Beschluss vom Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (5. Senat) - L 5 KA 35/18 NZB

Tenor

Auf die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung wird die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 12.04.2018 zugelassen.

Gründe

I.

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Streitig ist ein Arzneimittelregress in Höhe von (iHv) 340,89 € betreffend die Quartale II/2012 bis III/2013.

2

Der Kläger nimmt als Arzt für Allgemeinmedizin in B an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der Beigeladenen zu 1 teil. Ua in den streitgegenständlichen Quartalen verordnete er dem bei der Beigeladenen zu 2 gesetzlich krankenversicherten, 1939 geborenen, L M (im Folgenden: Versicherter) mehrfach das seinerzeit fiktiv zugelassene verschreibungspflichtige Arzneimittel Pentalong 80 mg Tabletten zu Lasten der Beigeladenen zu 2.

3

Auf Antrag der Beigeladenen zu 2 vom 23.07.2014 setzte die Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 23.11.2015 hinsichtlich der Verordnungen von Pentalong 80 mg Tabletten gegenüber dem Versicherten in den Quartalen II/2012 bis III/2013 einen Regress iHv insgesamt 340,89 € (netto) gegen den Kläger fest. Ein solcher sei vorliegend nicht aufgrund von § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung ausgeschlossen. Zwar lägen die sich nach Rezeptaddition ergebenden Nettobeträge je Quartal unterhalb der festgelegten Geringfügigkeitsgrenze (vgl im Einzelnen die Darstellung der dem Regress zu Grunde liegenden Verordnungen und der Regresshöhe in den einzelnen Quartalen auf Seite 12 f des Bescheides vom 23.11.2015 – Bl 25 f VerwA der Beklagten). Die Beigeladene zu 2 habe sich in ihrem Prüfantrag aber auf das Vorliegen einer grundsätzlichen Bedeutung berufen und diesbezüglich ausgeführt, dass alle Vertragsärzte über die fehlende Verordnungsfähigkeit von Pentalong informiert worden seien. Gemäß § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung schließe die Geringfügigkeitsgrenze Anträge in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung werde in der Prüfvereinbarung selbst nicht definiert, so dass die Bedeutung des Begriffes durch Auslegung zu ermitteln sei. Im Rahmen einer solchen Auslegung ergebe sich ua im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs innerhalb des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), dass Fälle, die zur Sicherung der Rechtsordnung und einer einheitlichen Spruchpraxis einer Entscheidung bedürften, von grundsätzlicher Bedeutung seien. Vorliegend habe die Beigeladene zu 1 am 02.03.2012 auf ihrer Internetseite den Hinweis veröffentlicht, dass es sich bei dem hier prüfrelevanten Präparat um ein fiktiv zugelassenes Arzneimittel handele und dass dieses nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig sei. Auch die Arbeitsgruppe Zielvereinbarung Rheinland-Pfalz habe ein entsprechendes Schreiben mit Stand 01.08.2012 an alle Ärzte in Rheinland-Pfalz versandt. Das Präparat sei trotz der klaren Rechtslage und der zusätzlich erfolgten Informationen von einer größeren Zahl der Ärzte in Rheinland-Pfalz über mehrere Quartale hinweg weiter verordnet worden. Das vorliegende Verfahren sei eines der auf Antrag der Beigeladenen zu 2 eingeleiteten über 400 Prüfverfahren, die einer einheitlichen Entscheidung bedürften. Somit liege eine Besonderheit vor mit der Folge, dass die Unterschreitung der Geringfügigkeitsgrenze der Durchführung der Prüfung nicht entgegenstehe. Zur Begründung in der Sache sei anzuführen, dass das Präparat Pentalong 80 mg Tabletten nicht im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung habe verordnet werden dürfen, so dass weder eine Leistungspflicht der Krankenkassen noch ein Versorgungsanspruch der Versicherten bestanden habe. Pentalong 80 mg Tabletten seien zum Verordnungszeitpunkt nur fiktiv zugelassen gewesen; die fiktive Zulassung genüge aber nicht den Anforderungen, die vorliegen müssten, um eine Verordnungsfähigkeit zu begründen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) folge aus der arzneimittelrechtlichen Zulassung eines Arzneimittels, sofern hierbei dessen Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft worden sei, zugleich die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Für eine solche Schlussfolgerung von der arzneimittelrechtlichen Zulassung auf die Verordnungsfähigkeit fehle aber dann die Grundlage, wenn der Zulassung keine – oder eine strukturell nur unzureichende – Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zu Grunde gelegen habe (Hinweis auf BSG, Urteil vom 05.11.2008 – B 6 KA 63/07 R). Bei Pentalong 80 mg Tabletten sei eine solche Zulassungssituation gegeben. Spätestens mit Vorliegen des Versagungsbescheides des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 24.12.2005 sei Pentalong 80 mg Tabletten nicht mehr verordnungsfähig im Sinne des (iSd) Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) gewesen und habe dementsprechend nicht verordnet werden dürfen. Fehle die Verordnungsfähigkeit, sei Unwirtschaftlichkeit zu bejahen. Vorliegend sei auch kein Fall gegeben, in welchem ausnahmsweise die Verordnung unter Zugrundelegung der seitens des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seinem Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) – und nunmehr in § 2 Abs 1a SGB V normierten – genannten Voraussetzungen zulässig und geboten sei. Es fehle an einem entsprechenden Krankheitsbild. Darüber hinaus könne sich der Vertragsarzt auch nicht darauf berufen, von der fiktiven Zulassung keine Kenntnis gehabt zu haben. Das BSG habe in mehreren Entscheidungen (Hinweis zB auf Urteil vom 05.11.2008 – B 6 KA 63/07 R – mit weiteren Nachweisen <mwN>) eindeutig festgehalten, dass ein Verschuldenserfordernis im Rahmen von Verordnungsregressen gemäß § 106 SGB V nicht bestehe. Daher sei es rechtlich ohne Bedeutung, ob ein Vertragsarzt auf die Verordnungsfähigkeit des Präparates vertraut und die Verordnung gutgläubig vorgenommen habe. Des Weiteren habe die Beigeladene zu 1 am 02.03.2012 den bereits erwähnten Hinweis auf ihrer Internetseite veröffentlicht und auch die Arbeitsgruppe Zielvereinbarung Rheinland-Pfalz habe das bereits erwähnte Schreiben mit Stand 01.08.2012 an alle Ärzte in Rheinland-Pfalz versandt. Ferner greife auch nicht das Argument, dass die Erstverordnung von Pentalong auf Empfehlung der Fachklinik (Kardiologische Abteilung der St. V.-Kliniken K.) vorgenommen worden sei. Diesbezüglich werde darauf hingewiesen, dass allein der ausstellende Arzt die Verantwortung für seine Verordnungen trage. Individuelle Therapieversuche mit nicht verordnungsfähigen Arzneimitteln seien nicht zulässig. Vorliegend habe auch nicht das Erfordernis einer vorhergehenden Beratung bestanden. Nach der Rechtsprechung des BSG stelle das Tätigen unzulässiger Verordnungen einen sog Basismangel dar, bei welchem unzweifelhaft Unwirtschaftlichkeit gegeben und daher eine vorgängige Beratung nicht mehr erforderlich sei (Hinweis auf ua Urteil vom 18.08.2010 – B 6 KA 14/09 R). Abschließend werde auf eine Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 19.11.2014 (S 22 KA 314/13) hingewiesen, nach welcher die Verordnung des fiktiv zugelassenen Präparates Pentalong 80 mg Tabletten unwirtschaftlich sei.

