Beschluss vom Landessozialgericht NRW - L 5 P 556/21 B ER
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird:
„Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache sechs Gaben des Arzneimittels Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastomsrezidivs nach jeweiliger ärztlicher Verordnung als Sachleistung zu gewähren.“
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren.
1
Gründe:
2I.
3Im Streit steht die Übernahme der Kosten für die Behandlung der an einem Glioblastom leidenden Antragstellerin mit dem Arzneimittel Avastin (Bevacizumab).
4Die am 00.00.1983 geborene Antragstellerin befindet sich seit dem 26.04.2020 wegen eines Glioblastoms in Behandlung der Klinischen Neuroonkologie des Klinikums Essen. Es handelt sich um ein Rezidiv mit Vorbehandlung durch Operation, Radiotherapie und Chemotherapie.
5Unter dem 31.03.2021 beantragte die Antragstellerin, vertreten durch das Klinikum Essen, die Kostenübernahme für die Behandlung des Rezidivs mit Avastin (Bevacizumab). Zur Begründung wurde angeführt, dass keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen mehr bestünden und aufgrund des raschen Wachstums des Tumors und der Notwendigkeit einer wirksamen Therapie die Antragstellung erfolgt sei. Aufgrund der aktuellen Ausdehnung des Tumors werde ärztlicherseits eine Therapie mit dem ebenfalls nicht zugelassenen Arzneimittel Regorafenib nicht als optimal angesehen. Es sei zu erwarten, dass sich der noch gute klinische Zustand der Antragstellerin ohne weitere Therapie deutlich und schnell verschlechtern werde. Es lägen drei unabhängige randomisierte Studien zum Einsatz von Bevacizumab bei einem Glioblastom vor, welche ergeben hätten, dass das progressionsfreie Überleben signifikant verlängert worden sei. Dies seien die folgenden Studien: 1. RTOG0825-Studie (Gilbert et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, 2. AVAglio Studie (Chinot et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 6,2 auf 10,6 Monate, 3.GLARIUS- Studie (Herrlinger etal., JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 5,9 auf 9,7 Monate. Aufgrund dieser Studienergebnisse zum Einsatz von Bevacizumab seien zunächst sechs Gaben geplant, danach sei eine erneute MRT-Schädel-Untersuchung zur Evaluation der Behandlung vorgesehen. Bei dem Rezidiv handele es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung, die innerhalb von Wochen bis Monaten zu einer Verschlechterung führen könne, wobei man innerhalb kurzer Zeit mit dem Tode rechnen müsse. Die Antragstellerin befinde sich noch in einem guten klinischen Zustand und habe einen ausgeprägten Therapiewunsch. Auch im Rezidiv könne noch ein Ansprechen des Tumors auf eine Therapie erwartet werden. Ohne weiterführende medikamentöse Behandlung sei mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Tumorwachstum und einer klinischen Verschlechterung bis hin zum Tode der Antragstellerin zu rechnen. Die Avastin-Therapie sei im Übrigen in den USA als Rezidivtherapie bei Glioblastom zugelassen.
6Mit Bescheid vom 31.03.2021 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin vom selben Tage ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Hersteller für das beantragte Arzneimittel einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für ihre Erkrankung gestellt habe, diesen allerdings zurückgezogen habe. Die Rücknahme des Antrags entspreche wertungsmäßig eine Ablehnung der Zulassung. Danach könne gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 - eine Kostenübernahme nicht erfolgen, da derzeit nicht davon auszugehen sei, dass die Therapie mehr nütze als schade.
7Mit Schreiben vom 08.04.2021 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 31.03.2021 Widerspruch. Zur Begründung führte der behandelnde Arzt des Klinikums Dr. A ergänzend aus, dass die Therapie mit Bevacizumab im Falle der Antragstellerin nicht primär der Lebenszeitverlängerung diene, sondern dass es um die Erhaltung der Lebensqualität gehe. Es sei aufgrund der bereits benannten Studien unstrittig, dass durch die begehrte Therapie die Zeit bis zum Wachstum des Tumors verlängert werden könne.
