Urteil vom Oberlandesgericht Düsseldorf - 8 U 192/00
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 19. Oktober 2000 verkündete Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Mönchengladbach unter Zu-rückweisung des weitergehenden Rechtsmittels zum Teil aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen und im üb-rigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefaßt:
Der Beklagte wird unter Abweisung des Antrages im übrigen verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 35.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 24. November 1999 zu zahlen.
Der Anspruch auf Zahlung eines Verdienstausfallschadens ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen und immaterielle Schäden zu ersetzen, die ihm aus der ärztlichen Inanspruchnahme des Beklagten am 19. Januar 1997 ent-standen sind und noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
Wegen der Entscheidung über den Anspruch auf Zahlung eines Ver-dienstausfallschadens wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Ent-scheidung an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Rechtsstreites in beiden Instanzen zu befinden hat.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 38.000 DM abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Sicherheiten können auch durch Bürgschaft einer deutschen Bank oder Sparkasse erbracht werden.
1
T a t b e s t a n d
2Wegen Unterleibsbeschwerden bat der am 28. Juni 1939 geborene Kläger am Sonntag den 19. Januar 1997 um einen Hausbesuch des Beklagten, der als Allgemeinmediziner an diesem Tag den ärztlichen Notdienst im Bereich von N. versah. Aufgrund der um 08.45 Uhr von dem Beklagten durchgeführten Untersuchung des Klägers - deren Umfang zwischen den Parteien streitig ist - ging der Beklagte von dem Beschwerdebild einer - seinerzeit gehäuft auftretenden - Gastroenteritis aus, verabreichte dem Kläger eine krampflösende Injektion und verordnete Buscopan-Zäpfchen.
3Um 11.30 Uhr desselben Tages suchte der Kläger den Beklagten in seiner Praxis auf, nach Darstellung des Klägers wegen zunehmender Schmerzen, nach Darstellung des Beklagten gemäß seiner entsprechenden Anweisung anläßlich des Hausbesuches. Nach Durchführung einer sonographischen Untersuchung des Bauchraumes verblieb der Beklagte bei der Diagnose einer Gastroenteritis und schrieb den Kläger bis einschließlich 21. Januar 1997 arbeitsunfähig. In der Behandlungskartei des Beklagten ist vermerkt:
4"Immer noch bestehende Bauchbeschwerden. Sono Abdomen: Steatosis hepatis, sonst o.B. Keine freie Flüssigkeitsansammlung, kein Nachweis von Gallen- oder Nierensteinen"
5Wegen anhaltender Schmerzen begab sich der Kläger am 21. Januar 1997 in die Behandlung seines Hausarztes Dr. W. Dieser äußerten den Verdacht auf das Vorliegen einer akuten Appendicitis und wies den Kläger sofort zur Behandlung in das Allgemeine Krankenhaus V. ein. Ausweislich des dortigen Berichtes vom 22. Januar 1997 (GA 57) zeigte die klinische Untersuchung bei der Aufnahme des Klägers um 11.15 Uhr eine erhebliche Druckschmerzhaftigkeit im rechten Unterbauch über dem Mc Burney'schen Punkt sowie einen geringen Loslaßschmerz. Beim Anheben des rechten Beins gegen einen Widerstand verspürte der Kläger dagegen keinen Schmerz. Das Abdomen war weich und hatte keinerlei Abwehrspannung. Die rektal gemessene Körpertemperatur betrug 38,1 Grad und die sublingual gemessene 36,8 Grad. Unter der Diagnose "akute Appendicitis" wurde der Kläger sofort operiert. Aus dem Operationsbericht (GA 50) geht hervor, daß sich nach Eröffnung des Abdomens trübe eitrige Flüssigkeit entleerte. Der Befund wird im übrigen wie folgt beschrieben:
6"Das Coecum liegt im rechten Mittelbauch und läßt sich mit Mühe vor die Bauchdecke luxieren. Die Mesoappendix ist stark geschwollen und gerötet. Der Wurmfortsatz liegt retrocoecal. Mit Kletterligatur wird der Wurmfortsatz freigelegt. 2/3 des Wurmfortsatzes sind total nekrotisch verändert. Die Mesoappendix ist stark geschwollen und zeigt keine nekrotisierenden Veränderungen. ..."
