Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-Verg 26/13
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der 3. Vergabekammer des Bundes vom 30. Juli 2013 (VK 3 -61/13) aufgehoben.
Der Antragsgegnerin wird untersagt, im Vergabeverfahren „Abrechnungsmanagement nach § 302 SGB V“ einen Zuschlag zu erteilen.
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer als Gesamtschuldner sowie die dem Antragsteller im Verfahren vor der Vergabekammer entstandenen Aufwendungen je zur Hälfte. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigen durch den Antragsteller war notwendig.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens (einschließlich des Verfahrens nach § 118 Abs. 1 Satz 3 GWB) unter Einschluss der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers tragen die Antragsgegnerin und die Beigeladene je zur Hälfte.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf bis zu 750.000 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e :
2A.
3Die Antragsgegnerin schrieb im offenen Verfahren mit Bekanntmachung vom 1. März 2013 die Auftragsvergabe „Abrechnungsmanagement nach § 302 SBG V“ aus. Zuschlagskriterien sollten der Preis mit einer Gewichtung von 60 % und die in verschiedene Unterkriterien unterteilte Leistung (Qualität) mit einer Gewichtung von insgesamt 40 % sein. Der Antragsteller und die Beigeladene reichten fristgerecht Angebote ein. Mit Schreiben vom 18. Juni 2013 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller, dass sie beabsichtige, den Zuschlag der Beigeladenen zu erteilen. Unter dem 19. und 25. Juni 2013 erhob der Antragsteller Rügen, denen die Antragsgegnerin nicht abhalf, und reichte Nachprüfungsantrag ein.
4Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen. Sie hält ihn weitgehend für unzulässig, im Übrigen für unbegründet. Hiergegen richtet sich die mit einem Antrag nach § 118 Abs. 1 Satz 3 GWB verbundene sofortige Beschwerde des Antragstellers.
5Der Antragsteller beantragt,
6den Beschluss der Vergabekammer aufzuheben und der Antragsgegnerin den Zuschlag zu untersagen.
7Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,
8die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
9Sie verteidigen den angefochtenen Beschluss.
10Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Vergabeakten, die Akten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten nebst den Anlagen verwiesen.
11B.
12Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.
13I. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin genügt sie den Anforderungen des § 117 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB. In der Beschwerdebegründung trägt der Antragsteller u.a. vor, beim Wertungssystem der Antragsgegnerin würden maßgebende Wertungselemente nicht berücksichtigt, das Wertungssystem sei intransparent, auch könne die Eignungswertung keinen Bestand haben. Dem ist - ungeachtet der Begründetheit dieser Angriffe - als Petitum des Antragstellers zu entnehmen, dass er sich gegen eine Zuschlagserteilung wendet, und damit zugleich, inwieweit die Entscheidung der Vergabekammer angefochten und eine abweichende Entscheidung beantragt wird.
14II. Die Beschwerde ist begründet. Der Antragsgegnerin ist eine Zuschlagserteilung zu untersagen. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht muss sie das Vergabeverfahren mindestens in den Stand vor Angebotsaufforderung und Übersendung vergaberechtskonformer Vergabeunterlagen zurückversetzen.
151. Die von der Antragsgegnerin verwendete Bewertungsmatrix ist vergaberechtswidrig. Sie ist nicht geeignet, eine Angebotswertung gemäß den bekannt gegebenen Zuschlagskriterien und deren vorgesehener Gewichtung vorzunehmen.
16a) Nach Ziff. IV.2.1) der Vergabebekanntmachung soll der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot ergehen. In der Aufforderung zur Angebotsabgabe und den Ergänzungen hierzu werden die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung näher festgelegt. Der Preis soll mit 60 % in die Wertung eingehen, die leistungsbezogenen Zuschlagskriterien Dienstleistung mit 10 %, Software und IT-Infrastruktur mit 25 % und Projektplan mit 5 %, unterteilt jeweils in weitere Unterkriterien und Bewertungsstufen.
17Ein solches Bewertungssystem ist grundsätzlich zulässig.
