Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (8. Senat) - L 8 U 71/12

Tenor

Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 21. August 2012 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin zu 1) einen Betrag in Höhe von 75.945,70 EUR sowie an die Klägerin zu 2) einen Betrag in Höhe von 10.658,67 EUR zu erstatten.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 86.604,37 EUR festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Krankenbehandlungskosten.

2

Der bei der Klägerin zu 1. gesetzlich krankenversicherte sowie bei der Klägerin zu 2. pflegeversicherte, damals 34jährige J... L... (in der Folge Versicherter) erlitt am 1. März 2004 einen Autounfall. Der Versicherte hatte seine Arbeitsstätte vorzeitig verlassen und war kurz darauf auf dem Weg von seiner Arbeitsstätte unter Alkoholeinfluss frontal mit einem Baum am Straßenrand kollidiert. Eine Blutalkoholmessung zwei Stunden nach dem Unfall ergab einen Blutalkoholgehalt von 0,73 Promille. Der Versicherte erlitt unter anderem ein schweres Schädelhirntrauma und wurde deswegen ärztlich behandelt.

3

Mit Schreiben vom 9. September 2004 meldeten die Klägerinnen bei der Beklagten dem Grunde nach einen Erstattungsanspruch nach § 105 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) an, den sie in der Folge in mehreren Schreiben nach und nach bezifferten.

4

Die Beklagte lehnte eine Erstattung der angefallenen Kosten ab und verwies auf ihren Bescheid vom 26. August 2004, mit dem sie gegenüber dem Versicherten die Anerkennung des Unfalls vom 1. März 2004 als Arbeitsunfall abgelehnt hatte.

5

Für den Zeitraum 1. August 2006 bis 30. April 2008 stellte die Klägerin zu 2. beim Versicherten eine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 1 fest. In diesem Zusammenhang fielen bei der Klägerin zu 1. Kosten in Höhe von insgesamt 75.945,70 Euro sowie bei der Klägerin zu 2. Kosten in Höhe von 10.658,67 Euro an.

6

Die Klägerinnen haben am 29. Dezember 2009 Klage beim Sozialgericht Lübeck erhoben. Der Versicherte habe am 1. März 2004 einen Arbeitsunfall erlitten, so dass die Beklagte für die in dessen Folge zu erbringenden medizinischen Leistungen der zuständige Leistungsträger sei. Es handele sich um einen Wegeunfall, da sich der Versicherte auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstelle befunden habe. Es sei für die Einordnung als Wegeunfall unerheblich, dass er sich vorzeitig und ohne Erlaubnis von der Arbeitsstätte entfernt habe. Auch die Alkoholisierung des Versicherten stehe dem nicht entgegen; denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne ohne weiteres erst bei einer absoluten Fahruntüchtigkeit angenommen werden, dass die Alkoholisierung die wesentliche Unfallursache darstelle und damit den Zusammenhang zum versicherten Heimweg von der Arbeitsstätte durchbreche. Eine absolute Fahruntüchtigkeit habe hier aber nicht vorgelegen; denn beim Versicherten sei aufgrund der erhobenen Messwerte und einer entsprechenden Rückrechnung von einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,93 ‰ zum Unfallzeitpunkt auszugehen. Damit habe lediglich eine relative Fahruntüchtigkeit vorgelegen. Eine solche sei nur dann als wesentliche Unfallursache anzunehmen, wenn zusätzliche Anhaltspunkte dafür vorlägen. Derartige Anhaltspunkte – für deren Vorliegen die Beklagte beweispflichtig sei – seien jedoch nicht dokumentiert. Vielmehr sei es gut möglich, dass der Unfall auf einen Umstand zurückzuführen sei, der auch einem nüchternen Fahrer hätte passieren können – etwa kurze Unaufmerksamkeit oder das Ausweichen von einem Wildtier.

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Die Klägerinnen haben schriftsätzlich beantragt,

8

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) 75.945,70 € und an die Klägerin zu 2.) 10.658,67 € zu zahlen.

