Urteil vom Landessozialgericht für das Saarland - S 23 KR 242/15

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 04.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.02.2015 verurteilt, dem Kläger das Gerät „My AirVo 2“ zu gewähren und den Kläger von den bisher entstandenen Kosten für Verbrauchsmaterialien nach dem 04.12.2014 freizustellen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Hilfsmittels.

Der 2011 geborene Kläger, der bei der Beklagten krankenversichert ist, leidet u. a. unter einer genetischen Epilepsie und einer epilepsiebedingten Encephalopathie. Es treten therapiefraktäre Anfälle auf. Die fehlende Spontanmotorik führt zu einem fast vollständigen Fehlen von Husten, was eine Reinigung der Atemwege notwendig macht.

Der Kläger ist in Pflegestufe III mit erhöhter Einschränkung der Alltagskompetenz eingestuft.

Mit Verordnung des behandelnden Arztes A. Du./ P. vom 27.11.2014 und mit Kostenvoranschlag der Firma Sa. vom 02.12.2014 über 3.676,86 Euro beantragte der Kläger die Gewährung eines „My AirVo 2“ mit Zubehör zur Sekretolyse und Atemunterstützung.

Mit Bescheid vom 04.12.2014 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, das verordnete Mittel sei kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen und Richtlinien.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 18.12.2014 Widerspruch, den er u. a. damit begründete, ohne das begehrte Gerät drohe längerfristiger Krankenhausaufenthalt.

Der von der Beklagten daraufhin eingeschaltete Sozialmedizinische Dienst (SMD) hielt in seiner Stellungnahme vom 12.01.2015 fest, der beantragte Warmluftbefeuchter sei nicht in einer Produktgruppe des Hilfsmittelverzeichnisses aufgeführt. Angesichts der bereits bewilligten intensivpflegerischen Betreuung mit der Möglichkeit regelmäßiger Absaugungen sei die vom Kläger befürchtete Einweisung mit stationärer Behandlung wegen rezidivierender Bronchiopneumonien nicht nachvollziehbar.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 27.02.2015 unter Vertiefung ihrer eigenen Argumentation und unter Wiederholung der medizinischen Ansicht des SMD zurück.

Am 27.03.2015 hat der Kläger Klage erhoben.

Er trägt vor, eine Gewährung des beantragten Hilfsmittels sei nicht dadurch ausgeschlossen, dass dieses nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen sei.

Das verordnete Gerät werde vornehmlich in Kliniken eingesetzt. Da er wegen seines reduzierten Allgemeinzustands und wegen der Medikamente, die zum Einsatz kämen, flach atme, entstehe anhaltend Bronchialsekret, das nicht abgehustet werden könne. Das verordnete Gerät vermöge das tiefst festsitzende Sekret zu lockern und die physiologische Atmung zu unterstützen.

Er behauptet, das „tiefe Absaugen“ sei lebensnotwendig erforderlich, jedoch nicht allein ausreichend. Die wiederholten Absaugungen seien zudem hoch belastend, führten zum Austrocknen der Schleimhäute und regten die verstärkte Schleimproduktion an. Mit Hilfe des verordneten Hilfsmittels könne das selbständige Abhusten ermöglicht, jedenfalls aber das Absaugen vermindert und deutlich erleichtert werden.

Das verordnete Gerät sei ihm von der Firma Sa. l. ab dem 24.11.2014 (leihweise) zur Verfügung gestellt worden. Er benötige aber auch alle 2 Monate neue Verbrauchsteile.

Der Kläger habe das begehrte Gerät bereits im klinischen Bereich benutzen können, wo er hierdurch adäquate Fortschritte gemacht habe. Im November 2014 habe er keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als ein vergleichbares Gerät in Einsatz zu bringen, da er von August an bis zur leihweisen Überlassung mehrere Rückfälle erlitten habe, die einen Aufenthalt in der Klinik nach sich gezogen hätten.

