Urteil vom Oberlandesgericht Düsseldorf - 8 U 24/04
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 18. Dezember 2003 ver-kündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 20.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 14. Oktober 2002 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften Behandlung seines am 29. Dezember 1999 verstorbenen Vaters G. H. resultieren, soweit diese Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster und zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger und die Beklagte dürfen die Vollstreckung durch Sicher-heitsleistung in Höhe von jeweils 110 % des aufgrund des Urteils gegen sie jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
G r ü n d e
1A.
2Dem Vater des Klägers – Herr G. H. – wurde am 25. November 1999 in der Klinik für Herz- und Thoraxchirurgie der Beklagten unter Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine eine künstliche Herzklappe eingesetzt. Am Abend des Operationstages fiel nach der Extubation auf, dass der Patient nicht adäquat reagierte und nur auf Schmerzreize diskrete Bewegungen der Extremitäten aufwies. Ein neurologisches Konsil am 26. November 1999 ergab den Verdacht auf eine Hirnschädigung; ein am 28. November durchgeführtes CT zeigte ein diffuses Hirnödem beidseits; dieser Befund wurde durch ein Kontroll-CT vom 10. Dezember 1999 bestätigt. Mitte Dezember 1999 wurde der Patient in tief komatösem Zustand zur neurologischen Rehabilitationsbehandlung nach Bad W. verlegt. Ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, verstarb er dort am 29. Dezember 1999 aufgrund eines rechtsbetonten Herzversagens.
3Im Februar 2002 holte der Kläger ein Privatgutachten des Neurologen Prof. Dr. M. ein, der zu dem Ergebnis gelangte, der Verlauf in der Klinik der Beklagten spreche dafür, dass es intraoperativ zu einer massiven Lungenembolie gekommen sei; die „während der Herzoperation erlittene Schädigung sei so massiv, dass von einem intraoperativen Fehler, namentlich einer fehlerhaft erfolgten Entlüftung auszugehen“ sei.
4Der Kläger macht als Miterbe seines Vaters sowie aus übergegangenem Recht der übrigen Miterben Schadensersatzansprüche (Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für sämtliche materiellen Schäden) geltend. Er hat der Beklagten vorgeworfen, der Eingriff vom 25. November 1999 sei nicht sachgemäß durchgeführt worden. Die Beklagte hat Behandlungsfehler in Abrede gestellt.
5Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens abgewiesen, weil sich keine ärztlichen Versäumnisse feststellen ließen.
6Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er die Beweiswürdigung der Kammer bemängelt und rügt, sie habe sich nicht hinreichend mit dem Privatgutachten des Neurologen Prof. Dr. M. befasst und es fehlerhaft unterlassen, den Sachverständigen zu befragen, wie der Hirnschaden anders als durch Fehler anlässlich der Operation zu erklären sei.
7Der Kläger beantragt,
8unter Abänderung des angefochtenen Urteils
91.die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen genaue Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt werde, jedoch den Betrag von 75.000 € nicht unterschreiten solle, nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 14. Oktober 2002;
102.festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die aus der fehlerhaften Behandlung resultierten, soweit diese Ansprüche nicht auf Dritte übergangen seien bzw. übergingen.
11Die Beklagten beantragt,
12die Berufung zurückzuweisen.
13Sie verteidigt die Entscheidung des Landgerichts.
14Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
15Der Senat hat durch Anhörung der Sachverständigen Prof. Dr. V. und Prof. Dr. F. Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Berichterstattervermerke vom 13. Januar 2005 (Bl. 179-189 GA) und vom 29. September 2005 (Bl. 251-257 GA) verwiesen.
16B.
17Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Dem Kläger steht aus ererbtem Recht seines verstorbenen Vaters sowie aus übergegangenem Recht der Miterben – die ihre Forderungen an den Kläger abgetreten haben – ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 20.000 € zu; darüber hinaus ist die Beklagte aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB a.F.) sowie nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages zum Ersatz materieller Schäden verpflichtet.
18I.
191.Nach dem Ergebnis der in erster Instanz begonnenen und von dem Senat fortgesetzten Beweisaufnahme ist der Beklagten ein Behandlungsfehler zur Last zu legen, weil anlässlich der Herzklappenoperation vom 25. November 1999 während des Anschlusses des Patienten an die Herz-Lungen-Maschine keine ausreichende Überwachung der Vitalparameter erfolgte.