8Am 26.05.2021 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweilen Anordnung bei dem Sozialgericht gestellt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass sie einen Anspruch auf Gewährung der Therapie mittels sechs Gaben Avastin zur Verlängerung des progressionsfreien Überlebens habe. Dieser ergebe sich zwar nicht aus § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Fall 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) i.V.m. § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V und auch nicht aus den Grundsätzen des Off-Label-Use. Ein Anspruch ergebe sich jedoch nach § 2 Abs. 1a SGB V im Rahmen der grundrechtsorientierten Auslegung. Auch ein Anordnungsgrund liege vor. Denn es handele sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung, welche innerhalb kürzester Zeit zum Tode führen könne. Dabei sei ein Zeitraum von Wochen bis Monaten zu nennen. Pro Dosis entstünden Kosten von etwa 3000 €, sodass mit Behandlungskosten von etwa 18.000 € zu rechnen sei. Sie könne diesen Betrag nicht aus eigenen Mitteln vorfinanzieren (eidesstattliche Versicherung vom 28.05.2021 nebst Belegen).
9Die Antragstellerin hat beantragt,
10der Antragsgegnerin im Wege der einzelnen Anordnung nach § 86b Abs. 3 Sozialgesetzbuch (SGG) aufzuerlegen, die Kosten für die Behandlung der Antragstellerin mit sechs Gaben des Arzneimittels Avastin (Bevacizumab) zu übernehmen.
11Die Antragsgegnerin hat beantragt,
12den Antrag abzulehnen.
13Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der hinzugezogene Medizinische Dienst (MD) in seinem Gutachten vom 19.04.2021 zur weiteren Behandlung das Medikament Regorafenib empfohlen habe, für dass es Daten einer randomisierten Studie gebe, die auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf hinweisen würden. Das BSG habe in seinem Urteil vom 11.09.2018 – B 1 KR 36/17 R ausgeführt, dass die gesetzlich geregelten Mechanismen zum Schutz von Patienten nicht unterwandert werden dürften, was auch im Hinblick auf § 2 Abs. 1a SGB V gelte. Insoweit seien inakzeptable und unkalkulierbare Risiken von Gesundheitsschäden für die betroffenen Versicherten zu vermeiden.
14Ein Anordnungsgrund bestehe zudem nicht, da es der Antragstellerin auch zumutbar sei, ein Darlehen zur Vorfinanzierung aufzunehmen.
15Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der behandelnden Ärzte Prof. Dr. V K/Dr. A eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird.
16Mit Widerspruchsbescheid vom 16.06.2021 hat die Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Diesen Bescheid hat die Antragstellerin am 29.06.2021 mit Klage angegriffen (S 23 KR 1213/21 SG Köln).
17Mit Beschluss vom 17.06.2021 hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, der Antragstellerin die Kosten für die Behandlung mit sechs Gaben des Arzneimittels Avastin (Bevacizumab) als Sachleistung zu gewähren.
18Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch auf die Gewährung einer Sachleistung in Form von sechs Gaben Avastin zustehe. Die Erfolgsaussichten der Hauptsache seien offen. Die damit im Rahmen der Prüfung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG gebotene Folgenabwägung falle bei glaubhaft gemachtem Anordnungsgrund zugunsten der Antragstellerin aus. Der Anordnungsanspruch könne weder auf § 27 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fall 1 SGB V i.V.m. § 31 Abs. 1 SGB V noch auf die Grundsätze des Off-Label-Use gestützt werden. Er ergebe sich aber aus § 2 Abs. 1a SGB V nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung. Das Sozialgericht hat insoweit ausgeführt:
19„[…] Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz 1 festgestellt.
20Nach der Rechtsprechung des BSG begründet zwar § 2 Abs. 1a SGB V keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation, für die eine Genehmigung in einem Zulassungsverfahren nach VO (EG) Nr. 726/2004 abzulehnen war. Das BSG führt dazu aus, dass es genügt, dass der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel der European Medicines Agency - wie im Falle von Avastin für die Indikation des rezidivierenden Glioblastoms - ein im Ergebnis ablehnendes Gutachten erstellte, ohne dass der Antragsteller das Verfahren weiterverfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Dies folge aus Entwicklungsgeschichte, Regelungssystem von Arzneimittelzulassungsrecht und SGB V sowie dem Regelungszweck, ohne dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1a SGB V entgegenstehe. Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis dürfe durch eine vermeintlich "großzügige", im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden. Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten verbunden. Solche Auswirkungen dürften einer Versichertengemeinschaft nicht auf-gebürdet werden, die die Behandlung - typischerweise unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise - finanziere. Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die deutschen arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, müsse auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG, a.a.O. sowie Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R).