Des Weiteren hat der Kläger eine Produktbeschreibung und ein Attest des behandelnden Arztes A. Du. vom 24.03.2015 zu den Akten gereicht.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2015 zu verurteilen, dem Kläger das verordnete Gerät „My AirVO 2“ zu gewähren und den Kläger von den bisher entstandenen Kosten für Verbrauchsmaterialien nach dem 04.12.2014 freizustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung zunächst auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide und führt weiter aus, es handele sich um ein Produkt mit einer Wirkungsweise, welche bisher zur Klinischen Behandlung eingesetzt worden sei und nun erstmalig auch für den häuslichen Bereich Anwendung finden solle. Allerdings sei nach Ansicht des medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund die Funktionsweise des Gerätes bisher fraglich, da keine Studien bekannt seien.

Die Kammer hat Beweis erhoben gemäß Beweisanordnung vom 20.04.2015 durch Einholung eines Gutachtens bei dem Sachverständigen Prof. Dr. O. Sch. zu den Fragen:

1. „Ist es medizinisch erforderlich, den Kläger mit dem Hilfsmittel High-Flow-Warmluftbefeuchter zu versorgen, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen?
2. Gibt es andere, kostengünstigere Alternativen?
3. Handelt es sich bei dem Hilfsmittel um einen Gegenstand, der als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist?“

Wegen des Ergebnisses der Beweiserhebung wird auf das zu den Gerichtsakten gereichte Gutachten des Sachverständigen vom 10.08.2015 (Blatt 41-90 der Akten) Bezug genommen.

Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Beklagte hat daraufhin noch vorgetragen, es handele sich bei dem Gerät um eine Versorgung, welche noch nicht dem Stand der Medizin entspreche. Der Sachverständige habe keine Ausführungen zu Alternativen gemacht.

Daraufhin hat die Kammer eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen eingeholt, die dieser unter dem 12.11.2015 erstellt und zu den Gerichtsakten gegeben hat (Blatt 105 bis 107 der Akten).

Die Beteiligten hatten wiederum Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Beklagte hat weiter ausgeführt, der Hersteller des begehrten Produktes habe den Antrag auf Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis für den Einsatz im häuslichen Bereich kurz vor Erteilung eines ablehnenden Bescheides zurückgezogen.

Nach Ansicht des medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund sei die Funktionstauglichkeit des Gerätes bisher fraglich, da der therapeutische Nutzen und die Qualität des Produktes für den häuslichen Bereich bisher nicht nachgewiesen worden sei. Nach Auffassung des GKV Spitzenverbandes sei der erforderliche Nachweis des medizinischen Nutzens für die in Anspruch genommenen Indikationen im vorliegenden Fall nicht erbracht. Der genannte Spitzenverband vertrete weiterhin die Auffassung, dass es sich möglicherweise um eine neue Behandlungsmethode handele. Es bestehe keine Abrechnungsmöglichkeit nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM). Ferner sei die gewählte Methode nicht in der Anlage I der Richtlinien „Methoden vertragsärztlicher Versorgung“ genannt. Das beantragte Behandlungsverfahren stehe auch nicht zur Beratung im Gemeinsamen Bundesausschuss an.

Des Weiteren lägen auch weder die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V noch ein Systemversagen vor.

Letztlich sei der SMD der Ansicht, es sei nicht zu erwarten, dass die Versorgung mit dem begehrten Gerät zu einer wesentlichen weiteren Verbesserung im Gesundheitszustand des Kindes führe.

Die Beklagte hat noch ein Gutachten des SMD vom 01.02.2016 zu den Gerichtsakten gereicht.

Dem entgegen behauptet der Kläger, es handele sich nicht um den Bestandteil einer neuen Behandlungsmethode. Zur weiteren Begründung seines Begehrens hat der Kläger noch zahlreiche ärztliche Unterlagen (Blatt 164 bis 187 der Akten) zu den Gerichtsakten gereicht.

Abschließend hat die Beklagte noch eine Stellungnahme des SMD vom 17.03.2016 zu den Akten gereicht.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Verwaltungsunterlagen der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Am 18.03.2016 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Wegen des Ergebnisses wird auf das betreffende Sitzungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist insgesamt zulässig.

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 04.12.2014, der in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.02.2015 Gegenstand des Rechtsstreits ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung des beantragten Hilfsmittels „My AirVO 2“ gemäß §§ 11 Abs. 1 Ziffer 4, 27 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3, 33, 34 SGB V.