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Am 15.12.2015 hat der Kläger Klage vor dem SG Mainz erhoben. Soweit auf ein angeblich im April 2012 zugestelltes Informationsschreiben hingewiesen worden sei, sei fraglich, wie dies „hellseherisch“ auf den Sachstand vom 01.08.2012 habe Bezug nehmen können. Würden die Bearbeitungszeiten der Beigeladenen zu 1 und die Tatsache berücksichtigt, dass Sachstände zu einem bestimmten Zeitpunkt erst Monate später ermittelt würden, könne das regressbegründende Rundschreiben frühestens im Folgejahr, also im April 2013, zugestellt worden sein. Dementsprechend sei in seinem Fall allenfalls noch für die Quartale II/2013 und III/2013 ein Regress iHv insgesamt 103,16 € (34,39 € + 68,77 €) relevant. Da somit ein Betrag von 100,- € je Arzt und Kalendervierteljahr nicht überstiegen werde, sei die Prüfung der Wirtschaftlichkeit unzulässig. Pentalong zähle auch nicht zu seinem Verordnungsspektrum, sondern sei nur im Falle eines einzigen schwerstherzkranken Patienten auf Empfehlung der kardiologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses K. verordnet worden. Dass gerade dieser Fall - im Widerspruch zu allen beteiligten kardiologischen Fachärzten - nicht mit dem Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005 in Einklang gebracht worden sei, belege eine „disqualifizierende, medizinisch-fachliche Inkompetenz“.

