Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-Verg 75/11
Tenor
Der Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Köln vom 3. August 2011 (VK VOL 30/11) wird aufgehoben.
Der Antragsgegnerin wird im Verfahren „Unterhaltsreinigung, Außenreini-gung, Winterdienst für Gebäude der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg an den Standorten Sankt Augustin und Rheinbach“ die Erteilung eines Zuschlags untersagt.
Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer einschließlich der not-wendigen Aufwendungen der Antragstellerin sowie die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der Kosten des Verfahrens nach § 118 Abs. 1 S. 3 GWB sowie der in diesem Verfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin werden der Antragsgegnerin auferlegt.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 60.000 € festgesetzt.
1
(Hier Freitext: Tatbestand, Gründe etc.)
2A.
3Mit EU-Bekanntmachung vom 30.10.2010 schrieb die Antragsgegnerin die Unterhaltsreinigung, Außenreinigung und den Winterdienst für ihre Standorte in Sankt Augustin und Rheinbach im offenen Verfahren aus. Nachdem ein Unternehmen ein Nachprüfungsverfahren wegen fehlender Losaufteilung eingeleitet hatte, hob die Antragsgegnerin das Vergabeverfahren auf. Sie hob auch ein zweites Vergabeverfahren wegen Vergabefehlern auf.
4Mit Bekanntmachung vom 31. Mai 2011 schrieb die Antragsgegnerin die genannten Leistungen erneut aus, wobei sie zwei (Teil-) Lose jeweils für ihre Standorte in Sankt Augustin (Unterhaltsreinigung 33.000 qm, Außenreinigung 800 qm, Winterdienst 4.800 qm) und Rheinbach (Unterhaltsreinigung 17.000 qm, Außenreinigung 400 qm, Winterdienst 4.000 qm) bildete. Als Verfahrensart sah sie das beschleunigte nichtoffene Verfahren vor, wobei sie unter IV.1. als Begründung ausführte:
5Die Leistung wurde bereits zwei Mal in Folge EU-weit bekannt gemacht und nun nach erneuter Aufhebung zum dritten Mal, die Unternehmen sind insofern hinlänglich vorbereitet, so dass eine Verkürzung der Teilnahmefrist den Wettbewerb nicht unzulässig verkürzt. Weiterhin ist die Leistung zeitnah zu vergeben, um den derzeitigen Interimszustand abzulösen und um einen Übergang während der vorlesungsfreien Zeit zu ermöglichen. Schließlich lässt die EU-Kommission aufgrund der konjunkturellen Lage grundsätzlich die Möglichkeit der Fristverkürzung bis Ende 2011 zu und unterstellt insofern die "Dringlichkeit" im Sinne des § 12 Abs. 5 Satz 2 VOL/A-EG.
6Die Zahl der Wirtschaftsteilnehmer, die zur Angebotsabgabe aufgefordert werden sollte, war auf mindestens fünf und höchstens zehn bestimmt. Als Auswahlkriterium war die Anzahl der Referenzprojekte vorgesehen. Unter der Ziffer III.2.3) der Bekanntmachung war vorgesehen, dass die Bieter Referenzprojekte "… aus den seit der Veröffentlichung dieser Bekanntmachung vergangenen 36 Monaten, bei denen in Art und Umfang mit der vorliegend ausgeschriebenen Leistung … vergleichbare Leistungen durchgeführt wurden …", beibringen mussten, wobei höchstens acht Referenzen zu belegen waren. Die Vertragslaufzeit sollte gemäß Ziffer II.2.2) für beide Lose zwei Jahre (1.9.2011 bis 31. August 2013) mit jeweils einjähriger Verlängerungsoption betragen. Schlusstermin für den Eingang der Teilnahmeanträge war der 15. Juni 2011 sein. Die Angebote mussten bis zum 7. Juli 2011 abgegeben werden.
7Die Antragstellerin hat mit E-Mail-Schreiben vom 9. Juni 2011 die Wahl des nicht offenen Verfahrens als rechtswidrig gerügt. Sie hat die Auffassung vertreten, es sei ein offenes Verfahren durchzuführen. Die beiden vorhergegangenen Aufhebungen und die daraus angeblich resultierende Dringlichkeit der Vergabe könnten ein nicht offenes Verfahrens nicht rechtfertigen, weil die Antragsgegnerin die Aufhebungen zu vertreten gehabt habe.