9

Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

11

Sie ist der Auffassung, dass die Klägerinnen für die erbrachten Leistungen die zuständigen Sozialversicherungsträger seien. Zwar treffe es zu, dass das unerlaubte Entfernen von der Arbeitsstätte die Annahme eines versicherten Wegeunfalls nicht ausschließe. Jedoch entfalle ihre Zuständigkeit - die der Beklagten - aufgrund der Alkoholisierung des Versicherten. Dies sei immer dann anzunehmen, wenn das Unfall bei lebensnaher Betrachtung nur mit der Trunkenheit zu erklären sei. Ein solcher Fall liege hier vor. Der Versicherte sei im oberen Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit alkoholisiert gewesen. Er sei dann auf grader Strecke nach rechts von der Fahrbahn abgekommen, wobei am Unfallort keine Brems- oder Schleuderspuren zu finden gewesen seien. Die von den Klägerinnen vorgebrachten alternativen Unfallursachen seien demgegenüber spekulativ.

12

Das Sozialgericht hat im Einverständnis mit den Beteiligten eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung getroffen und die Klage mit Urteil vom 21. August 2012 abgewiesen. Es sei davon auszugehen, dass die Alkoholisierung die einzige wesentliche Unfallursache gewesen sei. Es gebe keinerlei Hinweise auf Alternativursachen wie z.B. einen technischen Defekt, anspruchsvolle Straßenverhältnisse oder eine Störung von außen – wie etwa das Kreuzen von Wild.

13

Die Klägerinnen haben gegen das ihnen am 3. September 2012 zugestellte Urteil am 11. September 2012 Berufung eingelegt und sich im Wesentlichen auf den erstinstanzlichen Vortrag bezogen. Das Sozialgericht sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass eine Alternativursache für den Unfall bewiesen werden müsse. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur bei absoluter Fahruntüchtigkeit der Fall. Bei relativer Fahruntüchtigkeit hingegen sei nur dann von einem alkoholbedingten Unfall auszugehen, wenn weitere Anhaltspunkte dafür vorlägen. Dies sei hier nicht der Fall. Vielmehr seien viele alternative Ursachen denkbar. So sei etwa einer Analyse der Baumunfälle auf Bundes- und Landesstraßen in Brandenburg für die Jahre 2008 bis 2010 zu entnehmen, dass lediglich bei etwa vier Prozent der Unfälle Alkohol die wesentliche Ursache gewesen sei.

14

Die Klägerinnen beantragen,

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das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 21. August 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin zu 1.) 75.945,70 EUR und an die Klägerin zu 2.) 10.658,67 EUR zu erstatten.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

18

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts Lübeck für zutreffend und bezieht sich im Übrigen auf ihr erstinstanzliches Vorbringen.

19

Gegen den Versicherten ist vor dem Amtsgericht Ribnitz-Damgarten unter dem Aktenzeichen 3 Cs 588/04 ein Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr geführt worden, das mit Beschluss vom 22. Dezember 2012 nach § 153b Abs. 2 Strafprozessordnung in Verbindung mit § 60 Strafgesetzbuch im Hinblick auf die schweren gesundheitlichen Folgen für den Versicherten eingestellt worden ist.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten und die beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft Stralsund verwiesen; diese sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

21

Die Berufung ist zulässig und begründet.

22

Die Klägerinnen haben gegenüber der Beklagten Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Beträge; das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 21. August 2012 ist daher aufzuheben.

23

Der Anspruch der Klägerinnen folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach dieser Vorschrift gilt: Hat ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X (vorläufige Leistungen) vorliegen, ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Der Anspruch auf Erstattung ist gemäß § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt (§ 111 Satz 2 SGB X).

24

Dem Anspruch steht auch nicht die gegenüber dem Versicherten mit Bescheid vom 26. August 2004 erfolgte, bestandskräftige Ablehnung der Anerkennung als Arbeitsunfall entgegen. Denn dieser Bescheid entfaltet gegenüber den Klägerinnen keine Rechtskraft, da diese an dem Verwaltungsverfahren nicht beteiligt gewesen sind und ihnen gegenüber der Bescheid nicht wirksam bekannt gegeben worden ist (vgl. §§ 12, 39 Abs. 1 SGB X).