5

Durch Gerichtsbescheid vom 12.04.2018 hat das SG Mainz den Bescheid der Beklagten vom 23.11.2015 aufgehoben und die Klage im Übrigen – soweit der Kläger begehrte „wegen der grundsätzlichen Bedeutung zur Sicherung der Rechtsordnung und einer einheitlichen Spruchpraxis die Beklagten anzuweisen, alle derzeit noch laufenden und bereits abgeschlossenen Verfahren in dieser Sache entsprechend aufzuheben und zu korrigieren“ - abgewiesen. Die gegen den Prüfbescheid vom 23.11.2015 gerichtete Anfechtungsklage im Sinne von (iSv) § 54 Abs 1 SGG sei zulässig und begründet. Der Prüfbescheid vom 23.11.2015 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in eigenen Rechten. Zwar sei eine Wirtschaftlichkeitsprüfung als Einzelfallprüfung gemäß § 106 SGB V in der seinerzeit geltenden Fassung in Verbindung mit (iVm) § 10 Abs 2 Prüfvereinbarung zulässig. Vorliegend sei jedoch die Wirtschaftlichkeitsprüfung auf Grund Geringfügigkeit des Regresses iSd § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung ausgeschlossen, da der Wert der Verordnung in keinem der geprüften Quartale den Betrag von 100,- € überschritten habe. Die in § 16 Abs 4 letzter HS Prüfvereinbarung geregelte Rückausnahme greife vorliegend nicht ein. Danach seien auch Regresse unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze von 100,- € pro Quartal zulässig, wenn „Anträge in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung“ gegeben seien. Die vorliegende Konstellation entspreche nicht dem Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“. Was unter dem Begriff der „Fälle von grundsätzlicher Bedeutung“ zu verstehen sei, ergebe sich aus der hier anzuwendenden Vorschrift des § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung selbst nicht. Die Regelung sei daher auslegungsbedürftig. Obwohl der Begriff in einer Vereinbarung, dh in einem Vertrag erscheine, handele es sich aber bei § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung von seiner Qualität her um eine für die Beteiligten bindende Norm. Daher gälten für die Auslegung nicht die Grundsätze der Vertragsauslegung, sondern es seien die Auslegungsgrundsätze für Rechtsnormen heranzuziehen. Diese Auslegungsmethoden beinhalteten die sprachlich/grammatikalische Auslegung (Wortlaut der Norm), die systematische Auslegung (Bedeutungszusammenhang der Norm), die historische Auslegung (Entstehungsgeschichte der Norm) und die teleologische Auslegung (Gesamtzweck der Norm, ratio legis). Die Auslegung finde stets ihre Grenzen am objektivierten, im Wortlaut der Norm zum Ausdruck gebrachten Willen des Normgebers (Hinweis auf Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Auflage, vor § 1 Rn 40 ff). Ausgehend hiervon sei der Begriff der „Fälle von grundsätzlicher Bedeutung“, auch unter Berücksichtigung des Prinzips der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und unter Berücksichtigung, dass der Begriff zB im Prozessrecht (Hinweis auf § 144 Abs 2 Nr 1, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) eine bestimmte Bedeutung habe, dahingehend zu definieren, dass eine grundsätzliche Bedeutung nur vorliege, wenn eine Rechtsfrage klärungsbedürftig sei. Eine solche Konstellation liege hier schon deshalb nicht vor, weil die Frage der Verordnungsfähigkeit von Pentalong zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung längst im negativen Sinne entschieden sei. Die Beigeladene zu 2 verfolge mit ihrem Prüfantrag einen ganz anderen Zweck als die Klärung der Verordnungsfähigkeit von Pentalong. Sinn der hier streitgegenständlichen Prüfung solle sein, diejenigen Vertragsärzte zu regressieren, die (fortgesetzt und massenhaft) gegen das Verbot der Verordnung nicht verschreibungsfähiger Medikamente zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verstoßen hätten. Diese Konstellation unter § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung zu subsumieren, sei allenfalls noch unter dem Gesichtspunkt einer teleologischen Auslegung vertretbar. Der durch den Wortlaut des Begriffs „Fälle von grundsätzlicher Bedeutung“ zum Ausdruck gebrachte objektivierte Wille des Normgebers würde jedoch durch eine solche Auslegung verfehlt. Wollten die gesetzlichen Krankenversicherungen eine Regressmöglichkeit für Fälle schaffen, in denen Vertragsärzte (fortgesetzt und massenhaft) nicht verschreibungsfähige Medikamente unterhalb der Bagatellgrenze verordnen, hätte dies im Wortlaut der Prüfungsvorschrift einen klaren und eindeutigen Ausdruck finden müssen, zumal es sich dann auch um einen Eingriffstatbestand handele. Da dies nicht der Fall sei, könne die Rückausnahmevorschrift des § 16 Abs 4 letzter HS Prüfvereinbarung vorliegend keine Anwendung finden. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung sei dementsprechend vorliegend auf Grund der Vorschrift über die Geringfügigkeitsgrenze in § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung ausgeschlossen. Im Hinblick auf das übrigen Begehren des Klägers sei die Klage, was in dem Urteil näher dargelegt wird, unzulässig und daher abzuweisen. Der Gerichtsbescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, wonach er mit der Berufung angefochten werden kann.