8Die Antragsgegnerin hat die Rügen mit E-Mail-Schreiben vom 10. Juni 2011 als unberechtigt zurückgewiesen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Wahl des nicht offenen Verfahrens sei rechtmäßig. Der Aufwand für die Durchführung eines offenen Verfahrens sei unverhältnismäßig groß. Eine Ausschreibung im offenen Verfahren würde gegenüber einer Ausschreibung im nicht offenen Verfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb zu Mehrkosten von circa 27.000 EUR führen. Nach den beiden erfolglosen offenen Verfahren bestehe zudem dringender Handlungsbedarf, insbesondere da das Rechnungsprüfungsamt schon im Frühjahr 2010 eine Ausschreibung der Reinigungsleistungen angemahnt haben.
9Die Antragstellerin hat daraufhin mit Schriftsatz vom 21. Juni 2011 einen Nachprüfungsantrag gestellt. Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf die Ausführungen im Rügeschreiben vom 9. Juni 2011 berufen. Sie hat weiter ausgeführt, sie sei am Auftrag interessiert. Sie sei jedoch durch die rechtswidrige Verfahrensart von einer Angebotsabgabe abgehalten worden. Die Antragsgegnerin habe durch die gewählte Verfahrensart beabsichtigt, nur große Unternehmen in die Angebotswertung gelangen zu lassen, indem sie die höchste Zahl an gleichwertigen Referenzen zur Zulassungsgrundlage gemacht habe. Sie selbst verfüge nur über eine Referenz und sei gegenüber den großen Unternehmen der Branche chancenlos.
10Die Antragstellerin hat beantragt,
11- ein Nachprüfungsverfahren gemäß § 107 Abs. 1 GWB gegen die Form des beschleunigten nicht offenen Verfahrens des im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union vom 31. Mai 2011, 2011/S 104-170806 öffentlichen Vergabeverfahrens einzuleiten,
- der Vergabestelle zu untersagen, unter vorgenannten Bedingungen den oben genannten Auftrag zu vergeben,
- hilfsweise, seitens der Kammer unabhängig auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens hinzuwirken,
- hilfsweise, für den Fall der Erledigung des Nachprüfungsverfahrens durch Erteilung des Zuschlags, durch Aufhebung oder in sonstiger Weise durch die Kammer festzustellen, dass eine Rechtsverletzung vorgelegen hat und die Antragstellerin ihren Rechten verletzt ist.
Die Antragsgegnerin ist diesen Anträgen entgegengetreten. Der Nachprüfungsantrag sei mangels einer unverzüglichen Rüge unzulässig. Die EU-Bekanntmachung sei am 31. Mai 2011 veröffentlicht worden, die Rüge jedoch erst am 9. Juni 2011 erfolgt. Es werde bestritten, dass die Antragstellerin erst am 7. Juni 2011 durch einen Auftragsdienst von der Ausschreibung erfahren habe. Die Antragsgegnerin meint, ein nicht offenes Verfahrens sei zulässig gewesen, da ein offenes Verfahren einen Aufwand verursachen würde, der zum erreichbaren Vorteil und Wert in einem Missverhältnis stehen würde. Des Weiteren liege eine besondere Dringlichkeit vor, da ein sinnvoller Wechsel des Reinigungsdienstleisters nur in der vorlesungsfreien Zeit durchgeführt werden könne. Die Antragstellerin sei durch die Wahl des nicht offenen Verfahrens nicht in ihren Rechten verletzt worden. Sie habe weder ein echtes Interesse am Auftrag dargelegt, noch drohe ihr ein Schaden. Sie habe sich durch ihren Verzicht auf einen Teilnahmeantrag selbst um die Chance auf einen Zuschlag gebracht.
13Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin mit Beschluss vom 3. August 2011 als unzulässig zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Antragstellerin sei nicht antragsbefugt. Sie habe kein echtes Interesse an der Auftragserteilung im Sinne von § 107 Abs. 2 GWB gezeigt, denn sie habe ohne einen vergaberechtlichen Grund von der Abgabe eines Teilnahmeantrags abgesehen. Der Vortrag der Antragstellerin, sie sei durch die Wahl des falschen Vergabeverfahrens von der Abgabe eines Teilnahmeantrags abgehalten worden, vermöge nicht zu überzeugen. Die Antragsgegnerin habe das nicht offene Verfahren wählen dürfen, weil die Vergabe dringlich gewesen sei, nachdem zwei vorhergehende Vergabeverfahren hätten aufgehoben werden müssen.
14Gegen den Beschluss der Vergabekammer hat die Antragstellerin sofortige Beschwerde eingelegt. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen aus dem Verfahren vor der Vergabekammer. Sie ist der Auffassung, die Abgabe eines Angebots sei ihr nicht zumutbar gewesen, weil sie sich sonst in Widerspruch zu ihrer Rüge gesetzt hätte. Die Rüge sei nicht präkludiert. Der Auftragsdienst versende jeweils zu Wochenanfang die Bekanntmachungen der Vorwoche. Sie habe von der am 31. Mai 2011 veröffentlichten EU-Bekanntmachung erst am 7. Juni 2011 erfahren. Ihre Rüge sei am 9. Juni 2011 und mithin rechtzeitig erfolgt. Die Antragsgegnerin habe ohne weiteres ein offenes Verfahren durchführen können. Dessen Durchführung hätte weder zu einem unverhältnismäßigen Aufwand für die Antragsgegnerin geführt, noch wäre es unzweckmäßig gewesen. Ein offenes Verfahren hätte allenfalls zu einem Zeitvorteil von zwei Tagen geführt. Der von der Antragsgegnerin für die Auswertung der zu erwartenden Angebote eines offenen Verfahrens kalkulierte Zeit- und Kostenaufwand werde bestritten.
15Die Antragstellerin beantragt,
16den Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Köln vom 3. August 2011 (VK VOL 30/11) und die Ausschreibung des Vergabeverfahrens Unterhaltsreinigung, Außenreinigung, Winterdienst für Gebäude der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg an den Standorten Sankt Augustin und Rheinbach, veröffentlicht im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union, 2011/S 104-170806 vom 31. Mai 2011 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Neuausschreibung dieses Vergabeverfahrens in der Form des offenen Verfahrens vorzunehmen.
17Die Antragsgegnerin beantragt,
18die sofortige Beschwerde der Antragstellerin zurückzuweisen,
19Die Antragsgegnerin verteidigt den angefochtenen Beschluss, indem sie das Vorbringen aus dem Verfahren vor der Vergabekammer wiederholt. Sie meint, die Antragstellerin sei als Unternehmerin zu klein und unerfahren, um den Auftrag auszuführen. Bei einer Wiederholung der Ausschreibung würden drei Referenzen über vergleichbare Leistungen verlangt, die die Antragstellerin nach ihrem eigenen Vortrag nicht vorweisen könne. Eine Zuschlagschance habe diese daher nicht. Der mit einem nicht offenen Verfahren verbundene Aufwand sei erheblich geringer als der mit einem offenen Verfahren verbundene Aufwand. Die Bewertung von Teilnahmeanträgen sei einfacher und weniger aufwändig als die Prüfung von Angeboten, da bei ersteren nur eine Eignungsprüfung durch sie selbst und nicht durch einen externen Dienstleister durchgeführt werden müsse. Bei der Beurteilung der Dringlichkeit seien nicht auf § 3 Abs. 5 lit. d) VOL/A, sondern auf § 12 Abs. 4 S. 2 EG VOL/A abzustellen.
20Der Senat hat mit Beschluss vom 25. August 2011 die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der Vergabekammer einstweilen bis zur Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin gemäß § 118 Abs. 1 S. 3 GWB verlängert.
21Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten, die Vergabeakte und die Verfahrensakte der Vergabekammer verwiesen.
22B.
23Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der Vergabekammer ist zulässig und begründet. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zu Unrecht wegen fehlender Antragsbefugnis als unzulässig zurückgewiesen. Infolgedessen ist der Antragsgegnerin die Erteilung eines Zuschlags zu untersagen. Bei fortbestehender Vergabeabsicht hat sie das Vergabeverfahren erneut europaweit bekannt zu machen und das offene Verfahren zu wählen.