25

Die Klägerinnen haben ihren Erstattungsanspruch, der der Höhe nach nicht umstritten ist, bereits am 15. September 2004 und damit innerhalb der Jahresfrist des § 111 Satz 1 SGB X bei der Beklagten angemeldet.

26

Sie haben die umstrittenen Leistungen als unzuständige Leistungsträger erbracht, so dass die Beklagte als zuständiger Leistungsträger nach § 105 Abs. 1 SGB X erstattungspflichtig ist. Denn entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Versicherte am 1. März 2004 einen Arbeitsunfall erlitten, der in die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaft fällt.

27

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII „zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen“. Zur Annahme eines Arbeitsunfalls in diesem Sinne ist erforderlich, dass das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Es muss eine sachliche Verbindung zu der geschützten Tätigkeit bestehen, ein innerer Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 8. Dezember 1998, Az. B 2 U 37/97 R; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 26. September 2012, Az. L 8 U 5/11 –, juris).

28

Zu der versicherten Tätigkeit zählt gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Die Formulierung „des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges" kennzeichnet den sachlichen Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit. Dieser besteht, wenn der Weg wesentlich zu dem Zweck zurückgelegt wird, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung im typischen Falle die eigene Wohnung zu erreichen. Da der Gesetzgeber die Grundentscheidung „Versicherungsschutz auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit“ in § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII getroffen hat, ist von der Rechtsprechung nur zu klären, ob der Versicherte, als er verunglückte, einen solchen versicherten Weg zurücklegte und infolgedessen einen Gesundheitsschaden erlitten hat. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung noch der Fortbewegung auf das ursprüngliche Ziel – die Arbeitsstätte des Versicherten oder von dort zurück – dient, ist seine Handlungstendenz. Die darauf gerichtete Handlungstendenz muss durch objektive Umstände bestätigt werden. Dies zeigt sich im äußeren Verhalten des Versicherten, wie es objektiv beobachtbar ist und stellt darauf ab, ob sein äußeres Handeln mit seiner inneren Tendenz zur Arbeit zu gelangen übereinstimmt (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juli 2013, Az. B 2 U 12/12 R -, Juris).

29

Der Versicherte befand sich auf dem Heimweg von seinem Arbeitsplatz und war daher grundsätzlich in der Wegeunfallversicherung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII kraft Gesetzes versichert. Er hat auch einen Unfall im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII erlitten. Dieser ist auch als Arbeitsunfall zu bewerten, da die Einwirkung der versicherten Tätigkeit zuzurechnen war.

30

Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung haben Schutz gegen Gefahren zu gewähren, die sich durch die ihre Verbandszuständigkeit, den Versicherungsschutz und das Versichertsein des Verletzten begründende Verrichtung von im jeweiligen Versicherungstatbestand konkret umschriebenen Tätigkeiten realisieren können. Ihre Einstandspflicht besteht stets dann, wenn sich durch eine Handlung des Geschädigten, die den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt, ein Risiko verwirklicht hat, gegen dessen Eintritt nicht die Unfallversicherung "allgemein", sondern der jeweils durch die Handlung erfüllte Versicherungstatbestand schützen soll. Die Zurechnung des Schadens eines Versicherten zum Versicherungsträger erfordert daher zweistufig die Erfüllung erstens tatsächlicher und zweitens darauf aufbauender rechtlicher Voraussetzungen. Die Verrichtung der versicherten Tätigkeit muss die Einwirkung und in gleicher Weise muss die Einwirkung den Gesundheitserstschaden oder den Tod sowohl objektiv als auch rechtlich wesentlich verursacht haben (vgl. BSG, Urteil vom 13. November 2012, B 2 U 19/11 R –, juris).

