Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-Verg 32/05
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 3. Vergabekammer des Bundes vom 4. Mai 2005 (Az. VK 3 - 22/05) aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, das Vergabeverfahren "Be-räumung von Altmunition auf dem Truppenübungsplatz A., Nordteil, Räumungskampagne 2005/2006, Vergabe-Nr.: B724032.000-T04-5874" hinsichtlich der Lose 1 - 8, 10, 13 - 24 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats in das Stadium der Angebotsaufforde-rung vor Versendung der Verdingungsunterlagen zurückzuversetzen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Vergabekammerverfahrens und des Beschwerdeverfahrens einschließlich des Verfahrens gemäß § 118 Abs. 1 Satz 3 GWB sowie die in diesen Verfahren entstandenen notwendi-gen Auslagen der Antragstellerin zu tragen.
Die Beigeladenen zu 1 - 3 tragen ihre Auslagen selbst.
Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten war für die Antrag-stellerin in beiden Nachprüfungsinstanzen notwendig.
Wert des Beschwerdeverfahrens: bis 600.000 EUR.
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(Hier Freitext: Tatbestand, Gründe etc.)
2I.
3Die Antragsgegnerin schrieb im Offenen Verfahren die Vergabe von Arbeiten zur Räumung von Altmunition auf dem Truppenübungsplatz A. europaweit in 25 Losen aus. Zuvor hatte sie unter Hinzuziehung eines Fachbüros die vorhandene Bodenbelastung erkundet und eine Kennziffer für die durchschnittlich zu räumende Fläche je Sonde und Arbeitstag erarbeitet. Diese sog. Obere Kalkulationsgröße gab sie den Bietern in Anlage 6 der Verdingungsunterlagen mit dem Zusatz bekannt, dass bei einem Überschreiten das Hauptangebot zu dem jeweiligen Los ausgeschlossen werde.
4Die Antragstellerin und die Beigeladenen zu 1 - 3 gaben für alle Lose Angebote ab, die Beigeladene zu 3 für die Lose 17 - 24 auch Nebenangebote.
5Mit Schreiben vom 10.3.2005 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin gemäß § 13 VgV, dass sie den Zuschlag nicht erhalten werde. Den Rügen der Antragstellerin half sie nicht ab.
6Mit Schriftsatz vom 23.3.2005 hat die Antragstellerin die Vergabenachprüfung betreffend die Lose 1-8, 10 und 13 - 24 beantragt. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag teils als unzulässig, teils als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin, die ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt und beantragt,
71. den Beschluss der Vergabekammer aufzuheben,
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2. der Antragsgegnerin zu untersagen,
10die Lose 1,3,10,13,15,16, 19 und 20 auf das Angebot
11der Beigeladenen zu 1,
12das Los 2 auf das Angebot der Beigeladenen zu 2,
13die Lose 4 - 8, 14, 17, 18 und 21 - 24 auf das Angebot
14der Beigeladenen zu 3
15zuzuschlagen,
163. im Falle der bereits erfolgten Zuschlagserteilung festzustellen, dass die zwischen der Antragsgegnerin und den Beigeladenen zu 1 - 3 zustande gekommenen Verträge nichtig sind und sie, die Antragstellerin, in ihren Rechten verletzt ist,
174. anzuordnen, das Vergabeverfahren in den Stand vor der Aufforderung zur Abgabe eines Angebotes zurückzuversetzen und die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut durchzuführen,
185. hilfsweise, das Vergabeverfahren aufzuheben und die Antragsgegnerin anzuweisen, den Auftrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut auszuschreiben.
19Die Antragsgegnerin und die Beigeladenen zu 1 und 3 beantragen,
20die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
21Die Beigeladene zu 2 stellt keinen Antrag.
22Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
23II.
24Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet.