18Als problematisch und im Streitfall ungeeignet hat sich hingegen das für die Bewertung vorgesehene Punktesystem erwiesen. In den Erläuterungen zu den leistungsbezogenen Zuschlagskriterien Dienstleistung bzw. Software und IT-Infrastruktur heißt es hierzu:
19„Für die Angebotswertung wird eine Punkteskala von 0 bis 100 Punkte festgelegt. 100 Punkte erhält das Angebot mit der höchsten Wertungspunktzahl und 0 Punkte erhält das Angebot mit der niedrigsten Wertungspunktzahl. Die Punktebewertung für die dazwischen liegenden Angebote erfolgt über eine lineare Interpolation bis zu zwei Stellen hinter dem Komma.“
20Eine entsprechende Regelung besteht für die Punktebewertung des Projektplans. Das Zuschlagskriterium Preis sollte ursprünglich ebenfalls in dieser Weise gewertet werden; hiervon nahm die Antragsgegnerin mit ihrer Antwort auf die vom Antragsteller gestellte Bieterfrage Nr. 27 jedoch Abstand.
21Vor dem Hintergrund, dass der Auftraggeber an das bekannt gegebene Kriterium des wirtschaftlichsten Angebots, die Wertungskriterien und Unterkriterien sowie die Aufteilung und Gewichtung rechtlich gebunden ist (§ 19 Abs. 8 i.V.m. § 9 Abs. 1 und 2 VOL/A-EG; vgl. auch Senat, Beschl. v. 19.06.2013, VII-Verg 8/13, juris Rn. 21; Beschl. v. 07.05.2005, VII-Verg 16/05, juris Rn. 25), ist ein solches Wertungssystem nach dem Prinzip „100 Punkte oder nichts“ vergaberechtswidrig. Zu beanstanden ist insbesondere, dass die Antragsgegnerin
22- hinsichtlich des Zuschlagskriteriums Leistung (Qualität) in den Vergabeunterlagen keine Vorkehrungen dagegen getroffen, dass bei nur zwei eingehenden Angeboten die Leistung (Qualität) fehlerhaft unterbewertet werden kann,
23- sie bei der Wertung die vorgegebene Gewichtung des Kriteriums Leistung missachtet und
24- den Grundsatz der Selbstbindung an die Gewichtung des Kriteriums Leistung verletzt hat.
25Anders als die Vergabekammer und die Antragsgegnerin meinen, ist die bisherige Rechtsprechung des Senats zu Bewertungsmatrizen nicht dahingehend zu verstehen, dass eine Punktevergabe nach dem Prinzip „100 Punkte oder nichts“ als vertretbar zu erachten oder gar gutzuheißen wäre. Wohl hat sich der Senat in der Entscheidung vom 3. März 2010 (VII-Verg 48/09) für die Bestimmungsfreiheit des Auftraggebers bei der Aufstellung von Wertungsmatrizen ausgesprochen. Die Kontrolle durch die Vergabenachprüfungsinstanzen ist auf eine der Ermessenskontrolle ähnliche Überprüfung beschränkt. Für diese hat der Senat Orientierungshilfen gegeben. So dürfen unter anderem Festlegungen und Gewichtungen des Auftraggebers nicht dazu führen, dass Kriterien faktisch keine Rolle mehr spielen (keine Nivellierung, keine Aushöhlung der Angebotswertung). Bei dem von der Antragsgegnerin gewählten Punktesystem ist dies der Fall. Durch die Regelung „100 Punkte oder nichts“ verfallen beim (jeweils) schlechtesten Angebot bezüglich der Leistungskriterien im letzten Wertungsschritt sämtliche Punkte, die bei den entsprechenden Unterkriterien erzielt wurden. Bei der Wertung des Angebots des Antragstellers hat dies dazu geführt, dass es im Bereich Qualität trotz beachtlicher Punktzahl bei den Unterkriterien insgesamt null Punkte erzielt hat und trotz des günstigeren Preises in der Gesamtwertung hinter das Angebot der Beigeladenen zurückgefallen ist. Es ist damit nicht auszuschließen und von der Antragsgegnerin nicht widerlegt, dass der Antragsteller dadurch in seinen Zuschlagschancen beeinträchtigt worden ist.