7Der postoperative Verlauf war kompliziert: Ab dem 3. postoperativen Tag setzte bei dem Kläger eine Darmatonie ein. Am 5. postoperativen Tag zeigte eine Röntgenuntersuchung erheblich luftgefüllte Dünndarmschlingen mit Flüssigkeitsspiegeln. Aus einer eingelegten Magensonde entleerten sich insgesamt 3 l Flüssigkeit. Am 7. postoperativen Tag kam es zu einem Temperaturanstieg und eine weitere Röntgenuntersuchung des Bauchraumes zeigte massiv geblähte Dünndarmschlingen im Sinne eines Ileus, was zu einer sofortigen Relaparotomie führt. Es erfolgte eine Revision der Bauchdecke und die Nekrosektomie des subkutalen Gewebes. Die darunter liegende Faszie war nekrotisch verändert und mußte resiziert werden. Nach Eröffnung der peritonealen Naht wurde die Bauchhöhle revidiert, wobei sich im ehemaligen Appendixlager ein massiver perityphlitischer Abszeß fand. Etwa 800 ml Dünndarm-inhalt konnte oralwerts ausmassiert und über die Magensonde abgesaugt werden. Die Bauchhöhle wurde gespült und auf ihren primären Verschluß verzichtet. Der Kläger wurde nach Operationsende beatmet und auf die Intensivstation verbracht. Die im weiteren vorgesehenen Lavagen erfolgten am 28. Januar, 1. Februar und 3. Februar 1997. Anläßlich des letzten Eingriffs wurde die Bauchhöhle abschließend geschlossen. Am 4. Februar 1997 konnte die Beatmung aufgehoben werden. Die Magensonde wurde am 9. Februar 1997 entfernt und mit einem Nahrungsaufbau begonnen. Am 2. März 1997 konnte der Kläger in die ambulante Behandlung seines Hausarztes entlassen werden.
8Der Kläger macht Ersatzansprüche geltend. Er hat dem Beklagten unter Bezugnahme auf die Bescheide der von ihm eingeschalteten Gutachterkom-mission für ärztliche Behandlungsfehler vom 14. Oktober 1998 (GA 21) und 24. März 1999 (Bestätigungsbescheid, GA 37) vorgeworfen, die akute Appendicitis am 19. Januar 1997 nicht erkannt und die dringend erforderlichen ärztlichen Maßnahmen nicht in die Wege geleitet zu haben. Obwohl er dem Beklagten bereits bei dessen Hausbesuch von starken Unterbauchbeschwerden berichtet habe, habe dieser nach dem Abtasten insbesondere des Oberbauches der Galle und der Nierenlager die Frage nach einer Blinddarmbeteiligung verneint. Es sei fehlerhaft gewesen, eine weitergehende Diagnostik durch Blutentnahme und Temperaturmessung - auch bei der Vorstellung in der Praxis - zu unterlassen. Der Kläger hat geltend gemacht, die unzureichende Diagnostik des Beklagten habe zu der Operationsverzögerung und damit zu den eingetretenen Komplikationen geführt. Hierdurch sei er letztlich erwerbsunfähig geworden, wodurch ihm ein Verdienstausfallschaden entstanden sei, den er bis zum 30. Juni 1999 mit 21.062,91 DM beziffert. Neben der Erstattung des Verdienstausfallschadens hat der Kläger die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 DM begehrt. Dieses hat er mit den sich seines Erachtens wegen der nicht rechtzeitig operierten akuten Appendicitis eingetretenen Komplikationen, die mehrere Operationen zur Folge hatten, ihn körperlich verunstaltet hätten und wegen ihrer Auswirkungen jede körperliche Betätigung unmöglich machten, begründet.
9Der Kläger hat beantragt,
101. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 21.062,91 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Dezember 1998 zu zahlen;
112. den Beklagten weiter zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 50.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 24. November 1999;
123. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus dem Behandlungsfehler vom 19. Januar 1997 künftig entstehen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger und andere Dritte übergehen.