21Jedenfalls - ohne dass es weiterer Ausführungen der Kammer zu der oben dargelegten Argumentation des Bundessozialgerichts zu § 2 Abs. 1a SGB V Bedarf - liegt nach der Rechtsauffassung der Kammer nach derzeitiger Einschätzung eine Situation mit notstandsähnlichem Charakter vor. Die grundrechtsorientierte Auslegung gebietet es insoweit, der Antragstellerin den begehrten Therapieversuch als Sachleistung zu gewähren. Wie die behandelnden Ärzte der Antragstellerin auf Nachfrage des Gerichts und auch im Rahmen des Antrags auf Kostenübernahme darlegen, bestehen im Falle der Antragstellerin keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen mehr. Bei der zuletzt erfolgten Chemotherapie mit CCNU kam es vielmehr zu einem Progress des Tumors. Auch eine Therapie mit Regorafenib wird seitens der behandelnden Ärzte des Universitätsklinikums Essen nicht für zielführend erachtet. Insoweit handele es sich nämlich um ein Medikament, das viele Nebenwirkungen bereite und von den wenigsten Patienten in der Zieldosis von 160 mg an 21 von 28 Tagen vertragen werde und ebenfalls nicht für das Glioblastom zugelassen sei. Die behandelnden Ärzte favorisieren die begehrte Therapie mit Avastin im Falle der palliativen Therapiesituation der Antragstellerin, da bei einem weiteren Progress des Tumors bevorzugt ein Medikament angewendet werden sollte, dass Symptome lindert ist und möglichst lange neurologische Defizite vermeidet was bei Bevacizumab, aber nicht bei Regorafenib, der Fall sei.
22Die notstandsähnliche Situation ergibt sich auch daraus, dass die Antragstellerin an einem bösartigen Hirntumor leidet, der innerhalb kürzester Zeit massiv wachsen und zu allen denkbaren neurologischen und kognitiven Defiziten führen kann. Im Falle der Antragstellerin ist nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu erwarten, dass sich dennoch gute klinische Zustand ohne weitere Therapie deutlich und schnell verschlechtern wird. Die Antragstellerin leidet derzeit an leichten Wortfindungsstörungen und hat eine Quadrantenanopsie nach rechts oben. Im Falle eines Progresses des Tumors kann es jedoch schnell zu weiteren Ausfällen kommen. Insbesondere Lähmungen, weitere Gesichtsfeldausfälle, Hirndrucksymptomatik wie Übelkeit, Erbrechen oder Störungen der Wachheit und epileptische Anfälle sind möglich. Das begehrte Medikament Avastin (Bevacizumab) hat einen antiödematösen Effekt und kann relativ lange Zeit eine solche neurologische Ausfallsymptomatik lindern, was im Falle der Antragstellerin das Ziel ist.
23Insofern liegen hinreichende Indizien für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im Sinne von § 2 Abs. 1a S. 1 SGB V vor.
24Die behandelnden Fachärzte der Antragstellerin empfehlen die begehrte Therapie nach Abwägung der jeder ärztlichen Entscheidung zugrunde liegenden Nutzen-Risiko-Analyse.
25Ein Anordnungsgrund und damit die Notwendigkeit einer Entscheidung im einzelnen Rechtsschutz ist aufgrund der besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtssache glaubhaft gemacht.
26Die Antragstellerin hat mit eidesstattlicher Versicherung dargelegt, dass sie die Behandlungskosten von insgesamt 18.000 € nicht aus eigenen Mitteln vorfinanzieren kann. Dies bezieht sich auch auf die Möglichkeit der Erlangung eines Darlehens. Ferner hat sie durch ihre Prozessbevollmächtigten in Ergänzung der übersandten eidesstattlichen Versicherung eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin, mit welcher ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht verbunden war, dargelegt, dass sie über keine ausreichenden Mittel zur Finanzierung der Kosten verfügt. Ferner liegt eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, die ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache als unzumutbar erscheinen lässt. Insoweit ist zur Sicherstellung einer zeitnahen und effektiven Behandlung mit Avastin über die Therapie bereits jetzt zu entscheiden.
