44Ernährung 7 Minuten
45Mobilität 21 Minuten
46Gesamt Grundpflege 73 Minuten.
47Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen H ... (11.11.2000) ergab sich ein Hilfebedarf von
48Körperpflege 41 Minuten
49Ernährung 6 Minuten
50Mobilität 31 Minuten
51Gesamt Grundpflege 78 Minuten.
52Dieser Zeitaufwand ist weiter zu erhöhen. Denn die Sachverständigen haben das Haarewaschen nicht berücksichtigt, obgleich dieses der Verrichtung Waschen/Duschen/Baden zuzurechnen ist (BSG vom 31.08.2000 - B 3 P 14/99 R -) und die Klägerin ihre Arme nach den Feststellungen des Sachverständigen H ... nicht mehr über die Horizontale hinaus anheben kann. Den relativ geringen Unterschied im grundpflegerischen Aufwand zwischen seiner Einschätzung (78 Min./-tägl.) und der Einschätzung des Sachverständigen S ... (73 Min./tägl.) führt der Sachverständige H ... - nachvollziehbar - darauf zurück, dass trotz progredient verlaufender chronischer Beeinträchtigungen die Klägerin ihr Gewicht um etwa 20 kg reduzieren konnte, was sich positiv auf die Gesamtsituation der Klägerin ausgewirkt habe. Hinsichtlich der Zeitansätze des Sachverständigen hat der Senat im übrigen allenfalls insofern Zweifel, als im Bereich der Gesichtspflege das Eincremen mit 1 Minute/tägl. berücksichtigt worden ist und sich hier die Frage stellt, ob dies der nicht berücksichtigungsfähigen Behandlungspflege (vgl. BSG vom 17.06.1999 - B 3 P 10/98 R -) zuzurechnen ist. Da für den gesamten streitbefangene Zeitraum ein grundpflegerischer Mehrbedarf von deutlich über 45 Minuten feststeht, kann dies offen bleiben. Im übrigen hält der Senat die beiden Sachverständigengutachten für überzeugend. Sie sind in sich schlüssig. Die Einschätzungen der Sachverständigen sind im wesentlichen deckungsgleich. Der mitgeteilte Pflegeaufwand ist unter Berücksichtigung der Erkrankungen und deren Auswirkungen auf den Hilfebedarf nachvollziehbar und steht in Einklang mit den Zeitkorridoren der Begutachtungsrichtlinien. Diese binden zwar weder das Gericht noch die Beklagte, indessen beruhen die dortigen Zeitwerte auf Erfahrungswerten, die gleichermaßen im Bereich der sozialen wie auch der privaten Pflegeversicherung gelten.
53Auch soweit es den Zeitraum von Antragstellung (November 1997) bis zur Begutachtung durch den Sachverständigen S ... anlangt, steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der Grundpflegebedarf deutlich über 46 Minuten betragen hat. Beide Sachverständige nehmen insoweit 56 Minuten an. Sie haben dies rückblickend aus dem progredient-chronischen Krankheitsverlauf und dessen Auswirkungen geschlossen. Dies ist nicht zu beanstanden und deckt sich auch mit der Auskunft des behandelnden Arztes vom 09.05.2000, der eine langsame Verschlechterung bestätigt hat. Eine exakte Feststellung ist rückblickend naturgemäß nicht mehr möglich. Fest steht, dass der Hilfebedarf der Klägerin seit 24.09.1997 stetig zugenommen und im Zeitpunkt der Antragstellung den Grenzwert von 45 Minuten deutlich überschritten hat, ohne dass hier allerdings ein exakter Zeitpunkt bestimmbar wäre. Seinerzeit bestand kein Hilfebedarf beim Aufstehen, dem Gehen und Stehen bzw. nur ein fallweiser Hilfebedarf im Zusammenhang mit dem Kämmen, dem Zähneputzen bzw. der mundgerechten Nahrungszubereitung. Der übrige Hilfebedarf hat in vollem Umfang bestanden. Im übrigen handelt es sich bei der Feststellung des konkreten Pflegeaufwandes ohnehin um eine Schätzung gem. § 287 ZPO (hierzu BSG vom 14.12.1994 - 3 RK 9/94 -). Eine exakte Feststellung des pflegerechtlich relevanten Hilfsbedarfs ist nicht möglich. Dieser wird durch einen Vielzahl von Unwägbarkeiten bestimmt, die sich einer objektiven Feststellung entziehen. Deswegen ist es auch ausgeschlossen, mit letzter Sicherheit festzustellen, dass der tatsächliche Pflegeaufwand sich auf 56 Minuten täglich beläuft. Vielmehr ist beweisrechtlich zu entscheiden. Anspruchsvoraussetzung ist, dass der grundpflegerische Hilfebedarf mindestens 46 Minuten erreicht. Das ist der Fall, ohne dass es rechtserheblich wäre, ob exakt 56 Minuten bzw. nachfolgend 73 Minuten oder 78 Minuten erreicht werden.