13Der Beklagte hat beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Der Beklagte hat eine Verantwortlichkeit für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers bestritten und behauptet, angesichts dessen Klagen über Übelkeit, Durchfall und Oberbauchkoliken und eines weichen Ober- und Unterbauches ohne Abwehrspannung sei er bei den Untersuchungen am 19. Januar 1997 zu Recht von einer - seinerzeit grassierenden - Gastroenteritis ausgegangen und habe eine Appendicitis ausgeschlossen. Weil zum Zeitpunkt der von ihm durchgeführten Untersuchung des Klägers keine auf eine akute Appendicitis hinweisenden Symptome vorgelegen hätten, sei entgegen der Auffassung der Gutachterkommission eine weitergehende differenzialdiagnostische Abklärung nicht erforderlich gewesen. Im übrigen hat der Beklagte bestritten, daß bei der von ihm durchgeführten Untersuchung bereits eine akute Appendicitis vorlag und behauptet, diese könne sich aus der von ihm diagnostizierten Gastroenteritis kurzfristig entwickelt haben. Der Umstand, daß der Kläger erst rund 48 Stunden später seinen Hausarzt aufgesucht habe, spreche dafür, daß sich die akute Appendicitis erst im weiteren Verlauf entwickelt habe; im übrigen sei dem Kläger selbst der Vorwurf zu machen, seinen Hausarzt nicht früher aufgesucht zu haben. Der Beklagte hat schließlich die Schadenberechnung des Klägers bestritten.
16Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Chefarztes des Marienhospitals A. Prof. Dr. N. sowie durch Anhörung des Sachverständigen. Mit Urteil vom 19. Oktober 2000 hat das Landgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es könne nicht festgestellt werden, daß sich Fehler des Beklagten in der Diagnostik ausgewirkt haben, weil am 19. Januar 1997 oder am Folgetag eine akute Appendicitis möglicherweise auch durch weitergehende Untersuchungen nicht hätte festgestellt werden können und auch bei einer früheren Diagnose ein anderer Verlauf als der eingetretene nicht zwingend sei.
17Gegen die Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Berufung. Er vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag, wonach das diagnostische Vorgehen des Beklagten völlig unzureichend gewesen sei und ist der Auffassung, daß ihm wegen der Schwere des Fehlverhaltens Erleichterungen beim Nachweis des Kausalverlaufes zukommen müßten.
18Der Kläger beantragt,
19unter Abänderung des angefochtenen Urteils
201. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 21.062,91 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Dezember 1998 zu zahlen;
212. den Beklagten zu verurteilen, an ihn darüber hinaus ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 50.000 DM sowie 4 % Zinsen auf den Schmerzensgeldbetrag seit dem 24. November 1999;
223. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche weitere materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus der ärztlichen Inanspruchnahme des Beklagten am 19. Januar 1997 entstanden sind und noch entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.
23Der Beklagte beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Beklagte wiederholt und vertieft seinen erstinstanzlichen Sachvortrag und macht geltend, ihm seien entgegen der Bewertung des Landgerichts keine Fehler bei der Behandlung des Klägers vorzuwerfen. Im übrigen verteidigt er die landgerichtliche Entscheidung, soweit die Klage mangels Kausalitätsnachweises abgewiesen worden ist.
26Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2001 durch Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. N. ergänzend Beweis erhoben.
27Wegen des Beweisergebnisses wird auf den Berichterstattervermerk vom 18. Oktober 2001 (GA 343-359) verwiesen.
28Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien eingereichten Schriftsätze Bezug genommen.
29E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
30A.
31Die zulässige Berufung des Klägers führt teilweise zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht sowie im übrigen zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung. Der Kläger kann nach § 847 BGB von dem Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von 35.000 DM verlangen; darüber hinaus ist der Beklagte nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzungen gemäß den §§ 611, 242, 276, 249 ff. BGB zum Ersatz des materiellen Schadens und aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung zum Ersatz des künftigen immateriellen Schadens verpflichtet. Weil über den von dem Beklagten bestrittenen Verdienstausfallschaden des Klägers nicht abschließend entschieden werden kann, war insoweit ein Grundurteil zu erlassen.
32I.
33Der Beklagte hat für die infolge des Blinddarmdurchbruchs bei dem Kläger eingetretenen Komplikationen und Beeinträchtigungen haftungsrechtlich einzustehen:
341.)