251. Der Antragstellerin ist für ihre Rüge, dass sie durch die Anwendung der Oberen Kalkulationsgröße in ihren Bieterrechten verletzt wird, die Antragsbefugnis gemäß § 107 Abs. 2 GWB nicht abzusprechen. Sie hat nicht im Einzelnen darzulegen, wie sie bei vollständiger vorheriger Bekanntgabe der die Obere Kalkulationsgröße bestimmenden Faktoren kalkuliert hätte und dass sie dann das preislich günstigste Angebot abgegeben hätte. An die Darlegung der Antragsbefugnis dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Es genügt, wenn durch den einzelnen beanstandeten Vergaberechtsverstoß die Aussichten des antragstellenden Bieters auf den Zuschlag zumindest verschlechtert worden sein können. Nicht erforderlich ist, dass der Antragsteller im Sinne einer dazulegenden Kausalität nachweisen kann, dass er bei korrekter Anwendung der Vergabevorschriften den Auftrag erhalten hätte (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 29.7.2004, VergabeR 2004, 599 m.w.N.). Im Streitfall müsste ein solcher Nachweis der Antragstellerin schon daran scheitern, dass sie die übrigen Angebote nicht kennt, namentlich nicht das Angebot der Antragstellerin des Beschwerdeverfahrens VII-Verg 34/05, die den gleichen Vergaberechtsverstoß rügt. Zudem wäre für die Antragstellerin kaum darzustellen, wie sie in der gegebenen Situation tatsächlich kalkuliert hätte. Es bestanden verschiedene Möglichkeiten, trotz eines höheren Personalschlüssels zu einem geringeren Endpreis zu gelangen. Möglicherweise hätte die Antragstellerin kostengünstigere Arbeitskräfte eingesetzt oder auf Teile ihrer Gewinnmarge verzichtet. Schließlich sind selbst Unterkostenangebote nicht prinzipiell vergaberechtswidrig. Auch die Vorlage eines Nebenangebotes wäre in Betracht gekommen.
262. Der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 22.7.2005 ausgeführt, dass das Vergabeverfahren mangels Bestimmtheit der für die Obere Kalkulationsgröße relevanten Eckdaten voraussichtlich in den Stand vor der Versendung der Verdingungsunterlagen zurückzuversetzen sei. Das weitere Vorbringen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen bestätigt im Ergebnis diese Beurteilung. Die Antragsgegnerin hat den Bietern nicht klar genug vorgegeben, mit welcher Anzahl von Mitarbeitern sie ihre Angebote zu kalkulieren hatten.
27Im Anschluss an den Senatsbeschluss vom 22.7.2005 hat die Antragsgegnerin zu belegen versucht, dass sich die Anzahl der zu kalkulierenden Arbeitskräfte aus den Verdingungsunterlagen und maßgebenden Vorschriften zwingend ergebe und somit für die Bieter unverrückbar festgestanden habe. Insbesondere seien pro Sonde stets zwei Arbeitskräfte als ständig parallel arbeitendes "Räumpaar" einzurechnen gewesen. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
28Die Antragsgegnerin beruft sich auf Ziffer 5.1 des Leistungsverzeichnisses, wo auf S. 5 und 6 die zu berücksichtigenden Vorschriften aufgelistet sind, darunter auch die "Arbeitshilfen Kampfmittelräumung des BMVBW u. BMV". Schon aus den "Arbeitshilfen", so die Antragsgegnerin, ergebe sich der zwingende Einsatz eines parallel arbeitenden "Räumpaares" bei der Sondierung und Räumung. Indes heißt es dort an der hier interessierenden Stelle, Kapitel A-9.1.10:
29Geltungsbereich
30Diese Technische Spezifikation definiert einheitliche Begriffe im Bereich der Räumstellenorganisation. Sie gilt für gewerbliche Räumleistungen in den Phasen B und C.
31...
322.2.2:
33Räumpaare
34Ein Räumpaar besteht aus zwei Räumarbeitern oder einem Räumarbeiter und einem Räumhelfer.
