Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-Verg 90/11
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der 3. Vergabekammer des Bundes vom 11. Oktober 2011 (VK 3-122/11) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich des Verfahrens nach § 118 Abs. 1 Satz 3 GWB werden der Antragstellerin auferlegt.
Streitwert für das Beschwerdeverfahren: 1,3 Mio Euro
1
(Hier Freitext: Tatbestand, Gründe etc.)
2I. Die Antragsgegnerin schrieb durch EU-weite Bekanntmachung vom August 2011 im offenen Verfahren den Abschluss von Rahmenverträgen mit Apotheken zur Belieferung von 19 onkologischen Vertragsarztpraxen mit parenteralen Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln (Zytostatika) zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten aus. Anzubieten war - kurz zusammengefasst - ein prozentualer Abschlag auf die variablen Preise der sog. Lauer-Taxe. Die Ausschreibung war in elf Gebietslose aufgeteilt worden. Zuschlagskriterium war der niedrigste Preis.
3Die Antragstellerin betreibt eine Apotheke und bereitet Zytostatika zu. Sie beteiligte sich mit einem Angebot zu allen Losen an der Ausschreibung, beanstandete in der Leistungsbeschreibung sowie in den übrigen Vergabeunterlagen, namentlich im beigefügten Vertragsentwurf, aber mehrfache Unklarheiten, die eine ordnungsgemäße Kalkulation verhinderten und sich als Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse darstellten. Sie stellte nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag.
4Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag durch Beschluss vom 11.10.2011 (VK 3-122/11) abgelehnt. Auf die Gründe des Beschlusses (ein-schließlich des tatbestandlichen Teils) wird Bezug genommen. Dagegen hat die Antragstellerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags sofortige Beschwerde erhoben. Nachdem der Senat mit Beschluss vom 7.11.2011 eine Verlängerung der aufschiebenden Wirkung des Rechts-mittels abgelehnt hat, hat die Antragsgegnerin die Aufträge erteilt.
5Die Antragstellerin beantragt nunmehr,
6unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses festzustellen, dass sie durch die Antragsgegnerin in ihren Rechten verletzt worden sei.
7Die Antragsgegnerin beantragt,
8die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
9Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde entgegen.
10Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze verwiesen.
11II. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.
12Der Nachprüfungsantrag ist von der Vergabekammer mit Recht abgelehnt worden. Deswegen hat auch der zulässige Feststellungsantrag keinen Erfolg. Die Antragstellerin ist im Vergabeverfahren durch die Antragsgegnerin nicht in ihren Rechten verletzt worden. Zur Begründung ist auf die Gründe der Eilentscheidung des Senats vom 7.11.2011 zu verweisen. Ergänzend und mit Blick auf die Erörterung der Sache im Senatstermin ist auszuführen:
131. Wie der Senat im Beschluss vom 7. November 2011 (vgl. auch Senatsbeschluss vom 07. März 2012 – VII-Verg 91/11) begründet hat, gilt das frühere grundsätzliche Verbot ("soll") einer Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse für Umstände und Ereignisse, auf die der Bieter keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann (vgl. § 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A), nach § 8 EG VOL/A nicht mehr (vgl. u.a. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 19.10.2011 - VII-Verg 54/11, NZBau 2011, 762). § 8 EG VOL/A ist im Streitfall anzuwenden - unabhängig davon, ob es sich beim ausgeschriebenen Auftrag um einen Dienstleistungsauftrag (vgl. § 4 Abs. 4 VgV, § 1 Abs. 3 EG VOL/A, Anhang I Teil B zur VOL/A, Kategorie 25: Gesundheitswesen) oder um einen Lieferauftrag handelt. Die Ausschreibungsbedingungen (nicht die Vertrags- oder Auftragsbedingungen; diese unterliegen prinzipiell der Gestaltungsfreiheit der Vertragsschließenden) können danach nur noch unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zu beanstanden sein, was freilich generell noch nicht der Fall ist, wenn der Bieter gewisse Preis- und Kalkulationsrisiken, namentlich solche, die ihm typischerweise ohnedies obliegen, tragen soll. Die Zumutbarkeitsschwelle erhöht sich bei einer Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen (im weiteren Sinn) zulasten der Bieter. Angeboten bei Rahmenvereinbarungen wohnen - in der Natur der Sache liegend und abhängig vom in der Regel ungeklärten und nicht abschließend klärbaren Auftragsvolumen - erhebliche Kalkulationsrisiken inne, die typischer-weise vom Bieter zu tragen sind. Bei Rahmenvereinbarungen gelten die Gebote der Bestimmtheit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung nur eingeschränkt. Sowohl nach § 4 Abs. 1 Satz 2 VOL/A als auch nach § 4 Abs. 1 EG VOL/A ist der in Aussicht genommene Auftragsumfang lediglich "so genau wie möglich zu ermitteln" (und bekannt zu geben), er "braucht aber nicht abschließend festgelegt zu werden."