26Der Senatsentscheidung vom 3. März 2010 lag zwar ebenfalls ein Wertungssystem nach dem Prinzip „100 Punkte oder nichts“ zugrunde. Seinerzeit hatte der Senat jedoch keine Veranlassung, sich mit der Zulässigkeit einer derartigen Bewertungsmatrix zu befassen oder diese gar zu billigen. Die Wertung nach dem Prinzip „100 Punkte oder nichts“ war von den Verfahrensbeteiligten nicht beanstandet worden. Das Hauptproblem war vielmehr eine bei bestimmten Konstellationen eintretende Umkehrung der Bieterreihenfolge (sog. Flippping-Effekt, vgl. dazu Bartsch/v.Gehlen/Hirsch in NZBau 2012, 393 ff.). Das Problem der Nichtberücksichtigung („Unter-den-Tisch-Fallens“) erzielter Wertungspunkte in der Gesamtwertung drängte sich im Fall der Entscheidung vom 3. März 2010 auch nicht auf, weil - anders als im Streitfall - drei Angebote eingegangen waren und sich ein viertes Unternehmen lediglich deshalb am Wettbewerb nicht beteiligt hatte, weil es die Ausschreibungsbedingungen als rechtswidrig bekämpfte, nach Korrektur der Bedingungen aber an der Ausschreibung teilnehmen wollte. Liegen mehr als zwei Angebote mit einer erfahrungsgemäß anzunehmenden Qualitätsstreuung vor, können auch beim Wertungssystem „100 Punkte oder nichts“ für den Auftraggeber ausreichende Wertungsspielräume bestehen, um noch zu angemessenen und rechtlich vertretbaren Ergebnissen zu kommen, insbesondere dann, wenn in dem zu erwartenden Zwischenbereich zwischen dem besten und dem schlechtesten Angebot Wertungspunkte zum Beispiel aufgrund vorher festgelegter und bekannt gegebener Interpolation oder einer Punkte-Skala vergeben werden. Das „Null-Punkte-Problem“ wirkt sich dann lediglich auf das schlechteste Angebot aus, was indes nicht bedeutet, dass damit ein Wertungssystem „100 Punkte oder nichts“ gutzuheißen wäre.
27In zugespitzter Weise tritt das Problem jedoch auf, wenn sich - wie hier - an der Ausschreibung nur zwei Bieter mit Angeboten beteiligen (womit die Antragsgegnerin angesichts der Vielzahl von Bewerbern, die die Vergabeunterlagen angefordert haben, nicht gerechnet und was auch der Antragsteller unwiderlegt erst im Nachprüfungsverfahren erfahren hat). Gelangen nur zwei Angebote in die Wertung, hat das Wertungssystem „100 Punkte oder nichts“ gewissermaßen holzschnittartig zur Folge, dass ein Bieter in die Rolle des schlechtesten gerät und sein Angebot bei den jeweiligen Leistungskriterien (Qualität) keine Wertungspunkte erlangt. Geschieht dies - wie im Streitfall - bei sämtlichen Leistungskriterien, fällt das Kriterium Leistung (Qualität) bei der Wertung des Angebots aus und bleibt auch ungewürdigt, ob der Bieter etwa einen schlechteren (hohen) Preis durch qualitative Aspekte seines Angebots hat ausgleichen können oder ob Defizite in der Qualität durch einen guten (niedrigen) Preis kompensiert werden. Ein guter Preis bringt zwar nicht notwendigerweise Qualitätsabstriche mit sich, ebenso wenig wie ein schlechter Preis eine hohe Angebotsqualität. Doch zeigt die Erfahrung, dass bei Ausschreibungen der vorliegenden Art das Preis-Leistungs-Verhältnis nach wie vor eine wichtige „Stellschraube“ im Bieterwettbewerb ist.
28Rechtlich betrachtet werden dadurch die Kriterien Preis und Leistung (Qualität) in Bezug auf die Bieter verschieden und mithin gleichheitswidrig bewertet. Beim schlechteren Angebot wird die Leistung (Qualität) unterbewertet, nämlich gar nicht, beim besseren Angebot wird sie regelgerecht gewertet. Damit wird die bekannt gegebene Gewichtung von Preis und Leistung (Qualität) beim schlechteren Angebot, im Streitfall beim Angebot des Antragstellers, aufgegeben und ins Nachteilige verändert. Das Leistungskriterium erhält praktisch einen unverdienten, ausschlaggebenden Rang, wenn man davon ausgeht, dass ein Angebot, das – wie jenes des Antragstellers - im Wertungssystem der Antragsgegnerin allein beim Preiskriterium Wertungspunkte erlangt, realistischerweise nicht in die engere Wahl für einen Zuschlag gelangen kann.
29Unabhängig davon hat die Antragsgegnerin die Selbstbindung an die Gewichtung des Zuschlagskriteriums Leistung (Qualität) mit 40 % bei der Wertung missachtet, weil sie diese auf die Wertung der Angebote nicht übertragen hat. Das Kriterium der Leistung (Qualität) ist in Bezug auf das Angebot des Antragstellers tatsächlich nicht gewertet worden.