6

Gegen diesen ihr am 17.04.2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat (nur) die Beklagte zunächst am 09.05.2018 „Berufung“ eingelegt. Nach einem Hinweis des Senats mit Schreiben vom 24.07.2018, dass der Beschwerdewert iSv § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht erreicht sei, hat die Beklagte mit am 20.08.2018 bei dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingegangenen Schreiben vom 17.08.2018 ausgeführt, dass der Gerichtsbescheid mit einem sachdienlichen Rechtsmittel habe angefochten werden sollen. Da das angefochtene „Urteil“ (gemeint: Gerichtsbescheid) in seiner Rechtsmittelbelehrung hierfür die Berufung vorgesehen habe, habe sie, die Beklagte, einen Anfechtungsschriftsatz mit dem Wortlaut „Berufung“ verfasst. Entsprechend des Hinweises des Senats werde dies nunmehr korrigiert und Nichtzulassungsbeschwerde erhoben; die Berufung wurde mit Schreiben vom 27.08.2018 zurückgenommen. Es sei der Beschwerdegrund der Divergenz iSv § 144 Abs 2 Nr 2 SGG gegeben, da das „Urteil“ (gemeint: Gerichtsbescheid) des SG Mainz von einer Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz abweiche. Das SG Mainz habe in seinem Gerichtsbescheid ausgeführt, dass der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung unter Beachtung des Prinzips der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und unter Berücksichtigung, dass der Begriff zB im Prozessrecht eine bestimmte Bedeutung habe, dahingehend zu definieren sei, dass eine grundsätzliche Bedeutung nur vorliege, wenn eine Rechtsfrage klärungsbedürftig sei. Diese Frage habe das SG Mainz sodann für den vorliegenden Fall verneint. Die Feststellungen des SG Mainz, auf denen der Gerichtsbescheid auch beruhe, stünden jedoch im Widerspruch zu der Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz vom 24.05.2018 (L 5 KA 40/17). Dieses Verfahren habe die gleiche rechtliche Problematik betroffen. Dabei habe der Senat – wie in dem Schriftsatz zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde wörtlich wiedergegeben wird - festgehalten, dass bei der Auslegung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung iSv § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung nicht auf die Bedeutung des Begriffes im prozessrechtlichen Sinne zurückzugreifen, sondern vielmehr auf dessen verwaltungsrechtlichen Zusammenhang abzustellen sei; es stünden Aspekte der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens im Vordergrund. Danach solle durch die Geringfügigkeitsgrenze auch aus verfahrensökonomischen Gründen verhindert werden, dass gegen Ärzte, die gelegentlich in geringem Umfang unwirtschaftliche Verordnungen tätigten, ein Prüfverfahren eingeleitet werde. Vorliegend gehe es jedoch um eine systematische Nichtbeachtung der fehlenden Verordnungsfähigkeit von Pentalong in einer Vielzahl von Fällen über einen längeren Zeitraum, so dass ein Verordnungsvolumen von mehr als 400.000,- € zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung entstanden sei.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 12.04.2018 zuzulassen.