14Dagegen ist von der Antragsgegnerin nicht verstoßen worden (vgl. den Senats-beschluss vom 7.11.2011, BA 5 vor a, BA 6 unter b). Die Antragsgegnerin hat im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren über den Auftragsumfang informiert. Die Verordnungszahlen (Gesamtmengen an Wirkstoffen) aus dem Zeitraum von April 1010 bis März 2011 sind den Bietern bekannt gegeben worden. Daran ist nichts zu bemängeln (ebenso: LSG NRW, Beschl. v. 22.7.2010 - L 21 SF 152/10 Verg, Rn. 65). Hinsichtlich der sog. Umsetzungsquote der abzuschließenden Rahmenvereinbarungen sind in den Vergabeunterlagen zwar keine Angaben vorgenommen worden. Doch lagen der Antragsgegnerin diesbezüglich weder Erfahrungen noch Daten vor, die hätten bekannt gemacht werden können. Bei der vorliegenden Ausschreibung handelt es sich um die erste ihrer Art im Geschäftsbereich der Antragsgegnerin.
15Mit seiner Auffassung zur Berücksichtigung ungewöhnlicher Wagnisse setzt sich der Senat in keinen entscheidungserheblichen Widerspruch zu den Beschlüssen des OLG Dresden (Beschl. v. 2.8.2011 - WVerg 4/11, VergabeR 2012, 119) und des OLG Jena (Beschl. v. 22.8.2011 - 9 Verg 2/11, IBR 2011, 1299). Beide Entscheidungen betreffen Extremfälle, in denen das Verwen-dungsrisiko hinsichtlich der Leistung vollständig auf dem jeweiligen Bieter/Auftragnehmer lastete. Davon kann hier nicht gesprochen werden. Auch unter Zugrundelegung der von den OLG Dresden und Jena angewandten Rechtssätze ist im vorliegenden Fall keine andere rechtliche Beurteilung geboten. Dann ist der Bundesgerichtshof mit der Sache nicht zu befassen (§ 124 Abs. 2 GWB).
16Der Umstand, dass auf die vorliegende Ausschreibung keine festen Preise verabredet werden sollten, ist nicht zu beanstanden. Ob darin ein Rechtsverstoß gegen § 1 Abs. 2 Verordnung PR Nr. 30/53 über die Preise bei öffentlichen Aufträgen zu sehen ist, wonach - soweit es die Verhältnisse des Auftrags ermöglichen - feste Preise zu vereinbaren sind, kann offen bleiben. Jedenfalls gestattet die Spezialnorm des § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V Vereinbarungen der ausgeschriebenen Art. Dabei dürfen Abschläge auf den (jeweiligen) Abgabepreis des Arzneimittelherstellers (gemäß Lauer-Liste) vereinbart werden. Zwar schwanken die Abgabepreise. Das ließ eine Kalkulation indes nicht unzumutbar erscheinen. Denn die Apotheken können, was die Beschaffung der für die Zubereitung von Zytostatika benötigten Fertigarzneimittel anbelangt, mit den Arzneimittelherstellern oder dem Großhandel individuelle Preisvereinbarungen treffen und dadurch eine befriedigende Planungs- und Kostensicherheit erreichen (vgl. Beschluss der Vergabekammer BA 16 ff.; LSG NRW, Beschl. v. 22.7.2010 - L 21 SF 152/10 Verg, Rn. 70). Hinzuweisen bleibt auch auf die dem Auftragnehmer in § 11 Abs. 3 des Vertragsentwurfs einzuräumende Möglichkeit einer Vertrags-kündigung, sofern die Preise nicht mehr auskömmlich sind.
17Der sog. Verwurf (nicht mehr verarbeitungsfähige und brauchbare Teilmengen/Reste bei den für die Zubereitung von Zytostatika bezogenen Fertigarzneimitteln) muss nicht gesondert vergütet werden (wie nach dem Vertrag gemäß § 129 Abs. 5 Satz 1 SGB V vom 1.10.2009 zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Apotheker). Auch insoweit ist der Entscheidung der Vergabekammer beizupflichten (VKB 19 ff.). Ein Verwurf kann zumutbar in die Preise einkalkuliert werden. Entscheidend dafür ist, dass die Antragsgegnerin - aus einem nahen Vergleichszeitraum (April 2010 bis März 2011) - die in ihrem Geschäftsbereich abgerechneten Wirkstoff-Gesamtmengen in den Vergabeunterlagen angegeben hat. Aus solchen Mengen, die daneben als sog. Verwurf abgerechnet worden sind, konnten Apotheker selbst am besten ermitteln, welcher Zuschlag dafür bei den benötigten Wirkstoffen angebracht war.