24I.
25Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
26Es soll ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag vergeben werden, der den maßgeblichen Schwellenwert überschreitet (§§ 99,100 Abs. 1 GWB).
271. Die Antragstellerin ist entgegen der Auffassung der Vergabekammer gemäß § 107 Abs. 2 GWB antragsbefugt. Ein Antragsteller muss grundsätzlich ein Interesse am Auftrag darlegen, eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen, sowie einen entstandenen oder drohenden Schaden durch die behauptete Rechtsverletzung vortragen. Die Antragsbefugnis erfüllt allerdings nur die Funktion eines groben Filters, dem die Aufgabe zukommt, von vornherein eindeutige Fälle, in denen eine Auftragsvergabe für den Antragsteller aussichtslos ist, auszusondern. Gegen die Antragsbefugnis kann nicht eingewandt werden, das Angebot des Antragstellers sei von der Wertung, aus welchen Gründen auch immer, zwingend auszuschließen, denn dies ist eine Frage der Begründetheit des Nachprüfungsantrag (Dicks, in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 107 Rn. 9)
28Wie der Senat bereits im Beschluss vom 25. August 2011 und in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2012 ausgeführt hat, musste die Antragstellerin ihr Interesse am Auftrag nicht durch die Abgabe eines Angebots dokumentieren, weil es sich bei der Wahl der falschen Verfahrensart um einen gewichtigen Vergaberechtsverstoß handelt. In diesem Fall reicht es aus, wenn das Interesse am Auftrag durch eine vorprozessuale Rüge und den abschließenden Nachprüfungsantrag dokumentiert wird (Dicks, a.a.O., § 107, Rdnr. 12 u. 16). Es ist nämlich weder gerechtfertigt noch zumutbar, von einem Antragsteller zur Darlegung seiner Antragsbefugnis die Einreichung eines Angebots zu verlangen, dessen Grundlagen er im Vergabenachprüfungsverfahren als rechtswidrig bekämpft, so dass bei einem Erfolg des Nachprüfungsbegehrens die zur Angebotserstellung aufgewendete Zeit und Mühe als unnötig vertan erscheinen muss (siehe auch: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.07.2003 - Verg 26/03).
29Die Antragstellerin ist möglicherweise auch in eigenen Rechten verletzt. Die Antragstellerin hat die Wahl des nicht offenen Verfahrens anstatt des offenen Verfahrens als vergaberechtswidrig beanstandet. Die Wahl des nicht offenen Verfahrens führt dazu, dass nicht alle interessierten Bieter ein Angebot abgeben können, sondern nach Festlegung der Antragsgegnerin höchstens zehn Bieter zur Angebotsabgabe aufgefordert werden.
30Die Antragstellerin hat weiter dargelegt, dass ihr die Entstehung eines Schadens droht. Es reicht aus, wenn ein Antragsteller in einem neuen, ordnungsgemäßen Vergabeverfahren bessere Chancen haben könnte oder sich seine Aussichten im beanstandeten Vergabeverfahren verschlechtert haben könnten. Es kommt dagegen nicht darauf an, ob der Antragsteller bei einer korrekten Durchführung des Vergabeverfahrens den Zuschlag erhalten oder zumindest eine reelle Chance darauf haben würde (Dicks, a.a.O., § 107, Rdnr. 22f, 25). Die Aussichten der Antragstellerin können sich durch die Wahl des nicht offenen Verfahrens schon deshalb verschlechtern, weil nach den Ausschreibungsbedingungen möglicherweise nur Bieter ausgewählt und zur Angebotsabgabe aufgefordert worden wären, die zahlreiche (bis zu acht) Referenzen vorgelegt haben, sodass die Antragstellerin, die so viele Referenzen nicht beibringen kann, durch die Wahl der Verfahrensart davon bedroht ist, zu einer Angebotsabgabe nicht zugelassen zu werden.