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Der Kläger hat sich zu der zunächst erhobenen Berufung, nicht aber zu der Nichtzulassungsbeschwerde geäußert.

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Die Beigeladene zu 1 hat materiell-rechtliche Ausführungen getätigt.

11

Die Beigeladene zu 2 hat sich den Ausführungen der Beklagten in der Beschwerdeschrift angeschlossen.

II.

12

Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde iSv § 145 SGG hat auch in der Sache Erfolg.

13

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Soweit sie erst durch Schreiben vom 17.08.2018, welches am 20.08.2018 bei dem LSG Rheinland-Pfalz einging, und damit nicht innerhalb eines Monats (§ 145 Abs 1 Satz 2 SGG) nach Zustellung des Gerichtsbescheides am 17.04.2018 an die Beklagte erhoben wurde, steht dies der Zulässigkeit nicht entgegen, weil vorliegend die Jahresfrist nach § 66 Abs 2 Satz 1 SGG gilt. Soweit vorliegend weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides des SG Mainz eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung zu entnehmen ist, sondern allein in der Rechtsmittelbelehrung zu dem angefochtenen Gerichtsbescheid auf die Möglichkeit der Einlegung der Berufung hingewiesen wird, ist dies nicht als Entscheidung über die Zulassung der Berufung zu verstehen; nach der Rechtsprechung des BSG stellt allein die Verwendung der für eine zulassungsfreie Berufung üblichen Rechtsmittelbelehrung keine Entscheidung über die Zulassung, sondern eine falsche Belehrung dar (vgl nur Urteil vom 19.11.1996 - 1 RK 18/95 – juris Rn 20; Urteil vom 23.07.1998 - B 1 KR 24/96 R – juris Rn 12). Legt ein Beteiligter entsprechend dieser falschen Belehrung – wie vorliegend zunächst erfolgt - Berufung ein, ist diese zwar unzulässig. Folge der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung ist allerdings, dass jedenfalls (zum Teil wird auch vertreten, dass keine Frist zu laufen beginnt; siehe zum Streitstand Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 144 Rn 45a) binnen der Jahresfrist nach § 66 Abs 2 Satz 1 SGG Berufung eingelegt werden kann. Die Jahresfrist ist vorliegend ersichtlich gewahrt, so dass die Nichtzulassungsbeschwerde zulässig ist.

14

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil die Entscheidung des SG von einer Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz abweicht (§ 144 Abs 2 Nr 2 SGG), mithin der – hier allein angeführte – Zulassungsgrund der Divergenz vorliegt. Eine Divergenz im Sinn dieser Vorschrift liegt vor, wenn das SG seine Entscheidung auf einen abstrakten Rechtssatz gestützt hat, der von einem anderen abstrakten Rechtssatz, auf dem eine Entscheidung eines der in § 144 Abs 2 Nr 2 SGG genannten Gerichte beruht, abweicht (Leitherer, aaO, § 144 Rn 30 iVm § 160 Rn 13 mwN). Ein abstrakter Rechtssatz liegt nur bei einer fallübergreifenden, nicht lediglich auf Würdigung des Einzelfalles bezogenen rechtlichen Aussage vor (Leitherer, aaO, § 160 Rn 13 mwN).

