Urteil vom Oberlandesgericht Oldenburg (6. Zivilsenat) - 6 U 165/06

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24. Juli 2006 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg aufgehoben und die Klage - entsprechend der von der Klägerin geltend gemachten Haftungsquote von 2/3 - dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

Zur Höhe wird das Verfahren aufgehoben und die Sache an das Landgericht, das auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden hat, zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen einer Kollision eines von ihr gemieteten Triebfahrzeugs mit einer im Gleisbereich befindlichen Gleisschraubmaschine. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zwar könne die Beklagte als für den Bau und die Unterhaltung, für die Betriebsleit- und Sicherungssysteme und die Sicherheit der Strecke verantwortliches Eisenbahninfrastrukturunternehmen auch von dem Eisenbahnverkehrsunternehmen grundsätzlich nach § 1 I HPflG in Anspruch genommen werden. Eine Haftung sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nach § 1 II 1 HPflG ausgeschlossen, weil es sich bei dem Unfall um höhere Gewalt gehandelt habe. Wegen der Einzelheiten der Begründung und der tatsächlichen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).

2

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Sie rügt zum einen eine fehlerhafte Beweiswürdigung und wendet sich zum anderen gegen die Bewertung des Unfalls als höhere Gewalt.

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Die Klägerin beantragt,

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1. das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an sie 175.295,87 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 12. Januar 2006 zu zahlen;

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2. hilfsweise die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.

6

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil und wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen.

II.

9

Die Berufung ist zulässig und begründet. Der Klägerin steht dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch aus § 1 I HPflG zu. Dass das Haftpflichtgesetz auch im Verhältnis zwischen Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen Anwendung findet, entspricht mittlerweile gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, NZV 2004, 245).

10

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Haftung hier nicht wegen höherer Gewalt nach § 1 II HPflG ausgeschlossen. Höhere Gewalt in diesem Sinne ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte herbeigeführtes Ereignis, das unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist (vgl. BGH, NZW 2004, 245, 248; Filthaut, HPflG, 6. Aufl., § 1 Rdn. 158 m.w.N.).

11

Nach den vom Landgericht getroffenen und vom Senat zugrunde zu legenden Feststellungen ist der Schaden dadurch verursacht worden, dass eine neben den Gleisen gelagerte Gleisschraubmaschine (sog. Robel) von unbekannten Dritten in der Zeit zwischen 21:44 Uhr und 22:15 Uhr auf die Schienen gelegt worden war. Die Gleisschraubmaschine hatte ein Gewicht von 40 kg. Sie war nach dem Ende der Gleisbauarbeiten neben der Gleisanlage auf einem etwas erhöht liegenden Damm gelagert worden, um dort am nächsten Tag die unterbrochenen Arbeiten fortsetzen zu können. Besondere Sicherungs- oder Überwachungsmaßnahmen sind nicht getroffen worden. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann hier allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass das Gelände „im Prinzip“ nicht zugänglich war. Denn der Weg endete (nur) 200 m vor der Unfallstelle. Ein Wohngebiet von R... lag nur 100 m entfernt. Es war zwar durch einen bewachsenen Wall getrennt. Dieser war aber offensichtlich nicht unüberwindbar. Dass die Geräte dort befindlich sind, ist u.a. auch aus den vorbeifahrenden Zügen zu erkennen. Größere Geräte waren auch von der Bundesstraße aus sichtbar, weil der Lagerungsort auf dem Gleis erhöht war.