35(Hervorhebung durch den Senat)
36Der Begriff "Räumpaar" wird in den "Arbeitshilfen" mithin nur in seiner Zusammensetzung begrifflich festgelegt ("definiert"). Nicht vorgegeben wird in den Arbeitshilfen a.a.O., dass immer ein "Räumpaar" einzusetzen sei und wie dies zu geschehen habe. Dass der "Einzelräumer" in diesem Zusammenhang begrifflich nicht näher bestimmt wird, bedeutet nicht zwingend, dass es ihn in der Praxis nicht in irgendeiner Form geben dürfe, solange zum Beispiel eine Aufsicht besteht. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Begriffsdefinitionen der "Arbeitshilfen" zugleich als eine abschließende Aufzählung des einsetzbaren Personals zu verstehen sind.
37Eine unzweideutige Anordnung über den Einsatz eines Räumpaares bei der Sondierung und Räumung ergibt sich auch nicht aus der berufsgenossenschaftlichen Regelung "BGR 114 - Zerlegen von Gegenständen mit Explosivstoff oder Vernichten von Explosivstoff oder Gegenständen mit Explosivstoff", auf die im Leistungsverzeichnis ebenfalls Bezug genommen wird. In der BGR 114 heißt es unter Ziffer 3.3:
38Beim Umgang mit Fundmunition sind grundsätzlich 2 Personen einzusetzen.
39Der Begriff "Umgang" hat indes nur einen allgemeinen Sinngehalt, der auch an anderer Stelle der BGR 114 nicht weiter konkretisiert wird. Eine Fokussierung der Textstelle auf die Tätigkeiten "Zerlegen" und "Vernichten" entsprechend dem Titel des Regelwerks kommt somit zumindest in Betracht. Bei letzterem Verständnis wäre schon aus diesem Grunde die Anordnung gemäß Ziffer 3.3 auf die hier interessierende Sondier- und Räumtätigkeit nicht anzuwenden. Entscheidend ist jedoch, dass nach Ziffer 3.3 nur "grundsätzlich" 2 Personen einzusetzen sind. Das Wort "grundsätzlich" eröffnet die Zulassung von Ausnahmen, wobei nahe liegt, dass es dabei auf die konkreten Umstände der Aufgabenstellung ankommen soll. Dies wiederum eröffnet den Unternehmen je nach Intensität ihrer Vorerkundungen und Vorkenntnisse vom Leistungsumfang organisatorische und personalplanerische Spielräume, die sich wiederum in unterschiedlichen Kalkulationen niederschlagen können. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass Ausschlussgründe mit Blick auf die im Vergabeverfahren gebotene Transparenz und Gleichbehandlung so klar und unzweideutig zu formulieren sind, dass ein unterschiedliches Verständnis der Unternehmen ausgeschlossen ist.
40Die Antragsgegnerin hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass den beteiligten Bietern aus früheren Räumkampagnen und im Übrigen aus den Anforderungen der Praxis klar gewesen sei, dass die Sondier- und Räumleistungen mit einem "Sondenpaar" erbracht werden müssen und in der Praxis auch nur so erbracht werden könnten. Auch dies überzeugt im Ergebnis unter vergaberechtlichen Aspekten jedoch nicht. Auf frühere Räumkampagnen kann die Antragstellerin nicht verwiesen werden, weil, wie dargelegt, schon die strengen berufsgenossenschaftlichen Regelungen einzelfallbezogene Spielräume für das Ob und Wie des Einsatzes von "Räumpaaren" eröffnen. Außerdem ist der Verweis auf eine frühere Praxis vergaberechtlich nicht angängig, weil die Erfahrungen und Vorkenntnisse der Bieter durchaus unterschiedlich sein werden, namentlich bei jungen Unternehmen. Vergaberechtliche Ausschlussgründe lassen sich wegen ihrer einschneidenden Rechtsfolgen auf derart unsichere Grundlagen und Hinweise auf die "Praxis" nicht stützen. Selbst wenn der Einsatz eines parallel arbeitenden Räumpaares arbeitstechnisch näher gelegen haben sollte, sind andere Arbeitsabläufe immerhin denkbar und u.a. auch davon abhängig, welche Vorerkundungen der Bieter an Ort und Stelle vorgenommen hat. Die zu vergebenden Leistungen weisen als Besonderheiten auf, dass es im Wesentlichen nur um eine Oberflächenräumung im Randbereich eines Truppenübungsplatzes geht. Überdies betrifft die Obere Kalkulationsgröße zunächst einmal nur die betriebswirtschaftliche Kalkulation des Unternehmens.