30Das Wertungssystem „100 Punkte oder nichts“ ist damit riskant, da von Zufälligkeiten wie der Zahl der eingehenden Angebote abhängen kann, ob der Auftraggeber damit scheitert oder nicht. Im Streitfall kann aufgrund des vorliegenden Vergabeverfahrens der Zuschlag nicht erteilt werden, vielmehr ist, sofern die Antragsgegnerin am Beschaffungsvorhaben festhält, das Verfahren mindestens in den Stand vor Angebotsaufforderung und Übersendung korrigierter Vergabeunterlagen zurückzuversetzen. Eine bloße Wiederholung der Angebotswertung ist nicht ausreichend, um den bereits in den Vergabeunterlagen liegenden Fehler zu beheben. Zudem hat die Antragsgegnerin einen Entscheidungsspielraum, in welcher Weise sie das Wertungssystem korrigieren will.
31b) Der Nachprüfungsantrag ist nicht wegen eines Verstoßes gegen die Rügeobliegenheit gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 oder 3 GWB unzulässig. Weder hat der Antragsteller die Vergaberechtswidrigkeit der Bewertungsmatrix erkannt noch war diese in den Vergabeunterlagen erkennbar.
32Zu berücksichtigen ist zunächst, dass die Erkennbarkeit von Verstößen gegen Vergabevorschriften nach Nr. 3 ebenso wie das Erkennen eines Vergaberechtsverstoßes nach Nr. 1 zwei Komponenten hat. Erkennbarkeit ist auf die einen Rechtsverstoß begründenden Tatsachen und deren rechtliche Bewertung als Vergaberechtsverstoß zu beziehen (so zutreffend auch OLG Celle, Beschl. v. 11.02.2010, 13 Verg 16/09, VergabeR 2010, 669, 672). Dies ist im angefochtenen Beschluss außer Acht geblieben, vielmehr hat die Vergabekammer aus der angenommenen tatsächlichen Erkennbarkeit ohne jede weitere Begründung auf die rechtliche Erkennbarkeit eines Rechtsverstoßes geschlossen.
33Eine Rügepräklusion kommt in der Regel nur bei auf allgemeiner Überzeugung der Vergabepraxis beruhenden und ins Auge fallenden Rechtsverstößen in Betracht. Der Verstoß muss so offensichtlich sein, dass er einem verständigen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebots bzw. seiner Bewerbung auffallen muss (Senat, Beschlüsse v. 03.08.2011, VII-Verg 30/11, VergabeR 2011, 868, 870, und VII-Verg 16/11, VergabeR 2012, 227, 229). Bei der rechtlich komplexen und durch die Rechtsprechung noch nicht vollständig geklärten Überprüfung einer Bewertungsmatrix, hier insbesondere der Problematik der Ungeeignetheit eines Bewertungsschemas „100 Punkte oder nichts“, ist dies nicht der Fall. Zudem hat der Antragsteller unwiderlegt erst im Nachprüfungsverfahren erfahren, dass sich nur zwei Bieter mit Angeboten beteiligt haben. Die Rüge seiner Verfahrensbevollmächtigten vom 19. Juni 2013, die diese Problematik aufwirft, basiert insoweit nur auf Vermutungen. Im Übrigen ist sie, soweit die Fehlerhaftigkeit der mit Informationsschreiben vom 18. Juni 2013 mitgeteilten Wertung bzw. Zuschlagsentscheidung beanstandet wird, unverzüglich im Sinn des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB. Die Frage, ob nach dem Urteil des EuGH vom 28. Januar 2010 (C-406/08 - Uniplex) überhaupt noch auf das Merkmal der Unverzüglichkeit der Rüge abgestellt werden darf, bedarf damit im Streitfall keiner Entscheidung.