15

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Beklagte hat zutreffend unter Zitierung des Urteils des Senats vom 24.05.2018 (L 5 KA 40/17) ausgeführt, dass der Senat den Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“ in § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung nicht unter Heranziehung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung im prozessrechtlichen Sinne ausgelegt hat, sondern diesem unter Berücksichtigung des verwaltungsrechtlichen Zusammenhangs, in dem dieser in § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung steht, eine andere Bedeutung zugemessen als im Prozessrecht. Namentlich hat der Senat ausgeführt, dass mit Blick auf § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung Aspekte der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens im Vordergrund stehen. Demgegenüber hat das SG Mainz in dem angegriffenen Gerichtsbescheid entschieden, dass der Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“ in § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung unter Berücksichtigung, dass dieser Begriff zB im Prozessrecht (§ 144 Abs 2 Nr 1 und § 160 Abs 2 Nr 1 SGG) eine bestimmte Bedeutung hat, ausgelegt. Dementsprechend sieht das SG Mainz in Anlehnung an die prozessrechtliche Bedeutung der Formulierung „grundsätzliche Bedeutung“ das Vorliegen einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage als Voraussetzung eines Falles von „grundsätzlicher Bedeutung“ an.

16

Auf dieser Abweichung beruht der Gerichtsbescheid des SG Mainz auch. Hätte das SG Mainz die Auffassung des LSG Rheinland-Pfalz zu Grunde gelegt, wäre dieses – wie das LSG Rheinland-Pfalz in dem Urteil vom 24.05.2018 – zu dem Ergebnis gelangt, das die Rechtmäßigkeit des Regressbescheides nicht an der Geringfügigkeitsgrenze des § 16 Abs 4 Prüfvereinbarung scheitert.

17

Der erfolgreichen Rüge des Zulassungsgrundes der Divergenz steht nicht entgegen, dass der angegriffene Gerichtsbescheid des SG Mainz auf den 12.04.2018 datiert, mithin zeitlich vor dem vorstehend zitierten und hier für die Divergenz maßgeblichen Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 24.05.2018 ergangen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, gebietet eine verfassungskonforme Auslegung der Regelung der Nichtzulassungsbeschwerde, dem Beschwerdeführer das Recht einzuräumen, auch eine nachträgliche Divergenz rügen zu können (vgl zu § 160 Abs 2 SGG BSG, Beschluss vom 08.09.2015 – B 1 KR 34/15 B – juris Rn 5 f unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 21.01.2000 – 2 BvR 2125/97). Dies gilt jedenfalls dann, wenn das SG oder das LSG in dem anderen, die Divergenz nachträglich herbeiführenden Rechtsstreit die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund nach § 144 Abs 2 Nr 1 SGG) zugelassen haben. Dies impliziert die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer ohne die spätere Entscheidung des LSG auch in seinem Rechtstreit die Grundsatzrüge hätte erheben können (vgl BSG, aaO – juris Rn 4 unter Berücksichtigung von § 160 SGG). Die einem Beschwerdeführer zunächst eröffnete Rechtsschutzmöglichkeit dürfe „ihm nicht dadurch, aus der Hand geschlagen werden“, dass in einem anderen Rechtsstreit nachträglich durch eine höhere Instanz die Rechtsfrage in seinem Sinne entgegen der ergangenen, ihn belastenden Entscheidung geklärt und ihm die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nunmehr verschlossen werde (BSG, aaO, Rn 7). Der Beschwerdeführer könne sich in einem solchen Fall darauf beschränken, nur die nachträgliche Divergenz zu rügen; anders als in den Fällen, in denen es erst nach Einreichung der Beschwerdebegründung zu einer Klärung der Rechtsfrage komme, müsse der Beschwerdeführer die - nicht mehr gegebene - grundsätzliche Bedeutung nicht darlegen (BSG, aaO, Rn 7).

18

In Anwendung dieser Grundsätze war es ausreichend, dass sich die Beklagte auf den Zulassungsgrund der Divergenz berufen hat; eine vor Eintritt der Divergenz vorliegende grundsätzliche Bedeutung iSv § 144 Abs 2 Nr 1 SGG musste sie nicht darlegen, weil die Entscheidung des Senates vom 24.05.2018 zwar nach Erlass des angefochtenen Gerichtsbescheides, aber vor Einreichung der Beschwerdebegründung erging und die Zulässigkeit der Berufung in dem die Divergenz begründenden Verfahren L 5 KA 40/17 auf einer ausdrücklichen Zulassung durch das SG beruhte.

19

Mit der Zulassung der Berufung wird das Beschwerdeverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch die Beschwerdeführerin bedarf es nicht (§ 145 Abs 5 Satz 1 SGG).

20

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

21

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).

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