41In ihrem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 15.9.2005 hat die Antragsgegnerin zusätzlich argumentiert, dass in Ziffer 5.1. des Leistungsverzeichnisses auch auf die berufsgenossenschaftlichen Regeln der "Richtlinien für Arbeiten in kontaminierten Bereichen, BGR 128, Bezug genommen werde. Nach Ziffer 7.3 BGR 128 gelte ein "Alleinarbeitsverbot". Die Kampfmittelräumung stelle eine Arbeit dar, die nach Ziffer 3 dieser Richtlinie dem Alleinarbeitsverbot unterliege. Indes ist die BGR 128 für die in Rede stehende Räumtätigkeit nicht einschlägig. Nach Ziffer 1.2 findet die BGR 128 ausdrücklich keine Anwendung auf Arbeiten zur Bergung und Beseitigung von explosionsgefährlichen Stoffen im Sinne des Sprengstoffgesetzes, wozu - ebenfalls nach derselben BGR - insbesondere die Kampfmittelbeseitigung bzw. die Beseitigung von Fundmunition gehört. Die BGR 128 kann daher nur für die übrigen Auftragsleistungen Bedeutung haben, etwa für das Sortieren, Verpacken und Lagern von Munition und Munitionsteilen. Die Beurteilung ändert sich auch nicht durch die "Betriebsanweisung nach § 20 GefStoffV", welche die Bieter auf einer CD mit den Verdingungsunterlagen erhalten haben sollen. Dort wird ein "Arbeitsplatz Sondierer mit Spatengänger, Sortierplatz" genannt. Wie Sondierer und Spatengänger zu kooperieren haben, ordnet die Anweisung hingegen nicht an und bleibt mithin den einzelnen Unternehmen überlassen. Darüber hilft auch Ziffer 4.2 der Betriebsanweisung nicht hinweg, wo es heißt:
42"Bei Bergungsarbeiten ist die Anzahl der beteiligten Personen im Gefahrenbereich so gering wie möglich zu halten. Verbot von Alleinarbeit."
43Der Begriff der "Alleinarbeit" ist im vorliegenden Kontext unpräzise. Eine völlige Alleinarbeit steht bei der Kalkulation der Antragstellerin auch nicht in Rede, da auch sie den Einsatz von Aufsichtspersonen vorsieht und vorsehen muss.
44Die Verstöße gegen die Transparenz und Gleichbehandlung im Vergabeverfahren ergreifen im Streitfall alle verfahrensgegenständliche Lose (1 - 8, 10, 13 - 24), also nicht nur diejenigen, in denen eine Überschreitung der Oberen Kalkulationsgröße seitens der Antragstellerin in Rede steht. Die Anzahl der einzusetzenden Arbeitskräfte war für die gesamte Preiskalkulation eines Bieters relevant, nicht nur für die Obere Kalkulationsgröße. Die angeführten Vergaberechtsverstöße lassen sich somit für alle verfahrensgegenständlichen Lose nur durch die Rückversetzung in das Stadium der Angebotsaufforderung beseitigen, in dem die Vergabestelle die potentiellen Bieter mit einer Aufforderung zur Einreichung von Angeboten zugleich über die Obere Kalkulationsgröße und die hierfür maßgebenden Regeln vollständig unterrichten kann.
45III.
46Die Kostenentscheidung folgt aus § 128 Abs. 3, 4 GWB, § 91 ZPO (analog).
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