35Die von dem Landgericht begonnene und von dem Senat durch Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. N. fortgesetzte Beweisaufnahme hat überzeugend ergeben, daß der Beklagte in hohem Maße fehlerhaft handelte, als er den Kläger
36- obwohl er angesichts der am 19. Januar 1997 erhobenen Befunde und der nur unvollständigen Diagnostik das Vorliegen einer Appendicitis nicht sicher ausschließen durfte - nicht kurzfristig für den Folgetag zur erneuten Untersuchung und Überprüfung des Beschwerdebildes einbestellte. Hätte der Beklagte entsprechend gehandelt, wäre die - seinerzeit tatsächlich vorliegende - Blinddarmentzündung wahrscheinlich erkannt und so rechtzeitig operiert worden, daß es nicht zu einem Durchbruch mit den sich im weiteren hieraus ergebenden erheblichen Komplikationen gekommen wäre.
37a) Nicht vorzuwerfen ist dem Beklagten allerdings, daß es ihm im Ergebnis nicht gelungen ist, am 19. Januar 1997 die wahrscheinlich bereits im Zeitpunkt der Erstuntersuchung vorhandene Appendicitis anhand der durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen zu erkennen:
38Der Sachverständige Prof. Dr. N. hat deutlich gemacht, daß eine akute Blinddarmentzündung vornehmlich anhand klinischer Symptome festzustellen ist:
39Typischerweise kommt es zu teilweise mit Übelkeit und Erbrechen verbundenen akuten Schmerzen im Bereich des Bauchnabels und des Oberbauches. Häufig ist ferner ein Wandern des Schmerzes in den rechten Unterbauch sowie ein bei der Palpation der Bauchdecke dort feststellbarer Druckschmerz, meist an dem sog. Mc. Burney'schen Punkt. Anzutreffen sind bisweilen ferner eine peritoneale Abwehrreaktion, ein Anstieg der Körpertemperatur sowie ein Leukozytenanstieg.
40Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß die Untersuchungen des Beklagten bei dem Hausbesuch des Klägers sowie in der Notfallsprechstunde am Sonntag den 19. Januar eine akute Appendicitis bestätigten: Daß sich aufgrund der klinischen Untersuchung des Beklagten entsprechende Anzeichen ergaben ist nicht feststellbar. Der Beklagte selbst macht geltend, die erhobenen Befunde hätten eher gegen eine von ihm durchaus zunächst in Erwägung gezogene Appendicitis gesprochen. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß die Diagnostik einer Appendicitis angesichts des adipösen Körperbaus des Klägers und der - wie sich später herausstellte - retrocoecalen Lage des Blinddarms ohnehin erschwert war, so daß es nachvollziehbar ist, wenn der Beklagte aufgrund seiner Diagnosemaßnahmen den Verdacht einer Appendicitis nicht bestätigt sah. Der Sachverständige hat das von dem Beklagten dokumentierte und beschriebene Untersuchungsergebnis insoweit als neutral bezeichnet, weil es weder für noch gegen das Vorliegen einer Appendicitis sprach.
41b) Ob es dem Beklagten vorzuwerfen ist, nicht bereits am Sonntag weitere Diagnosemaßnahmen durchgeführt zu haben, kann im Ergebnis offen bleiben. Fest steht zwar, daß er nicht sämtliche zur Bestätigung oder zum Ausschluß einer Appendicitis erforderlichen Untersuchungsmaßnahmen ergriffen hatte: So wäre eine Blutuntersuchung zur Bestimmung der Leukozytenzahl sowie eine Temperaturdifferenzmessung nebst rektaler Untersuchung in Betracht gekommen. Prof. Dr. N. hat es indes als fraglich angesehen, ob hierdurch bereits am 19. Januar 1997 sichere Erkenntnisse hätten gewonnen werden können: Wegen der atypischen Lage des Blinddarms hätte eine rektale Untersuchung voraussichtlich keinen eindeutigen Befund ergeben, und die Temperaturdifferenzmessung gibt zu einem frühen Zeitpunkt der Appendicitis häufig keine sicheren Hinweise auf einen entsprechenden Befund. Hinzu kommt, daß das Ergebnis der ambulanten Blutuntersuchung voraussichtlich nicht bereits am selben Tag hätte in Erfahrung gebracht werden können. Insoweit hat der Sachverständige bei seiner Anhörung vor dem Landgericht zum Ausdruck gebracht, daß er selbst die Appendicitis am 19. Januar 1997 vermutlich nicht erkannt hätte.