31

Dass die Heimfahrt vom Arbeitsplatz objektiv (mit-)ursächlich für den vom Versicherten erlittenen Unfall war, ist nicht zu bezweifeln, denn der nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Heimweg kann als Ursache nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Unfall entfiele.

32

Steht die versicherte Tätigkeit als eine der Wirkursachen fest, muss die Wirkung rechtlich unter Würdigung aller mitwirkenden, unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll. Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Verrichtung wegen ihrer objektiven Mitverursachung der Einwirkung auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist vielmehr zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 2012, Az. B 2 U 9/11 R –, juris).

33

Die Unfallversicherung hinsichtlich des Zurücklegens des Weges nach und von dem Ort der (jeweiligen) versicherten Tätigkeit schützt nur gegen Gefahren für Gesundheit und Leben, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fußgänger oder Benutzer eines Verkehrsmittels, also aus eigenem oder fremden Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen durch die Beschaffenheit des Verkehrsraumes hervorgehen. Hintergrund dieser Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes über den eigentlichen Beschäftigungsort hinaus war, dass die "Wege umfangreicher und durch die motorische Zurücklegung auch gefährlicher" geworden seien und daher "diese Gefahren" erfasst werden müssten. An diesem Schutzzweck hat sich bis heute nichts geändert. Zwar ist nunmehr in § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII bestimmt, dass zu den versicherten Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit zählt. Dadurch ist aber nur verdeutlicht worden, dass nicht der Weg an sich, sondern dessen Zurücklegen, also der Vorgang des Sichfortbewegens, versichert ist. Auch der Versicherungstatbestand des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII trägt daher allein Gefahren Rechnung, die sich während der gezielten Fortbewegung im Verkehr aus eigenem, gegebenenfalls auch verbotswidrigem Verhalten (vgl. § 7 Abs. 2 SGB VII), dem Verkehrshandeln anderer Verkehrsteilnehmer oder Einflüssen auf das versicherte Zurücklegen des Weges ergeben, die aus dem benutzten Verkehrsraum oder Verkehrsmittel auf die Fortbewegung wirken (vgl. BSG vom 13. November 2012, aaO.). Diese versicherte Gefahr verwirklicht sich jedoch nur dann, wenn keine konkurrierende Ursache als für den Unfall wesentlich anzusehen ist.

34

Zwar kommt eine Alkoholisierung des Versicherten als wesentliche, konkurrierende Unfallursache grundsätzlich in Betracht, dies kann hier aber nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden.

35

Für Unfälle unter Alkoholeinfluss hat das Bundessozialgericht drei Fallgruppen unterschieden. Wird für den Unfallzeitpunkt ein Vollrausch festgestellt, fehlt es schon an einer dem Grunde nach versicherten Tätigkeit (vgl. BSG vom 13. November 2012, aaO., Rn. 23), bei absoluter Fahruntüchtigkeit wird die Ursächlichkeit der Alkoholisierung widerleglich vermutet (vgl. BSG vom 30. Januar 2007, B 2 U 23/05 R, Rn. 22 –, juris) während für eine solche Annahme bei relativer Fahruntüchtigkeit weitere Anhaltspunkte hinzukommen müssen (vgl. BSG vom 30. Januar 2007, aaO., Rn. 23).

36

Beim Versicherten ist – zurückgerechnet auf den Unfallzeitpunkt – eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,93 ‰ zugrunde zu legen, sodass eine relative Fahruntüchtigkeit festzustellen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist daher nach weiteren Anhaltspunkten für eine Ursächlichkeit des Alkoholkonsums für den Unfall zu suchen. Das BSG hat hierzu ausgeführt:

37

„Bei einer relativen Fahruntüchtigkeit mit einer BAK von unter 1,1 ‰ kann der Alkoholgenuss zwar auch von überragender Bedeutung für den Eintritt des Unfallereignisses sein, sodass der Unfall nicht als durch die versicherte Zusammenhangskette wesentlich verursacht anzusehen ist. Dies setzt jedoch voraus, dass neben der BAK aus weiteren Beweisanzeichen in Form von alkoholtypischen Ausfallerscheinungen darauf geschlossen werden kann, dass der Versicherte wegen der Folgen des Alkoholgenusses fahruntüchtig und damit der Alkoholgenuss die überragende Ursache für das Unfallereignis war. Als Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit hat das BSG angesehen: Die Fahrweise des Versicherten, z.B. überhöhte Geschwindigkeit, Fahren in Schlangenlinien, plötzliches Bremsen, aber auch sein Verhalten vor, bei und nach dem Unfall (BSGE 45, 285, 289 = SozR 2200 § 548 Nr. 38). Weitere Beweisanzeichen wären, worauf das LSG zu Recht hinweist, z.B. das Missachten von Vorfahrtszeichen oder einer roten Ampel, das Überqueren einer großen Kreuzung ohne Reduzierung der Geschwindigkeit. Zur Würdigung dieser Beweisanzeichen hat das BSG ausgeführt, dass ein Fehlverhalten nur dann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit beweist, wenn es nicht ebenso gut andere Ursachen haben kann, wie z.B. Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung usw., und dass nicht jedes Beweisanzeichen einzeln, sondern alle zusammen zu betrachten sind (BSG, aaO.). Als weitere nicht verkehrsbedingte Beweisanzeichen kommen in Betracht das Benehmen bei Polizeikontrollen, aber auch ein sonstiges Verhalten, das eine alkoholbedingte Enthemmung und Kritiklosigkeit erkennen lässt (BGH, Urteil vom 22. April 1982 - 4 StR 43/82 - BGHSt 31, 42, juris RdNr 9 mwN.). Je geringer die festgestellte BAK ist, desto höhere Anforderungen sind an den Beweiswert dieser sonstigen Beweisanzeichen zu stellen, um eine allein wesentliche Verursachung des Unfalls durch eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zu bejahen (BSGE 43, 110, 113 = SozR 2200 § 548 Nr. 27; BSGE 45, 285, 289 = SozR 2200 § 548 Nr. 38). Aber selbst bei einer BAK von 0,44 ‰ - wie beim Kläger - ist sie nicht ausgeschlossen (BSGE 43, 110, 113, aaO.), es müssen jedoch besonders gravierende oder außergewöhnliche Verhaltensweisen bzw. Ausfallerscheinungen festgestellt werden (BSGE 45, 285, 290 = SozR 2200 § 548 Nr 38). Dem hat sich die Literatur im Ergebnis ebenfalls angeschlossen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, aaO., § 8 SGB VII RdNr. 12.46; Keller, aaO., § 8 RdNr 353; Krasney, aaO., § 8 RdNr. 351, 358 f, 364; Ricke, aaO., § 8 SGB VII RdNr. 117) und auch daran ist festzuhalten.

38

Zur praktischen Anwendung im Rahmen der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Hinblick auf das Revisionsvorbringen ist auf Folgendes hinzuweisen: Ebenso wie die der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Verrichtung zur Zeit des Unfalls müssen die BAK und die weiteren für eine Fahruntüchtigkeit sprechenden Beweisanzeichen mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen und es muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von ihrer naturwissenschaftlichen Mitverursachung des Unfallereignisses auszugehen sein. Darauf aufbauend hat in einem weiteren Schritt die wertende Beurteilung zu erfolgen, ob die versicherte Ursache wesentlich für das Unfallereignis war oder ob die konkurrierenden Ursachen von überragender Bedeutung waren. Diese Beurteilung kann angesichts der anzustellenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, der verschiedenen Beweisanzeichen, der Gründe für sie usw. nur in einem Schritt im Rahmen einer Gesamtbetrachtung erfolgen (BSGE 45, 285, 289 = SozR 2200 § 548 Nr. 38; Keller, aaO., RdNr. 353 und Ricke, aaO., RdNr. 117: Summationsbeweis). Eine Zerlegung in zwei Stufen - wie anscheinend die Beklagte meint - zunächst Feststellung der Fahruntüchtigkeit und dann deren Abwägung mit der versicherten Ursache - ist aufgrund des Miteinanderverwobenseins der verschiedenen Gesichtspunkte praktisch nicht möglich.“ (vgl. BSG vom 30. Januar 2007, aaO., Rn. 23f.)

