Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-Verg 81/11
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Köln vom 15. August 2011 (VK VOL 26/11) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren beträgt bis zu 77.000 €.
1
(Hier Freitext: Tatbestand, Gründe etc.)
2I.
3Die Antragsgegnerin schrieb im Januar 2011 Abschleppmaßnahmen im offenen Verfahren aus. Der Schlusstermin für den Eingang der Angebote war in der EU-Bekanntmachung auf den 24. Februar 2011, 23.59 Uhr, festgesetzt.
4In der Leistungsbeschreibung gab die Antragsgegnerin die Zahl der jährlich abzuschleppenden Fahrzeuge (Im Leistungsverzeichnis wurde ausgeführt: "Die im Leistungsverzeichnis angegebenen Mengen sind die im Jahr 2010 ermittelten Durchschnittsmengen. Es wird darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Auftragsmenge um eine Schätzung handelt, welche die Stadt Aachen zu keiner bestimmten Menge an Abschleppmaßnahmen verpflichtet"; unter V. der Leistungsbeschreibung wird mitgeteilt, die Zahlen seien die des letzten Jahres) mit einem zulässigen Gesamtgewicht bis zu 2,8 t von montags bis samstags, jeweils 07:00 Uhr bis 19:00 Uhr, mit etwa 3.250 und im übrigen Zeitraum mit 970 an. Es waren Entgelte je Abschleppvorgang anzugeben.
5Die Antragstellerin reichte – neben anderen Unternehmen – fristgerecht ein Angebot ein. In ihrem Angebotsschreiben hieß es u.a.:
6Die in der Leistungsbeschreibung angeforderten Unterlagen haben wir diesem Schreiben beigefügt. Ergänzend zu diesen Unterlagen erlauben wir uns noch nachfolgende Hinweise.
7Ihre Ausschreibung basiert auf einer Anzahl von 4200 Abschleppvorgängen pro Jahr. Bei zuletzt stetig rückläufiger Stückzahl wurden allerdings im vergangenen Jahr nur noch 3790 Abschleppvorgänge durchgeführt. Auch die von Ihnen veranschlagten Stückzahlen an Sonn- und Feiertagen liegen erheblich über den tatsächlichen Werten der vergangenen Jahre. Wir haben daher unser Angebot auf Basis der tatsächlichen Werte des vergangenen Jahres kalkuliert und eine entsprechende Berechnung beigefügt.
8Uns ist bewusst, dass wir damit zu einem höheren Preis je Abschleppvorgang kommen, als mögliche Mitbewerber, die ihr Angebot auf Basis der von Ihnen in der Ausschreibung angegebenen Werte kalkulieren. Wir haben daher unserem Angebot eine entsprechende Vergleichsberechnung beigefügt.
9Das Risiko einer weiter rückläufigen Zahl von Abschleppvorgängen sind wir bereit zu tragen, ebenso zu erwartende Preissteigerungen in den Bereichen Energie und Kraftstoff. Wir haben unser Angebot zwar auf rein kostendeckender Basis errechnet, könnten eine aus rückläufiger Stückzahl resultierende Unterdeckung aber aus Gewinnen anderer Bereiche unseres Unternehmens decken und damit eine ordnungsgemäße Auftragsausführung bis zum 30.06.2015 sicherstellen."
10Bei Auswertung der Angebote anhand des bekannt gegebenen Zuschlagskriteriums "niedrigster Preis" kam die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis, dass ein Drittunternehmen das günstigste Angebot abgegeben hatte, und teilte dies u.a. der Antragstellerin mit.
11Daraufhin reichte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag ein. Sie hat geltend gemacht, sie habe den von ihr festgestellten Fehler der Ausschreibung in dem Angebotsschreiben rechtzeitig im Sinne des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB gerügt. Die Antragsgegnerin habe unzutreffende Zahlen genannt, im Jahr seien 3.690 werktags jeweils zwischen 07.00 Uhr und 19.00 Uhr und 100 Fahrzeuge im übrigen Zeitraum abgeschleppt worden. Durch die Angabe unrealistisch hoher Abschleppzahlen habe die Antragsgegnerin niedrige Preise je Abschleppvorgang provoziert. Das Vergabeverfahren sei daher aufzuheben. Sie hat daher beantragt,
12ihr, der Antragstellerin, den Zuschlag zu erteilen,
13hilfsweise,
14die Antragsgegnerin anzuweisen, entweder ihr, der Antragstellerin, den Zuschlag zu erteilen oder das Vergabeverfahren aufzuheben.
15Die Antragsgegnerin hat beantragt,
16den Nachprüfungsantrag zurückzuweisen.
17Der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig. Fehlerhafte Zahlen habe die Antragstellerin zuvor nicht gerügt, insbesondere nicht im Angebotsschreiben vom 24. Februar 2011, welches inhaltlich nicht ausreiche. Auch in der Sache sei die Rüge unbegründet. In den letzten vier Jahren seien durchschnittlich 4065 Fahrzeuge abgeschleppt worden, die aufgrund bestimmter Erwartungen auf 4200 erhöht worden seien.
18Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag ohne mündliche Verhandlung als unzulässig zurückgewiesen. Das Angebotsschreiben könne inhaltlich nicht als Rüge ausgelegt werden, im Übrigen sei die Rüge der Antragsgegnerin entgegen § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB nicht bis zum Ablauf der Angebotsfrist zur Kenntnis gebracht worden.
19Dagegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Sie macht geltend, aus dem Schreiben vom 24. Februar 2011 gehe hinreichend klar hervor, dass sie die der Ausschreibung zugrunde gelegten Zahlen beanstande und Abhilfe verlange. Die Schätzung der Antragsgegnerin sei unvertretbar. Sie beantragt daher,
20den Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Köln vom 15. August 2011 (VK VOL 26/11) aufzuheben sowie die Ausschreibung der Antragstellerin vom 10. Januar 12011 betreffend die Abschleppmaßnahmen im Stadtgebiet Aachen für den Zeitraum 01.07.2011 bis 30.06.2015 aufzuheben, und der Antragsgegnerin einen Zuschlag zu untersagen.
21Die Antragsgegnerin beantragt,
22die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
23Sie verteidigt die Auffassung der Vergabekammer und meint, die von ihr geschätzten Zahlen seien auch angesichts der in der letzten Zeit rückläufigen Zahl der Abschleppvorgänge vor dem Hintergrund zunehmender Parkraumnot insbesondere im Bereich des Klinikums vertretbar.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten der Vergabekammer und der Vergabestelle verwiesen.
25II.
26Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat letztlich keinen Erfolg. Zu Recht hat die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag als unzulässig verworfen, weil sie mit ihrer einzigen Rüge gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB präkludiert ist.
271.
28Unzutreffend ist allerdings die Auffassung der Vergabekammer, das allein als Rügeschreiben in Betracht kommende Angebotsschreiben vom 24. Februar 2011 sei bereits inhaltlich nicht als Rüge anzusehen.
29Um als Rüge zu gelten, muss die fragliche Äußerung des späteren Antragstellers gegenüber der Vergabestelle nur erkennen lassen, dass er einen bestimmten Sachverhalt als Vergaberechtsverstoß ansieht und eine Abhilfe erwartet. Im Hinblick darauf, dass der Antragsteller persönlich – ohne Anwalt - sowohl Rüge als auch das Verfahren vor der Vergabekammer betreiben kann, dürfen an den Wortlaut keine hohen Anforderungen gestellt werden. Insbesondere muss eine Rüge nicht ausdrücklich als solche bezeichnet werden (vgl. Byok, in Byok/Jaeger, Vergaberecht, 3. Aufl., § 107 GWB Rdnr. 97; Wiese, in Kulartz/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, 2. Aufl., § 107 Rdnrn. 98 ff.; Dicks, in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 107 Rdnr. 53).
30Danach reichte der "Hinweis" inhaltlich als Rüge aus. Daraus ergab sich, dass die Antragstellerin die von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Zahlen für erheblich überhöht hielt, was zu einer unzutreffenden Kalkulation führen würde. Sie habe daher aufgrund der von ihr für richtig gehaltenen Zahlen kalkuliert, auch wenn ihr Preis damit vermutlich den ihrer Wettbewerber übersteigen werde. Sie hat damit einen kalkulationsrelevanten Vergaberechtsverstoß gerügt und letztlich erkennbar auch die Erwartung gehegt, dass einer Bewertung nicht die Zahlen der Antragsgegnerin, sondern die "richtigen" Zahlen zugrunde gelegt würden.
312.
32Jedoch hat die Vergabekammer zutreffend entschieden, dass die im Angebotsschreiben erklärte Rüge nach § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB verspätet war.
33Die Antragsgegnerin hat – wie sie selbst zugibt – den – hier unterstellten – Vergaberechtsverstoß bei der Bearbeitung des Angebots erkannt. Damit war er – ungeachtet der Frage, ob der Verstoß nach § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB sodann "unverzüglich" zu rügen war (vgl. dazu Byok, a.a.O., § 107 GWB Rdnr. 64 – 70, Rdnr. 87) - jedenfalls bis zur Frist zur Angebotsabgabe zu rügen.