54Die Angriffe der Beklagten gegen das Ergebnis der Beweisaufnahme überzeugen nicht. Die Beklagte hält weiterhin - auch noch in der mündlichen Verhandlung und trotz Befragung des Sachverständigen H ... - am Ergebnis der von ihr eingeholten Gutachten fest. Das ist weder sachlich noch rechtlich gerechtfertigt. Begründete Einwände gegen die Darlegungen des Sachverständigen H ... in der mündlichen Verhandlung vom 21.11.2001 hat die Beklagte nicht erhoben. Sie hat sich lediglich auf die von ihr eingeholten Gutachten zurückgezogen und gemeint, hieran kraft interner Richtlinien gebunden zu sein.
55Allerdings können sowohl der Versicherer als auch der Versicherungsnehmer im Prozess eine Überprüfung der Gutachtergebnisse nur auf der Grundlage des § 64 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) verlangen. Denn für eine gerichtliche Sachaufklärung durch Einholung von Gutachten besteht erst dann Veranlassung, wenn das nach dem MB/PPV vorgesehene Schiedsgutachten eingeholt worden, aber offensichtlich unrichtig ist (BSG vom 22.08.2001 - B 3 P 21/00 R - und BSG vom 22.08.2001 - B 3 P 4/01 R -). Die Einholung eines Schiedsgutachtens war nach § 6 Abs. 2 MB/PPV 1996 vertraglich vereinbart.
56"Offenbar" ist die erhebliche Abweichung von der wirklichen Sachlage nicht schon dann, wenn der Sachverständige die Sache objektiv fehlerhaft beurteilt hat, sondern erst dann, wenn sich die Unrichtigkeit einem Sachkundigen aufdrängt; es genügt, wenn der Fehler für jeden fachkundigen und unbefangenen Beurteiler bei gewissenhafter Prüfung offen, d.h. klar und deutlich zutageliegt (Prölls/Martin, VVG, 26. Auflage, 1998, § 64 Rdn. 42 mwN). Abzustellen ist dabei nur auf den Sachstand und die Erkenntnismittel zur Zeit der Begutachtung (Prölls/Martin aaO § 64 Rdn. 44). Für den Leistungsanspruch reicht es danach nicht aus, wenn die im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten ledig lich zu einem anderen Ergebnis kommen. Hinzu kommen muss, dass die von der Beklagten eingeholten Gutachten nach dem damaligen Sachstand offenbar fehlerhaft sind. Das ist der Fall. Das Gutachten des Arztes A ... vom 02.01.1998 ist unbrauchbar. Es ist hinsichtlich der Feststellung des grundpflegerischen Mehrbedarfs nicht nachvollziehbar, denn es werden keinerlei überprüfbare Zeitangaben mitgeteilt. Der Gutachter hat die Klägerin - unwidersprochen - nicht untersucht, vielmehr lediglich 10 Minuten befragt. Den durch Bewegungseinschränkungen und Schwindel sowie der damit verbundenen Gangunsicherheit bedingten Hilfebedarf hat der Gutachter nicht berücksichtigt. Die Angabe des Gutachters, die Klägerin bewohne eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Parterre (2 Stufen) ist zudem falsch. Die Klägerin hat darauf hingewiesen, dass vor der Haustür 8 Stufen zu bewältigen sind; der Sachverständige H ... hat dies bestätigt. Auch das Gutachten des Dr. Jentzsch ist unzureichend und damit untauglich. Nicht berücksichtigt sind die aus den degenerativen HWS- Veränderungen resultierenden Gefühlsstörungen beider Hände mit dem daraus resultierenden Hilfebedarf im Bereich Zahnpflege (5 Min/tägl.), mundgerechtes Zubereiten der Nahrung (7 Min/tägl.) und ggf. Kämmen. Übersehen hat der Gutachter ferner die erhebliche Beweglichkeitseinschränkung des Schultergürtels mit Rückwirkungen auf nahezu alle Verrichtungen, die Fettleibigkeit und die nur grenzwertig kompensierte Herzschwäche. Auch insoweit und wiederum als Indiz für die Oberflächlichkeit auch dieses Gutachtens ist anzumerken, dass die Örtlichkeiten - unzutreffend - als ebenerdig beschrieben werden (zur Erschütterung des Beweiswertes eines Gutachtens durch fehlerhafte Feststellungen des Sachverständigen vgl. auch BSG v. 12.02.2000 - B 9 SB 2/99).