39

Der Versicherte lag hier bei seinem Unfall mit einer BAK von 0,93 ‰ im oberen Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit, so dass nach dem Stufenmodell des BSG zwar weitere Beweisanzeichen objektiv festgestellt werden müssen, um den Versicherungsschutz des SGB VII auszuschließen, jedoch an den Beweiswert dieser Beweisanzeichen keine überhöhten Anforderungen zu stellen sind. Dies bedeutet aber nicht, dass es ausreichen würde, das Vorliegen entsprechender Beweisanzeichen nur aufgrund der Gesamtumstände anzunehmen. Vielmehr müssen zusätzlich in der Fahrweise oder in dem sonstigen Verhalten des Verunfallten liegende Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit positiv festgestellt werden.

40

Die objektive Beweislast für das Vorliegen solcher weiterer Beweisanzeichen für eine Ursächlichkeit der Alkoholisierung trifft dabei die Beklagte (vgl. hierzu BSG vom 30. Januar 2007, aaO., Rn. 26).

41

Derartige Anzeichen sind beim Versicherten jedoch nicht mit der erforderlichen Gewissheit festzustellen. Es gibt keinerlei Belege dafür, dass den Arbeitskollegen des Versicherten oder anderen Verkehrsteilnehmern vor dem Unfall alkoholbedingte Ausfallerscheinungen aufgefallen wären. Entsprechende Beobachtungen nach dem Unfall waren aufgrund der unfallbedingten Bewusstlosigkeit ebenfalls nicht möglich. Soweit von der Polizei eine Ursächlichkeit des Alkoholkonsums vermutet worden ist, stellt dies keinen Beleg, sondern lediglich eine wertende Betrachtung dar, die nicht geeignet ist, dies als Tatsache mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festzustellen. Gleiches gilt im Ergebnis für das Fehlen von Brems- oder Schleuderspuren. Diese mögen zwar bei alkoholbedingten Unfällen häufig fehlen, jedoch gilt dies beispielsweise ebenfalls für Unfälle bei Übermüdung oder leichtsinniger Fahrweise.

42

Es mag zwar bei lebensnaher Betrachtung wahrscheinlich sein, dass der Alkoholkonsum des Versicherten die wesentliche Unfallursache gewesen ist. Dies reicht nach dem Stufenmodell des BSG aber nicht aus, da zusätzlich zu der vorliegenden relativen Fahruntüchtigkeit weitere Beweisanzeichen nicht positiv festgestellt werden können.

43

Ein weitergehender Ausschluss des Unfallversicherungsschutzes aufgrund von Alkoholkonsum verbietet sich auch im Hinblick auf § 7 Abs. 2 SGB VII. Denn hierin kommt der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck, dass ein verbotswidriges Verhalten, wie es auch das alkoholisierte Fahren darstellt, grundsätzlich den Versicherungsschutz nicht ausschließen soll. Daher muss ein solcher Ausschluss – wie durch das Stufenmodell des BSG gewährleistet – auf Fälle mit ganz erheblicher alkoholbedingter Beeinträchtigung begrenzt bleiben. Anderenfalls würde es einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn anderes verbotswidriges Verhalten wie z.B. stark überhöhte Geschwindigkeit, leichtsinniges Überholen, übermüdetes Fahren oder die Benutzung von Mobiltelefonen während der Fahrt wegen § 7 Abs. 2 SGB VII als nicht anspruchsvernichtend eingestuft würde, jedes Maß an Alkoholisierung aber die Annahme eines Arbeitsunfalls ausschlösse.

44

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

45

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG durch den Senat zuzulassen, bestehen nicht.

46

Der Streitwert ist nach der mit der Klage geltend gemachten Klagforderung festzusetzen, denn gemäß § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 52 Abs. 3 GKG ist bei einer Klage auf eine bezifferte Geldleistung deren Höhe maßgebend.


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