34Dies ist nicht geschehen. Eine Rüge ist nur dann rechtzeitig erfolgt, wenn sie – jedenfalls nach der Vorstellung und der Handlungsweise des Rügenden (weitergehend für einen tatsächlichen Zugang innerhalb der Frist Byok, a.a.O., § 107 GWB Rdnr. 98) – innerhalb der Angebotsfrist der Vergabestelle zur Kenntnis gelangen kann. Bei der Rüge gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 GWB handelt es sich zwar nicht um eine Willenserklärung, für die § 130 BGB unmittelbar gilt. Sie stellt keine Äußerung eines auf die Herbeiführung einer Rechtswirkung gerichteten Willens dar (vgl. Ellenberger, in Palandt, BGB, 70. Aufl., vor § 116 Rdnr. 1). Sie ist jedoch als geschäftsähnliche Handlung anzusehen (Ellenberger, a.a.O., vor § 104 Rdnr. 6), denn sie bewirkt den Erhalt der Geltendmachung eines Vergaberechtsverstoßes in einem nachfolgenden Nachprüfungsverfahren. Insoweit ist sie einer rechtzeitigen Anmeldung eines Anspruchs nach § 651g Abs. 1 BGB (mit der Folge der Verhinderung eines Anspruchsausschlusses) vergleichbar, die gleichfalls als geschäftsähnliche Handlung eingestuft wird (BGHZ 145, 343). Für derartige geschäftsähnliche Handlungen gilt u.a. § 130 BGB entsprechend (vgl. Ellenberger, a.a.O., § 130 Rdnr. 3). .Zugegangen ist eine geschäftsähnliche Handlung dann, wenn sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit hat, vom Inhalt Kenntnis zu nehmen (Ellenberger, a.a.O., § 130 Rdnr. 1). Das bedeutet, dass der körperliche Eingang als solcher nicht ausreicht, sondern noch die im Allgemeinen bestehende Möglichkeit hinzukommen muss, dass der Empfänger vom Inhalt Kenntnis nehmen kann. So ist es z.B. anerkannt, dass ein nach allgemeinem Geschäftsschluss in den Briefkasten eingeworfener Brief erst am nächsten Geschäftstag zugegangen ist. Eine derartige Kenntnisnahmemöglichkeit bestand bei einer in einem Angebotsschreiben enthaltenen Rüge nicht bereits mit dem "Eingang" bei dem Empfänger. Zwar ist das Angebot vor dem Ende der Angebotsfrist körperlich in die Sphäre der Antragsgegnerin gelangt. Jedoch konnte und durfte die Antragsgegnerin von dem Angebot zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis nehmen. Nach § 17 Abs. 1 S. 1 EG VOL/A sind Angebote jedenfalls bis zum Ablauf der Angebotsfrist ungeöffnet zu lassen (vgl. Marx/Portz, in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, VOL/A, 2. Aufl., § 17 EG Rdnrn 9 ff.; Herrmann, in Ziekow/Völlink, a.a.O., § 14 VOL/A Rdnr. 4). Eine Öffnung erfolgt erst nach dem Ablauf der Angebotsfrist (Hermann, a.a.O., Rdnr. 6). Damit kann die Antragsgegnerin von der Rüge aus Rechtsgründen gerade nicht "bis Ablauf der .. Frist zur Angebotsabgabe" Kenntnis nehmen. Das gilt nicht nur in der Fallgestaltung, die dem Beschluss des OLG Jena vom 31.08.2009 (9 Verg 6/09) zugrunde lag (die Rüge war im Leistungsverzeichnis "versteckt"), sondern im Hinblick auf die erst nach Ablauf der Angebotsfrist erfolgende Öffnung der Angebote allgemein. Insofern waren zwangsläufig im geregelten Vergabeverfahren abgegebene Angebotsschreiben, bei denen der körperliche Eingang ausreicht, anders behandelt als Rügen. Dies ist auf die unterschiedliche Funktion zurückzuführen. Während es bei derartigen Angebotsschreiben nur auf den körperlichen Eingang ankommt, weil diese bis zur gemeinsamen Öffnung sämtlicher eingegangener Angebote verschlossen aufzubewahren sind, liegen derartige Gründe bei Rügen nicht vor. Sie sollen vielmehr gerade möglichst rasch der Vergabestelle zur Kenntnis gelangen. Auf die Frage, ob die Antragsgegnerin auf eine kurz vor Ablauf der Angebotsfrist zugegangene Rüge noch hätte reagieren können, kommt es nicht an; eine klare Frist ist aus Rechtssicherheitsgründen notwendig.
353.
36Auf die Tatsache, dass die Antragsgegnerin der Ausschreibung entgegen der Darstellung in der Leistungsbeschreibung und der Mitteilung im Leistungsverzeichnis nicht Vorjahreszahlen, sondern nach ihrer Erklärung im Nachprüfungsverfahren für die Zukunft geschätzte Zahlen genannt hat, kommt es danach nicht mehr an.
374.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 120 Abs. 2 i.V.m. § 78 GWB.
39Die Streitwertfestsetzung rechtfertigt sich aus § 50 Abs. 2 GKG:
40Für eine Nachholung der bisher unterlassenen Beiladung des Zuschlagspetenten (Fa. P… GmbH) besteht unter diesen Umständen kein Bedürfnis.
41Dicks Schüttpelz Rubel
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Referenzen
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