Dies gilt auch unter Ansehung der genannten Vorschriften in Verbindung mit § 13 Abs.3 SGB V im Hinblick auf die Kosten für die bislang bereits beschafften und zum Betrieb des Geräts notwendigen Verbrauchsmaterialien, die sich der Kläger ab dem 04.12.2014 selbst beschafft hat. Da der Kläger bislang keine Rechnung hierüber erhalten hat, jedoch eine schuldrechtliche Verpflichtung eingegangen ist, hat die Beklagte ihn von dieser Verpflichtung freizustellen.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich für die Kammer aus den vorgelegten Unterlagen sowie dem Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Sch..

Das begehrte Gerät „My AirVO 2“ ist als Hilfsmittel zur Behandlung der Erkrankung des Klägers zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich. Es ist auch nicht gemäß § 34 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen, was unstreitig ist. Letztlich handelt es sich auch nicht um eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V in Verbindung mit § 92 SGB V.

Im Einzelnen:

1. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, die bisherige Nichtaufnahme des begehrten Gerätes in das Hilfsmittelverzeichnis (bzw. die Rücknahme des Antrags auf Aufnahme in das genannte Verzeichnis) hindere die Gewährung desselben, irrt sie.

Denn die - bisherige – Nichtaufnahme ist ohne Einfluss auf die Rechtslage.

Zum Einen ist es so, dass dieses Verzeichnis bereits für die Versicherten und die Krankenkassen nicht verbindlich ist (vgl. Krauskopf, soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 33 Anm. 24).

Dies muss umso mehr für die Freiheit von einer eventuellen Bindungswirkung seitens der Gerichte gelten, soweit eine medizinische Notwendigkeit gegeben ist.

Zum Anderen hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass bei entsprechendem Krankheitsbild eine Indikation für Hilfsmittel außerhalb des Hilfsmittelverzeichnisses vorliegen kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.04.2008, B 3 KR 8/07 R).

2. Es handelt sich bei dem begehrten Gerät auch - entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht um eine neue Behandlungsmethode.

Gemäß § 135 Abs. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende positive Empfehlung abgegeben hat.

Das begehrte Gerät, das zunächst ein Hilfsmittel ist, kann im Rahmen seiner Funktionsweise – Zuführung von erwärmtem und befeuchtetem Sauerstoff mit hohem Fluss – auch eine Behandlungsmethode darstellen, für die dann das Erfordernis des § 135 SGB V gelten könnte (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 08.07.2015, B 3 KR 6/14 R und B 3 KR 5/14 R).

Die Kammer kann die Frage, ob es sich um eine Behandlungsmethode handelt – wofür vieles spricht – offen lassen, da es sich jedenfalls nicht um eine Neue handelt.

Zum Einen ist das Gerät zwar in seiner Bauweise nunmehr dem häuslich-ambulanten Gebrauch angepasst. Die Funktionsweise aber ist identisch mit derjenigen der Geräte, die in pneumologischen Fachkliniken Anwendung finden.

Des Weiteren ist der therapeutische Nutzen zumindest identisch mit dem der bislang üblichen Geräte; mögliche Risiken und negative Aspekte der Wirtschaftlichkeit sind nicht zu erkennen.

Letztlich will die Kammer darauf hinweisen, dass wohl niemand allen Ernstes behaupten möchte, es handele sich bei der Zuführung von erwärmter und befeuchteter Luft um ein neues, eigenes wissenschaftliches Konzept.

Dies hat wohl auch der von der Beklagten des Öfteren zitierte GKV-Spitzenverband so gesehen, der dies in seiner Stellungnahme vom 15.10.2013 (Blatt 170, 171 der Akten) deutlich in diesem Sinne zum Ausdruck gebracht hat.

3. Aufgrund der dargelegten Anwendungsbeobachtungen in pneumologischen Fachkliniken (Blatt 164 bis 169 der Akten und Blatt 175 bis 187 der Akten), die keine wissenschaftlich fundierten Entgegnungen in den entsprechenden Fachkreisen gefunden haben und aufgrund der tatsächlich häufigen klinischen Anwendung ist für die Kammer auch bewiesen, dass das begehrte Hilfsmittel den Qualitätsanforderungen und dem Stand der medizinischen Erkenntnisse, § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, entspricht.