20a)Der Sachverständige Prof. Dr. V. hat anlässlich seiner Anhörung vor dem Senat deutlich gemacht, dass während der Phase der extrakorporalen Zirkulation kontinuierliche Kontrollen des Blutdrucks, des Blutflusses sowie der Sauerstoffsättigung des Blutes vorzunehmen und die diesbezüglichen Werte zu dokumentieren sind.Steht – wie es in der Klinik der Beklagten nach ihrem Vorbringen im Jahre 1999 der Fall war – keine technische Ausrüstung zur dauernden Online-Messung und Registrierung dieser Parameter zur Verfügung, müssen die Werte für den Blutdruck und Blutfluss in Abständen von 5 Minuten gemessen und von Hand in eine Tabelle eingetragen werden. Um sicherzustellen, dass die Sauerstoffversorgung des Blutes, die während der extrakorporalen Zirkulation über die künstliche Lunge erfolgt, ausreichend ist und keine Unterversorgung eintritt, müssen die Blutgaswerte alle 5 bis 10 Minuten durch manuelle Blutentnahmen mit anschließender Bestimmung des Astrup kontrolliert und dokumentiert werden. Nur stichprobenweise Blutgasanalysen in größeren Zeitabständen genügen nach den Ausführungen des Sachverständigen grundsätzlich nicht, weil dies dazu führen kann, dass eine mögliche, zu geringe Sauerstoffsättigung nicht erkannt und ausgeglichen wird und es dadurch zu einer Unterversorgung des Gehirns kommt.
21b)Den genannten Anforderungen an die Überwachung des Erblassers sind die Ärzte und/oder das cardio-technische Personal der Beklagten nicht gerecht geworden:
22Nach den Behandlungsunterlagen hat zwar alle fünf Minuten eine Blutdruckmessung stattgefunden; die erforderliche Kontrolle des Blutflusses ist hingegen nicht vermerkt. Da Messungen der Blutgaswerte nur für die Zeitpunkte 07.45 Uhr, 08.40 Uhr oder 08.42 Uhr, 08.55 Uhr, 09.27 Uhr und 10.00 Uhr dokumentiert sind, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass die notwendige kontinuierliche Kontrolle der Sauerstoffsättigung im Abstand von 5-10 Minuten unterblieb. Dass dieser Fehler nicht vorgekommen ist, hat die wegen der Dokumentationslücken beweispflichtige Beklagte nicht nachgewiesen.
232.Die fehlerhafte Überwachung ist für die gesundheitliche Schädigung des Erblassers verantwortlich. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass während der Versorgung mit Sauerstoff über die künstliche Lunge eine Unterversorgung eintrat, die mangels der gebotenen engmaschigen Kontrolle der Sauerstoffsättigung unbemerkt sowie unbehandelt blieb und zu einer Unterversorgung des Gehirns führte. Prof. Dr. V. hat dies als wahrscheinlichste Ursache für den Hirnschaden des Patienten bezeichnet und hervorgehoben, dass bereits eine Minderperfusion über einen Zeitraum von 5-10 Minuten ausreicht, um einen Hirnschaden, wie ihn der Erblasser erlitt, hervorzurufen. Auch der Sachverständige für das Fachgebiet der Neuroradiologie, Prof. Dr. F., ist aufgrund des Befundes, wie er sich auf den CT-Aufnahmen des Gehirns vom 26. und 28. November 1999 darstellt, zu dem Ergebnis gelangt, dass das Gehirn des Patienten über längere Zeit – d.h. über den Ischämietoleranz-Zeitraum hinaus – nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde. Auch nach seiner Beurteilung kommen als Gründe für die schwere hypoxische Schädigung in erster Linie ein zu niedriger Blutdruck – der allerdings ausweislich des später (nach der Anhörung des neuroradiologischen Sachverständigen) eingereichten Protokolls mit den Blutdruckwerten gemäß den Erläuterungen des Gutachters Prof. Dr. V. fernliegend ist – sowie eine Minderversorgung des Blutes mit Sauerstoff in Betracht.