34Auch die Antworten der Antragsgegnerin auf die vom Antragsteller angebrachten Bieterfragen Nr. 27 und 28 gaben keine Veranlassung zur Rüge. Der Antragsteller hat die Frage aufgeworfen, wie die Angebote in Relation zueinander gewertet werden sollen. Die Antragsgegnerin hat darauf die Wertung des Kriteriums Preis umgestellt und zum hier maßgebenden Kriterium Leistung (Qualität) erklärt, der Relation sei durch die festgelegte Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien in ausreichendem Maße genüge getan. Die Antragsgegnerin hat damit nur vordergründig beim Zuschlagskriterium Leistung (Qualität) eine Abhilfe verweigert. Vielmehr hat sie den Anschein erweckt, ein nach den Ausschreibungsbedingungen zu erwartendes und gegebenenfalls fehlerhaftes Wertungsergebnis werde durch die Gewichtung der Zuschlagskriterien (Preis 60 %, Leistung 40 %) und der Unterkriterien korrigiert. Der Antragsteller konnte dies dahingehend verstehen, dass die Kriterien-Gewichtung auch beim Kriterium Leistung (Qualität) auf die Angebotswertung durchschlagen solle und das System „100 Punkte oder nichts“ damit nicht gelte. Hierauf durfte der Antragsteller vertrauen. Tatsächlich aber ist die Antragsgegnerin anders verfahren, nämlich hat sie das Angebot des Antragstellers beim Leistungs-/Qualitätskriterium insgesamt mit null Punkten bewertet. Anders als die Antragsgegnerin meint, gibt der auf den Eilantrag ergangene Senatsbeschluss vom 10. September 2013 insoweit zum Verständnis des Antragstellers nicht nur seine in das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer - in indirekter Rede und verkürzt - aufgenommene Äußerung wieder, sondern verdeutlicht zugleich, wie diese nach Auffassung des Senats und unter Berücksichtigung des schriftsätzlichen Vorbringens des Antragstellers zu verstehen ist.
35Keine andere Beurteilung ergibt sich aus dem Sachvortrag der Antragsgegnerin, der Antragsteller selbst führe als Auftraggeber zahlreiche Vergabeverfahren durch. Dies ist rechtlich unerheblich, da nicht ersichtlich ist, dass hierbei ein ähnliches Bewertungsverfahren wie bei der Antragsgegnerin zur Anwendung käme. Auch vergibt der Antragsteller keine Aufträge der vorliegenden Art, da er solche Leistungen selbst erbringt.
362. Ein weiterer Vergaberechtsverstoß liegt darin, dass die Antragsgegnerin in der Vergabebekanntmachung hinsichtlich der Mindestanforderungen an die Eignung der am Auftrag interessierten Unternehmen und der hierzu vorzulegenden Nachweise lediglich auf die Vergabeunterlagen verwiesen hat. Die erstmalige Mitteilung in den Vergabeunterlagen ist unzulässig und unwirksam. Gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 EG VOL/A sind die Anforderungen abschließend in der Vergabebekanntmachung mitzuteilen. Der Auftraggeber ist hieran gebunden. Mit der Angebotsaufforderung dürfen die Erfordernisse nur konkretisiert, in der Sache aber nicht abgeändert bzw. ergänzt werden (vgl. Senat, Beschl. v. 06.02.2013, VII-Verg 32/12, VergabeR 2013, 469; Beschl. v. 18.10.2006, VII-Verg 35/06, VergabeR 2007, 200, 205). Die Antragsgegnerin müsste daher, wenn sie eine nach allen Seiten rechtssichere Auftragsvergabe anstrebt, das Verfahren mit einer Bekanntmachung von neuem beginnen.
37Infolge der unterlassenen Mitteilung von – so im offenen Verfahren - Mindestanforderungen an die Eignung in der Vergabebekanntmachung durfte die Antragsgegnerin allenfalls eine Minimal-Eignungsprüfung durchführen. Die Eignungsprüfung aufgrund der fehlerhaft erst in den Vergabeunterlagen angegebenen Mindestanforderungen hat jedoch dazu geführt, dass der Antragsteller und die Beigeladene als geeignet anzusehen waren. Eine Minimal-Prüfung der Eignung hätte praktisch kein anderes Ergebnis hervorbringen können. Demnach ist der Antragsteller durch die fehlerhafte Bekanntgabe von Mindestanforderungen an die Eignung zwar in seinen Rechten verletzt. Eine mögliche Beeinträchtigung seiner Zuschlagschancen ist jedoch auszuschließen. Der Antragsteller befindet sich in jedem Fall im Wettbewerb mit der Beigeladenen, da im offenen Verfahren lediglich Mindestanforderungen an die Eignung festzulegen oder im vorgenannten Sinn Minimal-Anforderungen zu prüfen sind, Abstufungen an der Eignung indes nicht vorgenommen werden können (vgl. BGH, Urteil v. 15.04.2008, X ZR 129/06, VergabeR 2008, 641).