4. Letztlich liegt für den Kläger auch durch die Gewährung des begehrten Hilfsmittels ein evidenter medizinischer Nutzen vor.

Diesbezüglich hat der vom Gericht bestellte Sachverständige Prof. Dr. Sch. in seinem Gutachten ausgeführt:

„L. ist ein motorisch und geistig schwerstbehindertes Kind. Sein durch eine Spontanmutation genetisch bedingtes Anfallsleiden ist therapierefraktär. Aufgrund der ständigen Anfälle hat sich eine epilepsibedingte Encephalopathie (Schädigung und Abbau von Hirngewebe) entwickelt. Die Hirnschädigung ist progredient.

Sekundär sind dadurch Schluckstörungen und häufiges Erbrechen aufgetreten, die eine Nahrungsversorgung über eine Sonde notwendig machen, die die Nahrung direkt in den Dünndarm – jenseits des Magens – appliziert. Trotzdem kommt es jetzt noch, insbesondere im Rahmen von Anfällen zum Erbrechen von Magensaft und kleineren Mengen Nahrung.

Durch die ausgeprägte muskuläre Hypotonie (Kraftlosigkeit der Muskulatur) kommt die praktisch vollständig fehlende normale Spontanmotorik zustande. Außerdem führt sie zu einem ebenfalls fast vollständigen Fehlen eines Hustens, der zur Reinigung der Atemwege notwendig ist. Damit verbleibt Sekret, dass sich normalerweise in den Atemwegen bildet und bei gesunden Kindern und Erwachsenen durch körperliche Bewegung und Husten aus den Atemwegen befördert wird, dort liegen. Zusätzlich fehlt auch der natürliche Schutz vor eindringenden kleinen Partikeln und Flüssigkeiten (z. B. erbrochener Mageninhalt) durch fehlenden Hustenreiz, insuffizienten oder gar nicht vorhandenen Husten und fehlende Koordination des Schluckaktes. Das in den Atemwegen liegende Sekret und die immer wieder erfolgenden Aspirationen führen über eine praktisch nicht zu verhindernde bakterielle Besiedlung immer wieder zu Lungenentzündungen und damit mittelfristig zu einer dauerhaften Schädigung der Lunge.

Zur Prophylaxe von Lungenentzündungen und zur Verbesserung des Sekretverhaltens in den Atemwegen werden bei L. durch Betreuerin und Familie häufige Inhalationen 3-8 x/Tag und mehrfach in der Nacht) mittels Pariboy (Feuchtinhalator) durchgeführt. Hierbei kommen nach ärztlicher Anordnung auch mehrere Medikamente zum Einsatz. Da L. das Sekret auch in recht flüssigem Zustand kaum aus den oberen Atemwegen abhusten und ausspucken bzw. schlucken kann, muss dieses mittels eines Absauggerätes immer wieder entfernt werden. Ein Absaugen ist sehr häufig (mehrfach jede Stunde) notwendig. Erfolgt das Absaugen nicht regelmäßig, so ist an der Sauerstoffmessung ein deutlicher Abfall zu erkennen.“ (siehe Seite 4 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Er sieht in der Verwendung des begehrten Gerätes eine große Zahl von medizinischen Vorteilen:

„Das hier zu begutachtende Gerät „My AirVO 2“ kommt bei L. im infektfreien Zustand mindestens 1x tgl. zum Einsatz. Derzeit wird es der Familie trotz fehlender Kostenzusage der Krankenkasse bzw. Rentenversicherung zur Benutzung zur Verfügung gestellt. Bahnt sich ein Infekt an oder ist der Sekretverhalt in den Atemwegen verstärkt vorhanden, so erfolgt die Inhalation mit diesem Gerät 4 bis 5 x während der Wachphasen und vor allem im Schlaf über einen längeren Zeitraum von insgesamt ca. 14 Stunden pro Tag. Es werden mehrere Vorteile für das Gerät „My AirVO2“ gesehen:

a) Die Inhalation ist über eine Nasenbrille ohne Notwendigkeit einer Gesichtsmaske möglich und wird vom Patienten sehr gut toleriert.
b) Die Inhalation läuft über einen längeren Zeitraum (meist 2-3 Stunden) kontinuierlich und führt zu einer effektiven Sekretolyse.
c) Das Sekret kann deutlich schonender und effektiver abgesaugt werden.
d) Die Sauerstoffsättigung des Blutes verbessert sich unter diesen Inhalationen regelmäßig.
e) L. wird unter den wenig invasiven nasalen Inhalationen deutlich ruhiger und hat vor allem auch längere und erholsamere Schlafphasen“ (siehe Seite 5 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Ebenso – und auch das ist für die Frage der Wirtschaftlichkeit von hoher Bedeutung – werden die Vorteile zukünftig sicher zu weniger Infektionen der Lunge und daraus resultierenden stationären Klinikaufenthalten führen (siehe Seite 6 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Den weiteren Einwendungen der Beklagten ist der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.11.2015 mit überzeugender Begründung entgegen getreten.

Den umfassenden, in sich geschlossenen und nachvollziehbaren Erkenntnissen des der Kammer als äußerst erfahren bekannten Sachverständigen schließt sie sich vollinhaltlich an.

Da die Beklagte somit mit Ausgangsbescheid vom 04.12.2014 die Gewährung des Hilfsmittels zu Unrecht abgelehnt hat, andererseits der Kläger hinsichtlich des von dem Leistungserbringer freiwillig zur Verfügung gestellten Gerätes keiner rechtlichen Verbindlichkeit unterliegt, war eine Gewährung auszusprechen.

Hinsichtlich des nach dem 04.12.2014 angeschafften notwendigen Zubehörs hat die Beklagte den Kläger von den Kosten, sobald und soweit eine Rechnung des Leistungserbringers erstellt ist, gemäß § 13 Abs. 3, 2. Alternative SGB V freizustellen.

Nach alledem war der Klage abschließend in vollem Umfang mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist insgesamt zulässig.

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 04.12.2014, der in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.02.2015 Gegenstand des Rechtsstreits ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung des beantragten Hilfsmittels „My AirVO 2“ gemäß §§ 11 Abs. 1 Ziffer 4, 27 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3, 33, 34 SGB V.

Dies gilt auch unter Ansehung der genannten Vorschriften in Verbindung mit § 13 Abs.3 SGB V im Hinblick auf die Kosten für die bislang bereits beschafften und zum Betrieb des Geräts notwendigen Verbrauchsmaterialien, die sich der Kläger ab dem 04.12.2014 selbst beschafft hat. Da der Kläger bislang keine Rechnung hierüber erhalten hat, jedoch eine schuldrechtliche Verpflichtung eingegangen ist, hat die Beklagte ihn von dieser Verpflichtung freizustellen.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich für die Kammer aus den vorgelegten Unterlagen sowie dem Gutachten des vom Gericht bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Sch..

Das begehrte Gerät „My AirVO 2“ ist als Hilfsmittel zur Behandlung der Erkrankung des Klägers zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich. Es ist auch nicht gemäß § 34 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen, was unstreitig ist. Letztlich handelt es sich auch nicht um eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 135 SGB V in Verbindung mit § 92 SGB V.

Im Einzelnen:

1. Soweit die Beklagte der Ansicht ist, die bisherige Nichtaufnahme des begehrten Gerätes in das Hilfsmittelverzeichnis (bzw. die Rücknahme des Antrags auf Aufnahme in das genannte Verzeichnis) hindere die Gewährung desselben, irrt sie.

Denn die - bisherige – Nichtaufnahme ist ohne Einfluss auf die Rechtslage.

Zum Einen ist es so, dass dieses Verzeichnis bereits für die Versicherten und die Krankenkassen nicht verbindlich ist (vgl. Krauskopf, soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 33 Anm. 24).

Dies muss umso mehr für die Freiheit von einer eventuellen Bindungswirkung seitens der Gerichte gelten, soweit eine medizinische Notwendigkeit gegeben ist.

Zum Anderen hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass bei entsprechendem Krankheitsbild eine Indikation für Hilfsmittel außerhalb des Hilfsmittelverzeichnisses vorliegen kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.04.2008, B 3 KR 8/07 R).