312. Auch die Rügeobliegenheit ist von der Antragstellerin beachtet worden. Sie hat den Mangel des Vergabeverfahrens durch ihr E-Mail-Schreiben vom 9. Juni 2011 rechtzeitig im Sinne von § 107 Abs. 3 S. 1 GWB gerügt. Gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB hat ein Antragsteller einen Verstoß gegen Vergabevorschriften gegenüber dem Auftraggeber unverzüglich zu rügen, sobald er diesen positiv erkennt, wobei der Zeitpunkt des Vorliegens positiver Kenntnis grundsätzlich vom Auftraggeber nachzuweisen ist (Dicks, a.a.O., Rdnr. 40). Damit obliegt es dem Auftraggeber, einen Umstand aus der Sphäre des Antragstellers nachzuweisen. Der Antragsteller ist daher bei einem substantiierten Bestreiten des Antragsgegners verpflichtet, zum Zeitpunkt seiner Kenntniserlangung substantiiert vorzutragen und gegebenenfalls auch Unterlagen, die den Zeitpunkt der Kenntniserlangung belegen, vorzulegen (Byok, in Byok/Jaeger, Kommentar zum Vergaberecht, 3. A., § 107, Rdnr. 113). Die Antragsgegnerin hat substantiiert bestritten, dass die Antragstellerin erst am 7. Juni 2011 von der EU-Bekanntmachung vom 31. Mai 2011 erfahren hat. Die Antragstellerin hat daraufhin jedoch in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2012 durch die Vorlage der schriftlichen Informationen des von ihr beauftragten Auftragsdienstes Si Consult Gesellschaft für Wirtschaftsberatung mbH vom 4. Juni 2011, einem Samstag, belegt, dass ihr Geschäftsführer tatsächlich erst am 7. Juni 2011, einem Dienstag, von der Ausschreibung erfahren hat. Damit war die zwei Tage später erfolgende Rüge der Antragstellerin vom 9. Juni 2011 jedenfalls unverzüglich im Sinne von § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB. Auf die Frage, ob das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich" unionsrechtskonform ist (vgl. dazu ausführlich Byok, a.a.O., § 107 Rn. 107 ff.), kommt es daher nicht an. Die Rügefrist des § 107 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GWB ist eingehalten, weil die Antragstellerin ihren Teilnahmeantrag noch bis zum 15. Juni 2011 hatte abgeben können.
32II.
33Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.
34Die Antragsgegnerin hat, wie der Senat bereits im Beschluss vom 25. August 2011 und in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2012 ausgeführt hat, im Vergabeverfahren gegen § 101 Abs. 7 S. 1 GWB, § 4 VgV, § 3 Abs. 1 S. 1 EG VOL/A verstoßen, indem sie das nicht offene Verfahren anstatt des offenen Verfahrens gewählt hat. Das offene Verfahren ist der Regelfall, von dem nur in den gesetzlich zugelassenen Ausnahmefällen abgewichen werden kann. Ein gesetzlicher Ausnahmefall liegt jedoch nicht vor.
35Die Antragstellerin kann sich nicht auf den eng auszulegenden Ausnahmetatbestand des § 3 Abs. 2 lit. b) EG VOL/A berufen. Sie hat nicht dargetan, dass der mit der Durchführung eines offenen Verfahrens verbundene Aufwand in einem Missverhältnis zum Auftragswert stehen würde. Der Bruttoauftragswert beträgt 1.200.000 €. Die Mehrkosten für die Durchführung eines offenen Verfahrens hat sie mit ca. 27.000 € beziffert. Dieser Betrag, unterstellt er wäre zutreffend, entspricht nur 2,25 % des Auftragswerts. Von einem Missverhältnis kann daher nicht einmal im Ansatz die Rede sein. Es ist überdies höchst zweifelhaft, ob der Antragsgegnerin überhaupt Mehrkosten in dieser Höhe entstehen würden. Bei der Kalkulation der Mehrkosten ist sie nämlich davon ausgegangen, dass die Auswertung eines einzigen Angebots durch einen Dienstleister einen ganzen Arbeitstag in Anspruch nimmt, so dass bei zu erwartenden 30 zusätzlichen Angeboten 30 zusätzliche Arbeitstage zu je 900 € aufgewendet werden müssten. Aus praktischer Sicht erscheinen sowohl ein solcher Aufwertungsaufwand als auch die Vergütung angesichts des überschaubaren Vergabegegenstandes völlig übersetzt. Außerdem reduziert sich der unmittelbare Arbeitsaufwand der Antragsgegnerin, weil diese – wie sie selbst vorgetragen hat - bei der Wahl des offenen Verfahrens die bislang durch eigene Mitarbeiter vorgenommene Eignungsprüfung durch einen Dienstleister vornehmen lassen würde. Ferner ist davon auszugehen, dass in einem offenen Verfahren nicht nur mehr, sondern auch wirtschaftlichere Angebote eingehen würden, als in einem nicht offenen Verfahren, so dass die durch diese Verfahrenswahl entstehenden Mehrkosten voraussichtlich mindestens teilweise kompensiert werden können.