182. Ein Recht zu exklusiver Belieferung der Versicherten sollte dem Auftragnehmer nicht eingeräumt werden. Das geht aus einer Zusammenschau der Bestimmungen in § 3 Abs. 1 ("Ein-Partner-Modell" je Gebietslos) und § 4 des Vertragsentwurfs hervor. Auf die Gründe des auf den Eilantrag der Antragstellerin ergangenen Senatsbeschlusses vom 7. November 2011 wird insoweit verwiesen (BA 5 f.). Die Antragsgegnerin hat keine Exklusivität versprochen, keine Abnahmemengen garantiert und wahrheitsgemäß auf die Apotheken-Wahlfreiheit der Versicherten (gemäß § 31 Abs. 1 Satz 5 SGB V) hingewiesen. Von Versicherten selbst eingereichte Rezepte sind von Restriktionen bei der Kostenerstattung befreit. Die behauptete Widersprüchlichkeit und kalkulationsrelevante Irreführung besteht im Hinblick auf Exklusivität demnach nicht.
193. Die Apotheken-Wahlfreiheit der Versicherten kann als Kalkulationsgröße vernachlässigt werden. Es ist, wie die Vergabekammer mit Recht entschieden hat (VKB 14 f.), wegen der Besonderheiten beim Umgang mit Zytostatika praktisch nicht zu erwarten, dass davon in nennenswertem Umfang Gebrauch gemacht wird, Versicherte Zytostatika also selbst besorgen (so auch LSG NRW, Beschl. v. 22.7.2010 - L 21 SF 152/10 Verg, Rn. 64). Zytostatika werden - wegen der von der Vergabekammer sowie vorher bereits vom LSG NRW festgestellten Besonderheiten (im Wesentlichen Toxizität und Haltbarkeit) - in aller Regel in die behandelnden Arztpraxen geliefert und Patienten dort verabreicht. Intransparenz ist insoweit nicht zu bemängeln. Die tatsächlichen Verhältnisse sind Apothekern kraft ihrer Fachkenntnis und Erfahrung ohne Weiteres und lückenlos bekannt.
20Die Akzeptanz der Verträge bei den Ärzten ist ebenfalls von lediglich geringer Kalkulationsrelevanz. Unabhängig davon, dass Vertragsärzte über kein Mandat verfügen, gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen vermeintliche Interessen der Versicherten zu verfolgen, ihnen nicht ansteht, einen wirtschaftlichen Erfolg von Ausschreibungen der gesetzlichen Krankenkassen zu hintertreiben, und jeder Grundlage entbehrt ihnen zu unterstellen, sie würden solches tun, hat die Antragsgegnerin, wie schon die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat (VKB 15 f.), durch die Ankündigung von Einschränkungen bei Kostener-stattungen (ausgenommen die praktisch nahezu auszuschließende persönliche "Einlösung" eines Rezepts durch Versicherte) alles getan, um die Bereitschaft der Ärzte, sich dem ausgeschriebenen Rahmenvertragsmodell anzuschließen, nicht nur zu fördern, sondern faktisch sicherzustellen (siehe dazu auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.1.2011 - VII-Verg 3/11, BA 4).
21Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 78, 120 Abs. 2 GWB.
22Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 50 Abs. 2 GKG. Danach ist entgegen dagegen gerichteter Einwendungen der Antragstellerin der Gegenstandswert - unabhängig von konkreten Gewinnerwartungen - nach h.M. generalisierend mit 5 % des Bruttoangebots des Antragstellers anzusetzen. Bei der Vertrags-laufzeit, die infolgedessen zwei Jahre beträgt, sind entsprechend § 3 Abs. 1 Satz 2 VgV alle etwaigen Vertragsverlängerungen zu berücksichtigen. Die bei der Wertfestsetzung anzunehmende Umsetzungsquote bemisst der Senat - insoweit durchaus zugunsten der Antragstellerin - aufgrund des ihm zu Gebote stehenden Schätzungsermessens mit 70 %.
23Ausgehend von einem Bruttopreisangebot der Antragstellerin von rund 37 Mio Euro (bei elf Losen und einer Vertragslaufzeit von zwei Jahren) x 70 % Umsetzungsquote x 5 % ergibt sich der festgesetzte Streitwert von bis zu 1,3 Mio Euro.
24Dicks Schüttpelz Rubel
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.