2. Es handelt sich bei dem begehrten Gerät auch - entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht um eine neue Behandlungsmethode.

Gemäß § 135 Abs. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende positive Empfehlung abgegeben hat.

Das begehrte Gerät, das zunächst ein Hilfsmittel ist, kann im Rahmen seiner Funktionsweise – Zuführung von erwärmtem und befeuchtetem Sauerstoff mit hohem Fluss – auch eine Behandlungsmethode darstellen, für die dann das Erfordernis des § 135 SGB V gelten könnte (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 08.07.2015, B 3 KR 6/14 R und B 3 KR 5/14 R).

Die Kammer kann die Frage, ob es sich um eine Behandlungsmethode handelt – wofür vieles spricht – offen lassen, da es sich jedenfalls nicht um eine Neue handelt.

Zum Einen ist das Gerät zwar in seiner Bauweise nunmehr dem häuslich-ambulanten Gebrauch angepasst. Die Funktionsweise aber ist identisch mit derjenigen der Geräte, die in pneumologischen Fachkliniken Anwendung finden.

Des Weiteren ist der therapeutische Nutzen zumindest identisch mit dem der bislang üblichen Geräte; mögliche Risiken und negative Aspekte der Wirtschaftlichkeit sind nicht zu erkennen.

Letztlich will die Kammer darauf hinweisen, dass wohl niemand allen Ernstes behaupten möchte, es handele sich bei der Zuführung von erwärmter und befeuchteter Luft um ein neues, eigenes wissenschaftliches Konzept.

Dies hat wohl auch der von der Beklagten des Öfteren zitierte GKV-Spitzenverband so gesehen, der dies in seiner Stellungnahme vom 15.10.2013 (Blatt 170, 171 der Akten) deutlich in diesem Sinne zum Ausdruck gebracht hat.

3. Aufgrund der dargelegten Anwendungsbeobachtungen in pneumologischen Fachkliniken (Blatt 164 bis 169 der Akten und Blatt 175 bis 187 der Akten), die keine wissenschaftlich fundierten Entgegnungen in den entsprechenden Fachkreisen gefunden haben und aufgrund der tatsächlich häufigen klinischen Anwendung ist für die Kammer auch bewiesen, dass das begehrte Hilfsmittel den Qualitätsanforderungen und dem Stand der medizinischen Erkenntnisse, § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, entspricht.

4. Letztlich liegt für den Kläger auch durch die Gewährung des begehrten Hilfsmittels ein evidenter medizinischer Nutzen vor.

Diesbezüglich hat der vom Gericht bestellte Sachverständige Prof. Dr. Sch. in seinem Gutachten ausgeführt:

„L. ist ein motorisch und geistig schwerstbehindertes Kind. Sein durch eine Spontanmutation genetisch bedingtes Anfallsleiden ist therapierefraktär. Aufgrund der ständigen Anfälle hat sich eine epilepsibedingte Encephalopathie (Schädigung und Abbau von Hirngewebe) entwickelt. Die Hirnschädigung ist progredient.

Sekundär sind dadurch Schluckstörungen und häufiges Erbrechen aufgetreten, die eine Nahrungsversorgung über eine Sonde notwendig machen, die die Nahrung direkt in den Dünndarm – jenseits des Magens – appliziert. Trotzdem kommt es jetzt noch, insbesondere im Rahmen von Anfällen zum Erbrechen von Magensaft und kleineren Mengen Nahrung.

Durch die ausgeprägte muskuläre Hypotonie (Kraftlosigkeit der Muskulatur) kommt die praktisch vollständig fehlende normale Spontanmotorik zustande. Außerdem führt sie zu einem ebenfalls fast vollständigen Fehlen eines Hustens, der zur Reinigung der Atemwege notwendig ist. Damit verbleibt Sekret, dass sich normalerweise in den Atemwegen bildet und bei gesunden Kindern und Erwachsenen durch körperliche Bewegung und Husten aus den Atemwegen befördert wird, dort liegen. Zusätzlich fehlt auch der natürliche Schutz vor eindringenden kleinen Partikeln und Flüssigkeiten (z. B. erbrochener Mageninhalt) durch fehlenden Hustenreiz, insuffizienten oder gar nicht vorhandenen Husten und fehlende Koordination des Schluckaktes. Das in den Atemwegen liegende Sekret und die immer wieder erfolgenden Aspirationen führen über eine praktisch nicht zu verhindernde bakterielle Besiedlung immer wieder zu Lungenentzündungen und damit mittelfristig zu einer dauerhaften Schädigung der Lunge.