36Die Antragstellerin kann sich auch nicht auf den Ausnahmefall des § 3 Abs. 2 lit. d) EG VOL/A berufen. Die Wahl eines offenen Verfahrens ist nicht unzweckmäßig. Zwar kann auch die Dringlichkeit einer Vergabe die Wahl eines nicht offenen Verfahrens begründen (vergleiche § 3 Abs. 3 Nr. 3 VOB/A). Unabhängig davon, dass zweifelhaft ist, ob die Wahl des nicht offenen Verfahrens gegenüber der Wahl eines offenen Verfahren überhaupt zu einer wesentlichen Beschleunigung des Zuschlags führen würde, ist der Zeitdruck maßgeblich darauf zurückzuführen, dass zwei frühere Vergabeverfahren aufgehoben werden mussten, weil Vergabefehler erkannt wurden. Die Auffassung der Vergabekammer, gestützt auf Kaelble (in Müller-Wrede, VOL/A, 3. Aufl., § 3 EG, Rdnr. 46), ein Auftraggeber könne sich auf die Dringlichkeit auch dann berufen, wenn er sie verursacht habe, ist abzulehnen (so auch Hausmann/von Hoff in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, VOL/A, 2. Aufl., § 3 EG VOL/A, Rdnr. 40; Kulartz in Kulartz/Marx/Portz/Prieß, VOB/A, § 3, Rdnr. 55; Völlink in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, § 3 EG VOL/A, Rdnr. 10; § 3 VOB/A, Rdnr. 28). Dass dieses Erfordernis nicht genannt ist, ist darauf zurückzuführen, dass die Vorschrift keine Beispiele nennt. Im Übrigen ist auch bei § 20 EG VOL/A für eine rechtmäßige Aufhebung anerkannt, dass der Aufhebungsgrund nicht vom Auftraggeber schuldhaft verursacht worden sein darf.
37Dass die Antragstellerin bei der Wahl des offenen Verfahrens keine Zuschlagchance gehabt hätte, wie die Antragstellerin meint, weil sie mindestens drei Referenzen verlangt hätte, um die Eignung der Bieter zu überprüfen, was vergaberechtlich nicht zu beanstanden wäre (siehe: § 19 Abs. 5 EG VOL/A, § 7 Abs. 3 lit. a) EG VOL/A, siehe dazu auch Hausmann/von Hoff in Kulartz, a.a.O., § 7 EG VOL/A, Rdnr. 50ff), ist spekulativ und bedeutungslos. Es steht nämlich weder fest, dass die Antragsgegnerin tatsächlich mindestens drei Referenzen verlangt hätte, noch steht fest, dass die Antragstellerin drei Referenzen aus vergleichbaren Dienstleistungsaufträgen nicht vorlegen kann. Das Gegenteil hat sie im Senatstermin behauptet.
38Infolgedessen hat die Antragsgegnerin einen Zuschlag zu unterlassen. Sofern Ihre Vergabeabsicht fortbesteht, hat sie den festgestellten Vergaberechtsverstoß zu beseitigen, dazu das Verfahren zurückzuversetzen und es unter erneuter europaweiter Bekanntmachung im offenen Verfahren zu wiederholen.
39C.
40Die Entscheidung über die Kosten und Aufwendungen beruht auf § 128 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1 GWB sowie auf den §§ 120 Abs. 2, 78 GWB
41Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 50 Abs. 2 GKG.
42
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