24Zwar lässt sich nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. auch die von Prof. Dr. M. vermutete Luftembolie als Auslöser für die massive Hypoxie nicht völlig ausschließen – wenn sie auch mangels positiver Hinweise in den CT-Aufnahmen wenig wahrscheinlich ist -; diese verbleibende Unsicherheit hinsichtlich des Kausalverlaufs wirkt sich aber nicht zum Nachteil des insoweit grundsätzlich beweisbelasteten Klägers aus. Ihm sind hinsichtlich des Ursachenzusammenhanges zwischen dem Behandlungsfehler und dem entstandenen cerebralen Schaden Beweiserleichterungen zuzubilligen; denn die Erörterung mit dem Gutachter Prof. Dr. V. hat ergeben, dass der der Beklagten anzulastende Fehler als grobes Versäumnis zu qualifizieren ist: Prof. Dr. V. hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die kontinuierliche kurzfristige Kontrolle der Blutgaswerte im Abstand von 5 – 10 Minuten zur Vermeidung einer unbemerkt bleibenden Sauerstoffunterversorgung mit der Folge von Hirnschäden unumgänglich war. Das Personal der Beklagten hat - wovon angesichts der Dokumentation auszugehen ist - diese Verhaltensregeln bei der Überwachung des Erblassers in unverständlicher Weise außer Acht gelassen; die Kontrollen der Blutgaswerte erfolgten halbherzig nur stichprobenweise und wurden der in Betracht zu ziehenden Gefahr eines Sauerstoffmangels während der extrakorporalen Zirkulation nicht gerecht. Prof. Dr. V. hat mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass ein derartiges Versäumnis bei der Überwachung der Vitalparameter schlechterdings nicht vorkommen darf.
25II.
26Den in der Person des Erblassers nach § 847 BGB a.F. entstandenen Anspruch auf Schmerzensgeld bemisst der Senat auf insgesamt 20.000 €.
27Die wesentliche Grundlage für die Bewertung des immateriellen Schadens und die Höhe des Schmerzensgeldes bilden Art und Umfang der körperlichen Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen für den Verletzen. Im Falle des Erblassers wurde durch die schwere hypoxische Hirnschädigung, die nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. zu einer weitgehenden Zerstörung des Großhirn führte, ein tiefes Koma hervorgerufen, das vom 25. November 1999 bis zum Tode des Patienten am 19. Dezember 1999 andauerte. Bei seiner Aufnahme in der Neurologischen Klinik W. litt der Erblasser des weiteren unter einer Paraplegie mit lebhaften Muskeleigenreflexen, unerschöpflichen Fußkloni beidseits sowie distal beginnender Tonuserhöhung; während seiner Behandlung in dieser Klinik musste er künstlich ernährt und beatmet werden.
28Aufgrund des komatösen Zustandes war der Erblasser zwar nicht in der Lage, seinen Zustand bewusst zu erfassen, dies führt jedoch nicht dazu, dass lediglich ein „symbolisches“ Schmerzensgeld zuzusprechen wäre. In Fällen, in denen infolge der Zerstörung der Persönlichkeit der Fortfall oder eine erhebliche Einschränkung der Empfindungsmöglichkeit und Ausdrucksfähigkeit im Mittelpunkt steht, muss bei der Bemessung der Entschädigung der zentralen Bedeutung dieser Einbuße Rechnung getragen werden. Zugleich ist im Rahmen der individuellen Schadensausprägung allerdings auch zu berücksichtigen, dass das Schicksal des Erblassers nicht – zusätzlich – von einem besonderen und länger anhaltenden Leidensdruck, dem bei der Höhe der Entschädigung ebenfalls Bedeutung zukommt, gekennzeichnet war. Schließlich ist für die Bemessung des Schmerzensgeldes auch die Dauer des Leidens – die im Streitfall nicht ganz einen Monat betrug - von Bedeutung; da das Schmerzensgeld die immateriellen Beeinträchtigungen während der Lebenszeit des Betroffenen ausgleichen soll, muss sich die längere oder geringere Leidenszeit auch im Umfang des Ausgleichsbetrag niederschlagen. Bei der gebotenen Abwägung dieser Umstände hält der Senat einen Betrag von 20.000 € für angemessen, aber auch ausreichend.
29III.
30Der Feststellungsantrag des Klägers ist zulässig und begründet. Es ist nicht auszuschließen, dass dem Kläger und den weiteren Erben – die ihre Ansprüche an ihn abgetreten haben – auch materielle Schäden entstanden sind und noch weiter entstehen, die auf der von der Beklagten zu vertretenden fehlerhaften Behandlung beruhen und von ihr auszugleichen sind.
31IV.
32Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 284 Abs. 1 BGB a.F., § 288 BGB.
33C.
34Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
35Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
36Die Beschwer jeder der Parteien liegt über 20.000 €.
37R. S. S.-B.
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