Zur Prophylaxe von Lungenentzündungen und zur Verbesserung des Sekretverhaltens in den Atemwegen werden bei L. durch Betreuerin und Familie häufige Inhalationen 3-8 x/Tag und mehrfach in der Nacht) mittels Pariboy (Feuchtinhalator) durchgeführt. Hierbei kommen nach ärztlicher Anordnung auch mehrere Medikamente zum Einsatz. Da L. das Sekret auch in recht flüssigem Zustand kaum aus den oberen Atemwegen abhusten und ausspucken bzw. schlucken kann, muss dieses mittels eines Absauggerätes immer wieder entfernt werden. Ein Absaugen ist sehr häufig (mehrfach jede Stunde) notwendig. Erfolgt das Absaugen nicht regelmäßig, so ist an der Sauerstoffmessung ein deutlicher Abfall zu erkennen.“ (siehe Seite 4 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Er sieht in der Verwendung des begehrten Gerätes eine große Zahl von medizinischen Vorteilen:

„Das hier zu begutachtende Gerät „My AirVO 2“ kommt bei L. im infektfreien Zustand mindestens 1x tgl. zum Einsatz. Derzeit wird es der Familie trotz fehlender Kostenzusage der Krankenkasse bzw. Rentenversicherung zur Benutzung zur Verfügung gestellt. Bahnt sich ein Infekt an oder ist der Sekretverhalt in den Atemwegen verstärkt vorhanden, so erfolgt die Inhalation mit diesem Gerät 4 bis 5 x während der Wachphasen und vor allem im Schlaf über einen längeren Zeitraum von insgesamt ca. 14 Stunden pro Tag. Es werden mehrere Vorteile für das Gerät „My AirVO2“ gesehen:

a) Die Inhalation ist über eine Nasenbrille ohne Notwendigkeit einer Gesichtsmaske möglich und wird vom Patienten sehr gut toleriert.
b) Die Inhalation läuft über einen längeren Zeitraum (meist 2-3 Stunden) kontinuierlich und führt zu einer effektiven Sekretolyse.
c) Das Sekret kann deutlich schonender und effektiver abgesaugt werden.
d) Die Sauerstoffsättigung des Blutes verbessert sich unter diesen Inhalationen regelmäßig.
e) L. wird unter den wenig invasiven nasalen Inhalationen deutlich ruhiger und hat vor allem auch längere und erholsamere Schlafphasen“ (siehe Seite 5 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Ebenso – und auch das ist für die Frage der Wirtschaftlichkeit von hoher Bedeutung – werden die Vorteile zukünftig sicher zu weniger Infektionen der Lunge und daraus resultierenden stationären Klinikaufenthalten führen (siehe Seite 6 des Gutachtens vom 10.08.2015).

Den weiteren Einwendungen der Beklagten ist der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.11.2015 mit überzeugender Begründung entgegen getreten.

Den umfassenden, in sich geschlossenen und nachvollziehbaren Erkenntnissen des der Kammer als äußerst erfahren bekannten Sachverständigen schließt sie sich vollinhaltlich an.

Da die Beklagte somit mit Ausgangsbescheid vom 04.12.2014 die Gewährung des Hilfsmittels zu Unrecht abgelehnt hat, andererseits der Kläger hinsichtlich des von dem Leistungserbringer freiwillig zur Verfügung gestellten Gerätes keiner rechtlichen Verbindlichkeit unterliegt, war eine Gewährung auszusprechen.

Hinsichtlich des nach dem 04.12.2014 angeschafften notwendigen Zubehörs hat die Beklagte den Kläger von den Kosten, sobald und soweit eine Rechnung des Leistungserbringers erstellt ist, gemäß § 13 Abs. 3, 2. Alternative SGB V freizustellen.

Nach alledem war der Klage abschließend in vollem Umfang mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.

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