12

Gegen die getroffenen Feststellungen wendet sich die Klägerin ohne Erfolg. Die Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden. Es ist insbesondere nicht rechtsfehlerhaft, dass sich das Landgericht bei seinem Feststellungen nicht an der Formulierung im Beweisbeschluss orientiert hat. Es ist von § 286 I ZPO gedeckt, dass das Gericht ggfs. über die Beweisfrage hinausgehende Feststellungen trifft. Letztlich wird aus den Berufungsangriffen auch nicht deutlich, in welchem Punkt die getroffenen Feststellungen für fehlerhaft gehalten werden. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind vom Senat daher nach § 529 I Nr. 1 ZPO zugrunde zu legen. Mit dem Landgericht geht der Senat deshalb davon aus, dass hier ein Sabotageakt von unbekannten Dritten vorlag. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann dieses Ereignis jedoch nicht als unabwendbar bzw. auch bei Anwendung äußerster Sorgfalt als unvermeidbar und damit als höhere Gewalt angesehen werden. Auch das Landgericht geht davon aus, dass es einen Grundsatz, wonach eine Gefährdung des Bahnverkehrs durch Verbrechen nicht zu vermeiden sei, nicht gibt. Vielmehr kann und muss von der Beklagten erwartet werden, dass der Bahnkörper und die Gleise regelmäßig überwacht und Unbefugte von ihnen ferngehalten werden (vgl. Filthaut, HPflG, 7. Aufl., § 1 Rdn. 187 m.w.N.). Im vorliegenden Fall bestand die Gefahr, dass Dritte, möglicherweise Jugendliche, auf den Gedanken kommen, die neben den Gleisen gelagerten Geräte (als Streich oder Sabotage?) auf die Gleise zu legen. Dieser Gedanke ist nicht so fernliegend, dass hier auf Sicherheitsmaßnahmen ohne weiteres verzichtet werden durfte. Zumindest in diesem konkreten Baubereich hätte eine Überwachung stattfinden oder die Geräte an einen sicheren Ort verbracht werden müssen. Auch unter Berücksichtigung des von dem Zeugen beschriebenen Gewichts der Gleisschraubmaschine von rund 40 kg waren Sicherungsmaßnahmen geboten und auch zumutbar. Selbst wenn man unterstellte, dass die Maschine von einer Person allein nicht getragen werden kann, so ist der Gedanke doch nicht fernliegend, dass sich an der Sabotageaktion nicht nur einer, sondern mehrere Personen (Jugendliche?) beteiligen. Allein das Gewicht der Maschine ließ den hier eingetretenen Fall, dass die Maschine auf die Gleise verbracht werden könnten, jedenfalls nicht derart unwahrscheinlich erscheinen, dass Sicherungsmaßnahmen überflüssig und nicht zumutbar wären. Im übrigen erscheint es, wenn man in den Akten befindlichen Lichtbilder der Gleisschraubmaschine (Bd. I, Bl. 102 f d.A. und Bildmappe Anlage K 3 des Anlagenbandes) betrachtet, durchaus möglich, dass auch nur eine Person die Maschine transportiert hat. Denn die Gleisschraubmaschine weist handliche Griffe auf und ein Gewicht von 40 kg kann durchaus auch von einer Person bewältigt werden. Hinzu kommt, dass es nicht erforderlich war, die Maschine zu tragen, sondern es reichte aus, die Maschine auf die Gleise zu ziehen. Ist aber die Gefahr, dass Dritte in dieser Weise unbefugt Zugriff auf die Maschine nehmen und diese - aus welchen Gründen auch immer - auf die Gleise ziehen und damit die Sicherheit des Schienenverkehrs in erheblicher Weise gefährden, nicht gänzlich unwahrscheinlich, muss man von der Beklagten erwarten, dass sie die Gleisschraubmaschine nach Bauende entweder regelmäßig entfernt, sie z.B. durch anketten oder Einzäunen des Baubereichs zusätzlich sichert oder jedenfalls den fraglichen Bereich überwacht. Solche Sicherungsmaßnahmen sind nach Auffassung des Senats für die Beklagte nicht unzumutbar, zumal sie auf einen überschaubaren Zeitraum, nämlich die Dauer der Gleisbauarbeiten, beschränkt bleiben.

13

Die Beklagte ist deshalb dem Grunde nach zum Schadensersatz aus § 1 I HPflG verpflichtet. Dabei war zu berücksichtigen, dass auch die Klägerin aufgrund der von der Betriebsgefahr der Triebfahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr eine Mithaftungsquote zu tragen hat (vgl. BGH, NZV 2004, 245, 247/248). Die von der Klägerin geltend gemachte Haftungsquote von 2/3 ist nicht zu beanstanden (vgl. auch Senatsurteil vom 05.05.2006 - 6 U 03/06 und BGH , a.a.O., der ebenfalls eine Quote von 1/3 zu 2/3 nicht beanstandet hat).