57Im übrigen: Die "Gutachten" der Ärzte A ... und Dr. J ... genügen nicht den vertraglich vereinbarten Anforderungen, so dass § 64 VVG auch deswegen nicht greift. Nach 6 Abs. 2 Satz 1 AVB Teil I MB/PPV 1996 ist der Eintritt der Pflegebedürftigkeit durch einen vom Versicherer beauftragten Arzt festzustellen. Aus den nachfolgenden Regelungen des Absatz 2 folgt unmissverständlich, dass hierzu eine Untersuchung durchzuführen ist. Die Klägerin hat vorgetragen, dass die Gutachter A ... und Dr. J ... sie nicht untersucht, vielmehr nur Fragen gestellt hätten. Der Senat hat angesichts des kursorischen Inhalts beider Gutachten keinen Anlass, dieses Vorbringen zu bezweifeln, zumal die Beklagte dem nicht entgegengetreten ist. Ausgehend hier von sind die Gutachten schon aus Rechtsgründen unerheblich. Dass eine schlichte Befragung dem Begriff der "Untersuchung" nicht zugeordnet werden kann, bedarf keiner Vertiefung. Auch insoweit hat die Beklagte ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllt.
58Soweit die Beklagte schriftsätzlich vorgetragen hat, das Gutachten vom 08.12.2000 beruhe ausschließlich auf ärztlichen Diagnosen und verhalte sich nicht zum individuellen Pflegebedarf im streitgegenständlichen Zeitraum, trifft dies nicht zu. Richtig hieran ist allenfalls, dass sich der Pflegeumfang nicht allein aus den festgestellten, Krankheiten/Behinderungen" ergeben kann. Diese sind indes die Grundlage für die Prüfung, welche nachteiligen Auswirkungen hierdurch verursacht werden und welcher Pflegeumfang hieraus resultiert. Nichts anderes hat der Sachverständige gemacht; er hat den Untersuchungsbefund ausführlich mitgeteilt und insbesondere beschrieben, wie sich die Erkrankungen im Bereich der Grundverrichtungen auswirken. Anschließend hat der Sachverständige den Hilfebedarf festgestellt.
59Fehl geht auch der Einwand, das Gutachten des Sachverständigen H ... sei nicht beweiskräftig, weil er sich immer wieder auf das erstinstanzlich erstellte Gutachten des Sachverständigen S ... vom 01.10.1998 berufe, gegen das sie - die Beklagte - mit der Berufung vorgehe. Zwar bezieht sich der Sachverständige H ... relativ häufig auf das Gutachten des Sachverständigen S ..., das ändert aber nichts daran, dass er eigene Untersuchungen durchgeführt und Feststellungen getroffen hat. Die Qualität seines Gutachtens zeigt sich gerade darin, dass er seine Ergebnisse mit denen des Sachverständigen S ... abgleicht. Im übrigen hat der Senat ihn in der Beweisanordnung ausdrücklich danach befragt, ob und inwieweit er den Ausführungen des Sachverständigen S ... zustimmt.
60Verfehlt ist ferner das Vorbringen, der Sachverständige H ... könne "offenbar nicht sachlich darlegen", wie sich seiner Meinung nach der Pflegebedarf entwickelt habe, da er sich nur auf die vorliegenden Befunde und "eigene Erfahrungen" berufe und nicht den individuellen Hilfebedarf der Klägerin festgestellt habe. Die Beklagte verkennt, dass der Sachverständige - zutreffend - u.a. aufgrund der im wesentlichen unverändert geblieben Diagnosen darauf geschlossen hat, dass der Hilfebedarf auch bereits im November 1997 den Umfang der Pflegestufe I erreicht hat. Den individuellen Hilfebedarf hat der Sachverständige - rückblickend - soweit wie möglich individualisiert.