27Insoweit kommt die Kammer im Rahmen der Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die Antragstellerin vorläufig mit dem begehrten Arzneimittel zu versorgen. Das finanzielle Interesse der Antragsgegnerin und der Gemeinschaft der Beitragszahler hat ihr gegenüber der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 1 zurückzustehen.“
28Gegen den ihr am 17.06.2021 per Fax übermittelten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 05.07.2021 Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat sie erneut auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use von Bevacizumab (Urteile vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R und vom 11.09.2018 – B 1 KR 36/17 R) verwiesen. Vor diesem Hintergrund eine Leistungsgewährung auch unter Berücksichtigung von § 2 Abs. 1a SGB V nicht möglich.
29Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
30den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 abzuändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
31Die Antragstellerin beantragt,
32die Beschwerde zurückzuweisen.
33Zur Begründung hat sie darauf verwiesen, dass sich der bei ihr bestehende Hirntumor zwischenzeitlich vergrößert habe. Sie hat einen aktuellen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. A vom 26.07.2011 eingereicht. Dieser führt aus, dass im MRT vom 21.06.2021 unter der vorherigen Therapie mit CCNU und Temozolomid ein Progress des Tumors nachgewiesen worden ist. Die Antragstellerin habe sich allerdings aufgrund einer Wundheilungsstörung nach der Operation aus März 2021 einer operativen Wundrevision unterziehen müssen, die einen Behandlungsbeginn mit Bevacizumab zunächst verhindert habe. Nunmehr sei die Wunde gut verheilt. Im MRT vom 20.07.2021 sei ein weiterer Progress mit massivem Tumorwachstum festzustellen gewesen. Der Tumor habe ein ausgeprägtes Ödem und nehme viel MRT-Kontrastmittel auf. Auf beide Eigenschaften wirke Bevacizumab sehr gut. Es reduziere durch seinen Wirkmechanismus das Tumorödem und die Kontrastmittelaufnahme. Durch diesen Effekt blieben neurologische Defizite oft stabil. Bevacizumab solle als palliative Therapie angewandt werden, um den neurologischen Zustand der Antragstellerin möglichst lange stabil zu halten. Der Tumor bilde aufgrund seines Wachstum-Musters mit Tumorödem und viel Kontrastmittelaufnahme die optimale Grundlage für eine bestmögliche palliative Therapie mit Bevacizumab.
34Die Antragstellerin hat zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen vorgetragen, dass sie derzeit ohne Einkünfte sei. Sie sei zum 01.06.2021 ausgesteuert. Sie habe die Gewährung von Arbeitslosengeld und Erwerbsminderungsrente beantragt. Bislang seien diese Leistungen aber noch nicht bewilligt worden. Sie verbrauche derzeit das auf dem Geldmarktkonto befindliche Guthaben. Ihre Ersparnisse würden allenfalls noch für zwei Monate reichen.
35Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
36II.
37Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, ihr bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache (nunmehr: Klageverfahren S 23 KR 1213/21 SG Köln) sechs Gaben des Arzneimittels Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastomsrezidivs nach jeweiliger ärztlicher Verordnung als Sachleistung zu gewähren, zu Recht stattgegeben. Der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung war jedoch klarzustellen.