14

Die Schadenshöhe ist zwischen den Parteien streitig. Insoweit sind weitere Beweiserhebungen, u.a. ein Sachverständigengutachten zur Angemessenheit der Reparaturkosten usw., erforderlich. Insoweit hat der Senat auf Antrag der Klägerin die Sache gemäß § 538 II 1 Nr. 4 ZPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Soweit es um Schäden an dem Triebwagen selbst geht, weist der Senat darauf hin, dass gegen die Aktivlegitimation der Klägerin keine Bedenken bestehen. Denn die LVNG hat ihre (etwaigen) Ansprüche an die Klägerin am 30.12.2005 abgetreten. Der Abtretung steht entgegen der Auffassung der Beklagten nicht entgegen, dass Ansprüche der Eigentümerin nach § 1 III HPflG ausgeschlossen sind. Schon nach seinem Wortlaut bezieht sich § 1 III HPflG nur auf zur Aufbewahrung angenommene (Nr. 1) bzw. beförderte Sachen (Nr. 2) und nicht auf die Schienenfahrzeuge selbst. Denn das Schienenfahrzeug wird nicht befördert, sondern befördert selbst. So wird beispielsweise auch der im Zug mitgeführte Speisewagen nicht als „beförderte Sache“ angesehen (vgl. Filthaut, HPflG, 7. Aufl., § 1 Rdn. 193; a.A. LG Gießen, VersR 1969, 551). An dieser Beurteilung vermag der Umstand, dass die Klägerin nicht Eigentümerin der Schienenfahrzeuge ist, sondern diese bei der LNVG mietet, nichts zu ändern. Es ist nach Auffassung des Senats auch nicht so, dass die Klägerin die Schienenfahrzeuge bewusst den Gefahren des Schienenverkehrs ausgesetzt hat, da das Schienenfahrzeug selbst Bestandteil des Schienenverkehrs ist. Auch der Bundesgerichtshof hat grundlegend entschieden, dass das Eisenbahnverkehrsunternehmen durch den Betrieb des Schienenfahrzeugs zwar eine selbständige Gefahr schaffe. Andererseits werde aber auch durch das Infrastrukturunternehmen ein selbständiger Gefahrenbereich geschaffen, für den dieses nach der Aufspaltung der Betriebsbereiche eigenständig Verantwortung trage; und zwar auch gegenüber dem Verkehrsunternehmen (BGH, Urteil vom 17.02.2004, NZV 2004, 245, 247). Auch wenn der Bundesgerichtshof zu dem Haftungsausschluss nach § 1 III HPflG nicht ausdrücklich Stellung genommen hat, lässt sich der Entscheidung doch entnehmen, dass auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs die Vorschrift des § 1 III HPflG einer Haftung nicht entgegen steht. Denn wenn in Fällen der vorliegenden Art ein Haftungsausschluss nach § 1 III HPflG eingreifen würde, könnte das Eisenbahnverkehrsunternehmen für die Beschädigung von Schienenfahrzeugen durch auf den Schienen liegende Hindernisse niemals Ersatz verlangen. Im übrigen stehen der Klägerin aber auch Ansprüche aus eigenem Recht zu, da sie nach dem Mietvertrag verpflichtet ist, Schäden an den von der LNVG gemieteten Schienenfahrzeugen auf eigene Kosten zu beseitigen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist diese Klausel nicht wegen Verstoßes gegen § 307 BGB bzw. § 9 AGBG unwirksam. Denn eine unangemessene Benachteiligung der Klägerin als Mieterin ist darin nicht zu sehen, weshalb dahinstehen kann, ob und ggfs. in welchem Umfang das AGBG bzw. die §§ 305 ff BGB auf die Klägerin und die LNVG Anwendung finden, was u.a. davon abhängen würde, ob der Mietvertrag von der Klägerin oder der LNVG verwendet worden ist.

III.

15

Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, weil noch nicht endgültig abzusehen ist, in welchem Umfang die eine oder andere Partei unterliegt (vgl. BGH, Urteil vom 24.02.1959, VRS 16, 404, 406). Die Entscheidung war nach § 708 Nr. 10 ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären (vgl. Gummer/Heßler in Zöller, ZPO, 26. Aufl., § 538 Rdn. 59). Auch eine Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO war aufzunehmen, um sicher zu stellen, dass sich die Beklagte gegen Maßnahmen der Klägerin, die sich gegen eine von der Beklagten betrieben Zwangsvollstreckung richten, nur gegen Leistung einer Sicherheit wenden kann. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§§ 543 II 1, 544 ZPO).

 


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