61Im Ansatz richtig ist die Erkenntnis der Beklagten, es könne sein, dass der Sachverständige diese Abweichungen nun in Folge des Zeitablaufs nicht mehr im einzelnen feststellen könne. Unzutreffend ist aber die hieraus gezogene Schlussfolgerung, dass deswegen auf die zeitnahen M ...-Gutachten abgestellt werden müsse. Dem steht schon entgegen, dass die beiden M ...-Gutachten inhaltlich untauglich sind. Das hätte auch die Beklagte bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung nach Eingang dieser Gutachten unschwer feststellen können. Wenn sie diese Gutachten dennoch übernimmt und hierauf eine Leistungsablehnung stützt, ist es ihr unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhalten verwehrt, sich später darauf zu stützten, diese Gutachten seien die zeitnäheren und damit ausschlaggebend. Vertragliche Nebenpflicht der Beklagten ist es, die Leistungsvoraussetzungen ordnungsgemäß, d.h. mittels eines oder mehrerer Gutachten, die den an ein Gutachten zu stellenden Mindestanforderungen genügen, zu prüfen. Das ist nicht geschehen. Die Vorgehensweise der Beklagten stellt sich damit im Ergebnis als Beweisvereitelung dar. Sie hat es versäumt, pflichtgemäß die notwendigen Beweise durch eine ordnungsgemäße Begutachtung sicherzustellen. Schon gar nicht kann sie sich nunmehr darauf berufen, der Inhalt der M ...-Gutachten müsse widerlegt werden.
625. Soweit es den Zeitraum ab Dezember 1999 anlangt, ist die Beklagte zur Leistung verpflichtet, weil die Anspruchsvoraussetzungen nach dem von ihr parallel zum Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten vom 14.06.2000 erfüllt sind und sie kein Leistungsverweigerungsrecht hat. Dass die Klägerin ab Dezember 1999 im Umfang der Stufe I pflegebedürftig ist, steht außer Streit. Die Beklagte verweigert die Leistungen vielmehr, weil die Klägerin sich zunächst einer Untersuchung nicht habe unterziehen wollen und damit eine Obliegenheit verletzt habe.
63Nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AVB hat der Versicherungsnehmer auf Verlangen des Versicherers jede Auskunft zu erteilen, die zur Feststellung des Versicherungsfalles, der Leistungspflicht des Versicherers und ihres Umfangs sowie der Beitragseinstufung der versicherten Person erforderlich ist. Durch § 10 Abs. 1 AVB wird bestimmt, dass der Versicherer mit der in § 6 Abs. 3 VVG vorgeschriebenen Einschränkung von der Verpflichtung zur Leistung frei wird, wenn und solange eine der in §§ 1 bis 5 genannten Obliegenheiten verletzt ist.
64Diese Voraussetzung sind nicht erfüllt. Die Beklagte hat keine Auskunft verlangt, sondern - als Mehr - eine weitere Begutachtung. Hierzu war sie nach dem Wortlaut der Vereinbarung nicht berechtigt. Eine erweiternde Auslegung ist unzulässig. Jede Auslegung findet ihre Grenze im noch möglichen Wortsinn (LSG NRW vom 25.10.1995 - L 11 Ka 75/95 - ). Ein eindeutiger, ggf. durch Auslegung zu ermittelnder Wortlaut ist bindend (vgl. BVerfGE 87, 48, 69; Senatsurteil vom 21.04.1999 - L 10 VG 50/98 -; LSG NRW vom 09.08.1989 - L 11 Ka 66/88 -). So liegt es hier. Eine Auskunft ist begrifflich etwas völlig anderes ist als die Durchführung einer Begutachtung im Sinne einer auch psychischen und/oder physischen Untersuchung. Im übrigen hat eine Begutachtung angesichts des Eingriffs in die körperliche Integrität vielfach auch eine grundlegend andere Qualität als eine schlichte Auskunft.