42c) Prof. Dr. N. hat im Ergebnis aber keine Zweifel daran gelassen, daß angesichts des von dem Beklagten erkannten Beschwerdebildes und des Fehlens einer gesicherten Diagnose der Verdacht einer Appendicitis fortbestand: Die von dem Beklagten beschriebene Schmerzsymptomatik bei dem Kläger konnte durchaus Zeichen einer akuten Blinddarmentzündung sein und war entgegen der Bewertung des Beklagten nicht als für eine Appendicitis atypisch anzusehen. Zwar kam mangels sicherer diagnostischer Abklärung als Verdachtsdiagnose auch die von dem Beklagten vermutete Gastroenteritis als Ursache der Beschwerden in Betracht; weil sich diese allerdings - ebenfalls - nicht sicher bestätigen ließ, mußte - so der Sachverständige - angesichts des Unterlassens weiterer zur Befundabklärung erforderlicher Untersuchungsmaßnahmen in jedem Fall unverändert mit dem Vorliegen einer Appendicitis gerechnet werden.
43Prof. Dr. N. hat - in Übereinstimmung mit der Beurteilung durch die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler - in Anbetracht dieser Befundlage letztlich keinen Zweifel daran gelassen, daß die Beschwerdesymp-tomatik und ihre Entwicklung der engmaschigen ärztlichen Überwachung bedurfte: Zwar hat er seine allgemeine Erläuterung vor dem Landgericht, wonach es bei dem Anfangsverdacht einer Appendicitis einer Aktualisierung der Untersuchungen alle 12 Stunden bedarf, bei seiner Anhörung vor dem Senat für den Fall des Klägers nur teilweise bestätigt. Er hat allerdings deutlich gemacht, daß es bei einem (hier) nicht ausgeräumten Verdacht einer Appendicitis in jedem Fall einer Wiedervorstellung des Patienten innerhalb von 24 Stunden - im Falle der Beschwerdeverschlechterung auch früher - bedurfte, weil sich in dieser Zeit neue wesentliche Gesichtspunkte ergeben konnten, die - sofern sich eine Appendicitis dann bestätigte - ein schnelles ärztliches Handeln erforderten.
44Diesem Erfordernis hat der Beklagte nicht genügt. Selbst wenn er den Kläger
45- was dieser bestreitet - darauf hingewiesen hat, er solle sich bei Anhalten oder der Verschlimmerung der Beschwerden wieder vorstellen oder ein Krankenhaus aufsuchen, war dies als völlig unzureichend anzusehen. Weil das Vorliegen einer Appendicitis differentialdiagnostisch weiter in Erwägung zu ziehen war, mußte für den Fall einer Bestätigung dieser Diagnose mit - sich für den Kläger tatsächlich ergebenden - dramatischen Veränderungen, die eine sofortige Operation erforderlich machten, gerechnet werden. Unter diesen Umständen reichte der Hinweis auf eine Wiedervorstellung bei Fortbestand oder Verschlimmerung der Beschwerden nicht aus, zumal sich nach der Beschreibung des Sachverständigen die Beschwerdesymptomatik bei Beginn eines Blinddarmdurchbruchs in manchen Fällen sogar bessert, der Patient also von sich aus die dringende Erforderlichkeit weiterer Untersuchungen oder die Notwendigkeit einer Operation gar nicht sicher einschätzen kann. Im übrigen war der Hinweis des Beklagten nicht geeignet, dem Kläger deutlich vor Augen zu führen, daß sich für ihn eine gefährliche Situation dann entwickeln könnte, wenn sich der nicht ausgeräumte Verdacht einer Appendicitis bestätigen würde. Mit seiner Empfehlung überließ der Beklagte es mehr oder weniger dem Kläger selbst, ob er nach laienhafter Bewertung seinen Zustand als so schlimm empfand, daß er sich erneut in ärztliche Behandlung begeben mußte. Ein solches ärztliches Verhalten erachtet der Senat als nicht vertretbar. Prof. Dr. N. ist insoweit auch zu dem Schluß gekommen, daß es des ausdrücklichen Hinweises an den Kläger bedurft hätte, sich am nächsten Tag (Montag den 20. Januar) erneut zur Untersuchung vorzustellen. Dies unterlassen zu haben, ist dem Beklagten als ein Fehlverhalten vorzuwerfen, das einem Arzt schlechthin nicht unterlaufen darf.