38Wegen der Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt (§ 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
39Ergänzend ist zunächst auszuführen, dass der Senat erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der von der Antragsgegnerin zitierten Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - und 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R) hinsichtlich der Anwendung des § 2 Abs. 1a SGB V hat. Die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - (sog. „Nikolausbeschluss“) aus dem Grundrechtschutz des Einzelnen abgeleiteten Vorgaben zum Einsatz neuer Behandlungsmethoden bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen sind in § 2 Abs. 1a SGB V ohne Veränderungen kodifiziert worden. Der vom BSG demgegenüber in der Entscheidung vom 13.12.2016 formulierte Vorrang des Arzneimittelzulassungsrechts ist hiermit jedenfalls in seiner Allgemeinheit nicht zu vereinbaren. Durch die Anwendung der Vorschrift wird gerade nicht der institutionelle Schutz der Gesundheit der Versicherten durch das Arzneimittelzulassungsverfahren „durch eine vermeintlich <
Unabhängig von diesen Erwägungen ist jedenfalls nunmehr auch eine Notstandssituation im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des BSG glaubhaft gemacht. Während in dem Bericht des Dr. A vom 11.06.2021 die Behandlung mit Bevacizumab unter den Vorbehalt eines künftigen Tumorprogresses bei Fortführung der Therapie mit TMZ und CCNU gestellt war, hat sich nunmehr gerade diese Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin realisiert. Dies ergibt sich aus dem aktuellen Bericht des Dr. A vom 26.07.2021, der den MRT-gestützten Nachweis eines Tumorprogresses am 21.06.2016 und insbesondere am 20.07.2021 beschreibt. Der Tumor weist eine erhebliche Ödembildung auf. Hieraus drohen unmittelbar schwerwiegende neurologische Beeinträchtigungen. Gerade auf die Reduzierung dieser Ödembildung und die damit verbundene Wahrung der Lebensqualität ist die - palliative - Behandlung mit Becacizumab gerichtet. Zur Überzeugung des Senats liegen insoweit hinreichende Indizien für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im Sinne von § 2 Abs. 1a S. 1 SGB V vor. Diese Einschätzung stützt der Senat nicht nur auf die Darstellung der behandelnden Ärzte. Vielmehr ist auch der MD in seinem Gutachten vom 19.04.2021 bereits der ersten entsprechenden Einschätzung der behandelnden Ärzte nicht entgegen getreten, sondern hat eine positive sozialmedizinische Empfehlung lediglich unter Hinweis auf die ablehnende Rechtsprechung des BSG verneint. Auch aus Sicht des MD stand der Antragstellerin schon im April 2021 keine dem medizinischen Standard entsprechende Therapie mehr zur Verfügung. Der MD bestätigt auch, dass die bisherige Studienlage zur Behandlung des rezidivierten Glioblastoms mit Bevacizumab das Gesamtüberleben im Blick hatte, das progressionsfreie Überleben (PFS) hingegen nur ein sekundärer Endpunkt war. Der bei dem PFS gefundene Unterschied sei nur exploratorisch zu verstehen und bedürfe noch der Verifizierung durch eine Studie mit diesem Endpunkt. Eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf hat der MD damit gerade nicht verneint.
41Die Antragstellerin ist grundsätzlich auch nicht auf die Behandlung durch ein anderes, ebenfalls nicht zugelassenes Medikament (hier: Regorafenib) zu verweisen. Anhaltspunkte für einen deutlich höheren Nutzen von Regorafenib sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Vielmehr gehen die behandelnden Ärzte von deutlich schwerwiegenderen Nebenwirkungen bei Einsatz dieses Medikaments im Falle der Antragstellerin aus.
42Die Antragstellerin hat schließlich auch glaubhaft gemacht, dass sie die Behandlungskosten nicht vorfinanzieren kann. Die Klägerin ist derzeit ohne Einkünfte. Wann über ihre Anträge auf Rente wegen Erwerbsminderung bzw. Arbeitslosengeld entschieden wird, ist nicht absehbar. Das zum Zeitpunkt der Antragstellung vorhandene Vermögen auf dem Geldmarktkonto verbraucht die Antragstellerin derzeit für ihre Lebenshaltungskosten. Der Verweis der Antragsgegnerin auf eine Kreditaufnahme ist angesichts der vorliegenden Einkommensverhältnisse und der bestehenden Prognose ad vitam fernliegend.
43Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 1 BvR 452/17 1x (nicht zugeordnet)
- 23 KR 1213/21 2x (nicht zugeordnet)
- § 2 Abs. 1a SGB V 10x (nicht zugeordnet)
- § 31 Abs. 1 SGB V 1x (nicht zugeordnet)
- SGG § 86b 1x
- 15 KR 293/18 1x (nicht zugeordnet)
- 1 KR 36/17 4x (nicht zugeordnet)
- § 2 Abs. 1a S. 1 SGB V 2x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 347/98 1x (nicht zugeordnet)
- 1 KR 10/16 4x (nicht zugeordnet)
- SGG § 177 1x
- § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V 1x (nicht zugeordnet)