65Auch auf § 6 Abs. 2 Teil I der AVB kann sich die Beklagte nicht berufen. Zwar kann dieser Regelung entnommen werden, dass der Versicherte verpflichtet ist, sich in angemessenen Abständen begutachten zu lassen. Der Versicherer kann die beantragten Leistungen verweigern, wenn die versicherte Person kein Einverständnis zur Untersuchung erteilt. Die Rechtslage ist damit § 67 SGB I vergleichbar. Hiernach kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 SGB I versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. § 67 SGB I steht in engem sachlichen Zusammenhang mit § 66 SGB I und regelt die Folgen der Nachholung einer zunächst unterbliebenen, für die beantragte oder bereits bezogene Sozialleistung unerläßlichen Mitwirkungshandlung i.S. der §§ 60 bis 64 SGB I. Der Berechtigte erhält eine zweite Gelegenheit, die ihm dem Grunde nach möglicherweise zustehende Leistung dennoch (ggf. auch rückwirkend) erhalten zu können. Der Leistungsträger ist verpflichtet, in derartigen Fällen eine ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 39 SGB I) hinsichtlich der nachträglichen Leistungserbringung (fiktive rückwirkende Betrachtungsweise) zu treffen. Zwar ist der Beklagten keine "öffentliche-rechtliche" Ermessensentscheidung abzuverlangen. Aber auch für sie gilt, dass sie zur Leistungseinstellung nicht verpflichtet, sondern nur berechtigt ist ("kann"). Sie hat die Leistungsverweigerung allein damit begründet, dass die Klägerin sich nicht nochmals untersuchen lassen wollte. Dies reicht nicht. "Kann" bedeutet, dass die Beklagte klären muss, ob und ggf. aus welchen Gründen sie die Leistung verweigert. Zu den vertraglichen Nebenpflichten gehört es sodann, die Gründe auch mitzuteilen. Geschieht dies - wie hier - nicht, ist es der Beklagten verwehrt, sich auf § 6 Abs. 2 Teil I AVB zu berufen.
66Schließlich besteht das Leistungsverweigerungsrecht aus einem weiteren Grund nicht. Die Verfahrensherrschaft im anhängigen Streitverfahren hat das Gericht. Deswegen hat der Senat schon rechtliche Bedenken, ob die Beklagte überhaupt befugt ist, eine weitere Untersuchung der Klägerin durchzuführen. Jedenfalls aber ist kein Versicherungsnehmer verpflichtet, sich parallel zu den vom Gericht im Rahmen der Beweiserhebung angeordneten Begutachtungen einer gesonderten Begutachtung durch die "gegnerische Partei" zu unterziehen. Die Sachaufklärung obliegt dem Gericht. Jedem Beteiligten bleibt es zwar unbenommen, eigene Ermittlungen durchzuführen und das Ergebnis in das Verfahren einzubringen. Dass aber nicht eine Partei die andere Partei bei Vermeidung von Rechtsnachteilen - hier: Obliegenheitsverletzung - zwingen kann, während eines zwischen ihnen anhängigen Rechtsstreits sich als Untersuchungsobjekt zur Verfügung zu stellen, ist rechtlich evident. Insoweit besteht keine vertragliche Mitwirkungspflicht (vgl. auch BSG vom 13.03.2001 - B 3 P 20/00 R -) und demnach auch kein Leistungsverweigerungsrecht.
676. Die Berufung hat auch keinen Erfolg, soweit sich die Beklagte dagegen wendet, Aufwendungen für die häusliche Pflegehilfe erstatten zu müssen.
68Nach Teil II - Tarif PV - Tarifstufe PVB Ziffer 1 werden die Aufwendungen für häusliche Pflegehilfe für Pflegebedürftige der Pflegestufe I bis zu 750 DM je Kalendermonat erstattet. Da die Klägerin nach Tarifstufe PVB versichert ist, werden die Beträge auf den tariflichen Prozentsatz (hier: 30 v.H.) gekürzt.
69Die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Der Klägerin sind vom 16.03.1998 bis 31.07.1998 und vom 01.07.1999 bis zum 13.06.2000 Aufwendungen für häusliche Pflegehilfe entstanden. Die Beklagte ist verpflichtet, diese bis zu einer Höhe von 30 v.H. von 750 DM/mtl. zu erstatten. Seit dem 14.06.2000 übernimmt die Beklagte die Aufwendungen.
70Die Berufung der Beklagten konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
71Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
72Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG. Zwar hat die Klägerin die Klage in einem Umfang von 70 v.H. des ursprünglichen Hautantrags zurückgenommen. Vorliegend führt dies indes nicht zu einer Kostenlast. Im Rahmen der nach § 193 SGG gebotenen Abwägung misst der Senat dem Umstand, dass die Beklagte die Klage durch eine unzureichende Prüfung der Leistungsvoraussetzungen veranlasst hat, entscheidende Bedeutung bei. Von der Verhängung von Mutwillenkosten (§ 192 SGG) hat der Senat noch abgesehen.
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