462.)
47Es ist davon auszugehen, daß die unzureichende Beobachtung des Beschwerdebildes durch den Beklagten wegen der unterlassenen Wiedereinbestellung des Klägers für den 20. Januar verantwortlich für den Blinddarmdurchbruch und die sich hieraus ergebenden Komplikationen war. Zwar ist nicht sicher festzustellen, wann es zu dem Durchbruch gekommen war: Fest steht, daß dieser sich vor der am 21. Januar vorgenommenen Operation ereignet hatte. Anhand der pathologischen Untersuchung des bei der Operation entnommenen Appendix, der vollständig nekrotisiert und mit Perforationen durchsetzt war, sieht Prof. Dr. N. es als wahrscheinlich an, daß es etwa 12 bis 24 Stunden vor der Operation, also im Laufe des 20. Januar, zum Durchbruch gekommen war. Auf die danach verbleibenden Unsicherheiten, ob die Verschlechterung des Befundes und die Notwendigkeit einer sofortigen Operation bei einer Untersuchung am 20. Januar rechtzeitig vor einem Durchbruch hätte erkannt werden können, kann sich der Beklagte nicht mit Erfolg berufen; dem Kläger sind hinsichtlich des Kausalitätsnachweises Beweiserleichterungen zuzubilligen: Entgegen der Bewertung des Landgerichts ist davon auszugehen, daß der Beklagte grob fehlerhaft handelte, indem er den notwendigen Hinweis auf eine zwingende Wiedervorstellung des Klägers für den Folgetag zwecks Durchführung erneuter bzw. ergänzender Diagnosemaßnahmen unterließ. Prof. Dr. N. hat hierzu deutlich gemacht, daß der Arzt, der - wie hier der Beklagte - das Vorliegen einer Appendicitis nach dem Beschwerdebild des Patienten nicht ausschließen darf, diesen innerhalb von 24 Stunden wieder einbestellen muß. Deshalb ist die Annahme gerechtfertigt, daß sich bei einer erneuten ärztlichen Untersuchung die auf das Vorliegen einer akuten Appendicitis hinweisende Verschlechterung des Gesundheitszustandes gezeigt und der Kläger noch vor Eintritt des Blinddarmdurchbruchs in ein Krankenhaus eingewiesen und operiert worden wäre. Weil der Beklagte die für diesen Fall notwendigen Maßnahme nicht ergriffen hat, ist er mit dem Beweis dafür zu belasten, daß sich bei einem einwandfreien Handeln mit ordnungsgemäßen diagnostischen Maßnahmen kein reaktionspflichtiger Befund ergeben und daß auch eine dann sofort eingeleitete Operation die eingetretenen Komplikationen nicht verhindert hätten. Diesen Beweis hat der Beklagte nicht erbracht. Die Ausführung von Prof. Dr. N. zeigen vielmehr, daß es im Falle einer rechtzeitigen Wiedervorstellung des Klägers und des operativen Eingriffs vor Durchbruch des Blinddarms zu den sich ergebenden Komplikationen mit Ileus, Wundheilungsstörung, Narbenbruch und mehrfachen Revisionseingriffen wahrscheinlich nicht gekommen wäre: Das Eintreten solcher Komplikationen ist danach im Falle des Blinddarmdurchbruchs wesentlich wahrscheinlicher als bei der Operation eines noch nicht durchgebrochenen Blinddarms. Diese Bewertung entspricht auch der Stellungnahme der Gutachterkommission, die davon ausgeht, daß die Komplikationen bei einer rechtzeitigen Krankenhauseinweisung dem Kläger mit großer Wahrscheinlichkeit erspart geblieben wären.
4849
II.
50Die geltend gemachten Zahlungsansprüche sind nur wegen des von dem Kläger begehrten Schmerzensgeldes zur Entscheidung reif:
511.)
52Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, das der Senat mit 35.000 DM als angemessen bewertet. Ein weitergehender Schmerzensgeldanspruch ist nicht gerechtfertigt.
53Das Schmerzensgeld soll dem Berechtigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, daß der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung schuldet. Dabei steht - von Ausnahmen abgesehen - die Ausgleichsfunktion im Vordergrund mit der Folge, daß die Höhe des Schmerzensgeldes in erster Linie vom Umfang und von den Auswirkungen der körperlichen und gesundheitlichen Schädigungen selbst abhängt. Von Bedeutung sind damit die Schmerzen, die der Verletzte zu ertragen hat, die Dauer des Schadens und verletzungsbedingte Beeinträchtigungen solcher Funktionen, die sich - wenn sie gestört oder negativ betroffen werden - ungünstig auf die Lebensführung, die Lebensqualität und damit auf das persönliche Schicksal des Verletzten auswirken.
54Unter Beachtung dieser Grundsätze ist bei der Schmerzensgeldbemessung zunächst zu berücksichtigen, daß es bei dem Kläger infolge des Blinddarmdurchbruchs zu einer komplizierten Entwicklung mit rund sechswöchiger stationärer Behandlung und mehrfachen invasiven Eingriffen kam: Nach einer sich postoperativ zunächst ergebenden konservativ behandelten Darmatomie entwickelte sich eine Bauchdeckenphlegmone mit einem septischen Krankheitsbild sowie ein Ileus des Dünndarms, weshalb eine Relaparotomie erforderlich wurde. Wegen des septischen Zustandes erfolgte zunächst ein temporärer Bauchdeckenverschluß, der - unter Beatmung des Klägers auf der Intensivstation - im weiteren durchgeführte mehrfache sogenannte Etappenlavagen bis zum Ausheilen der Bauchfellentzündung erlaubte und am 3. Februar 1997 zu einem endgültigen Bauchdeckenverschluß führte. Danach besserte sich der Allgemeinzustand des Klägers allmählich, so daß er am 2. März 1997 in die weitere ambulante Behandlung entlassen werden konnte. Ausweislich des sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung N. vom 11. Juli 1997 wurde der Kläger aufgrund der operationsbedingten körperlichen Beeinträchtigungen als - abhängig von ausstehenden Nachoperationen - voraussichtlich auf Dauer arbeitsunfähig angesehen. Wegen einer sich entwickelnden großen Narbenhernie im Operationsgebiet wurde der Kläger am 6. Januar 1998 sowie am 5. Januar 1999 erneut operiert.
55Berücksichtigt man neben dem dargestellten Krankheitsverlauf ferner, daß die weitere Wundheilung zwar positiv verlief, der Kläger andererseits unter den mit einer besonders großen Narbenbildung typischerweise verbundenen Beeinträchtigung leidet, erscheint bei der gebotenen Abwägung der Gesamtumstände ein Schmerzensgeld von 35.000 DM angemessen, aber auch ausreichend, um die immateriellen Schäden des Klägers auszugleichen.
562.)
57Der Anspruch auf Zahlung des verlangten Verdienstausfalls für die Zeit bis 30. Juni 1999 ist lediglich dem Grunde und nicht der Höhe nach entscheidungsreif. Zwar belegt bereits der komplizierte postoperative Heilungsverlauf die zeitweise krankheitsbedingte Unfähigkeit des Klägers, in seinem früher ausgeübten Beruf als Konditor tätig zu sein. Darüber hinaus ergibt sich aus dem sozialmedizinischen Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung N. vom 11. Juli 1997, daß der Kläger zum damaligen Zeitpunkt als weiterhin arbeitsunfähig anzusehen war. Allerdings ist bislang nicht geklärt, ob bei dem Kläger trotz der durchgeführten Nachoperationen von einer weiter andauernden Erwerbsunfähigkeit auszugehen ist. Darüber hinaus bestreitet der Beklagte ausdrücklich die Berechnung des geltend gemachten Verdienstausfallschadens, der ebenfalls der weiteren Aufklärung bedarf. Der Senat sieht in diesen Punkten von einer entsprechenden eigenen Aufklärung des Sachverhaltes ab und überläßt dies gemäß § 538 Abs. 1 Nr. 3 ZPO dem Landgericht.
58III.
59Das Feststellungsbegehren des Klägers ist gerechtfertigt. Angesichts der infolge des Blinddarmdurchbruchs eingetretenen Komplikationen kann die Entstehung auch künftiger weiterer materieller und immaterieller Schäden nicht ausgeschlossen werden.
60IV.
61Der zuerkannte Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 284 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.
62Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1, 108 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
63Die Beschwer des Beklagten liegt über, die des Klägers unter 60.000 DM.
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