383. Hingegen ist auch wegen weiterer Mängel der Vergabeunterlagen der Zuschlag zu untersagen.
39a) Die Vergabeunterlagen sind in mehrerlei Hinsicht widersprüchlich und unklar, ohne dass seitens der Antragsgegnerin eine Klarstellung erfolgt wäre oder den Bietern eine Auslegung in dem einen oder anderen Sinn möglich gewesen wäre. Die Bieter waren insoweit auf Mutmaßungen angewiesen. Dies betrifft zunächst die Unterkriterien zum leistungsbezogenen Zuschlagskriterium Dienstleistung. Die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung werden in der Ergänzung der Aufforderung zur Angebotsabgabe erläutert. Auf Seite 1 wird ausgeführt, für das Kriterium Dienstleistung erfolge eine Bewertung auf Basis der Beschreibung der zu erbringenden Dienstleistungen der Datenannahme, -bearbeitung und - je nach Bereich - Rechnungsprüfung. Auf Seite 2 heißt es hingegen, für die Bewertung Dienstleistung würden sieben nachfolgend genannte Unterkriterien in jeweils fünf Stufen bewertet. Erneut werden hier die Unterkriterien Datenannahme und (an späterer Stelle) Rechnungsprüfung - Outsourcing genannt, zusätzlich aber fünf weitere Unterkriterien, nämlich Verknüpfung der Datensätze mit den Images, Monatsabrechnung, Einspielung der Daten, Datentransfer und IT-Sicherheitskonzept. Dieser Widerspruch wird an keiner Stelle der Vergabeunterlagen aufgeklärt.
40Widersprüchlich und unklar geblieben ist weiter die Anzahl der Bewertungsstufen, nach denen die jeweiligen Unterkriterien bewertet werden sollen. Dies betrifft zum einen die vorgenannten Unterkriterien zur Dienstleistung, aber auch die Unterkriterien zum Kriterium Software und IT-Infrastruktur. Ausweislich der jeweiligen Erläuterungen sollen die Unterkriterien in jeweils fünf Stufen bewertet werden. Nachfolgend werden aber jeweils sechs zu unterscheidende Grade der Erfüllung der Anforderungen aufgelistet, die von „die Anforderungen werden nicht erfüllt bzw. keine Angaben“ bis zu „die Anforderungen werden vollständig erfüllt und das Angebot bietet darüber hinaus noch weitere Vorteile für die Auftraggeberin“ reichen.
41Für die Bieter war überdies nicht erkennbar, was unter „weiteren Vorteilen“ über die vollständige Erfüllung der Anforderungen hinaus zu verstehen war, mithin wie ein Angebot beschaffen sein musste, um in die oberste Bewertungsstufe zu gelangen. Diese Unklarheit lässt sich, anders als die Vergabekammer meint, nicht damit rechtfertigen, dass die Leistungsbeschreibung auch konzeptionelle Elemente enthalte und die Antragsgegnerin insoweit in angemessener Weise Raum für eine Wertung funktionaler Leistungselemente gelassen habe. Auch die funktionale Ausschreibung muss gewissen Anforderungen an die Bestimmtheit genügen. Der Auftraggeber muss bei einer funktionalen Ausschreibung vielmehr insoweit selbst planen und die notwendigen Festlegungen treffen, als er die Zuschlagskriterien, das Leistungsziel, die Rahmenbedingungen und die wesentlichen Einzelheiten der Leistung in der Aufgaben- oder Leistungsbeschreibung anzugeben hat. Denn auch die funktionale Ausschreibung soll Missverständnisse bei den Bietern vermeiden und damit letztlich sicherstellen, dass miteinander vergleichbare Angebote abgegeben und bewertet werden (Senat, Beschl. v. 12.06.2013, VII-Verg 7/13, juris Rn. 14, m.w.N.). Diesen Anforderungen genügen die Vergabeunterlagen nicht. Die Bewertung sowohl des leistungsbezogenen Zuschlagskriteriums Dienstleistung mit sämtlichen Unterkriterien als auch des leistungsbezogenen Zuschlagskriteriums Software und IT-Infrastruktur mit sämtlichen Unterkriterien - und damit der ganz überwiegende Teil der qualitativen Zuschlagskriterien - soll anhand der vorgenannten Bewertungsstufen erfolgen, ohne dass aus der Bewertungsmatrix oder der Leistungsbeschreibung erkennbar wird, in welcher Hinsicht oder in welche Richtung welche Leistungselemente übererfüllt werden müssen, um die Höchstpunktzahl zu erlangen. Auch die Antwort der Antragsgegnerin auf Bieterfrage 29 u.a. dazu, wie die Punktevergabe auf der „zweiten Ebene“ erfolgen soll, hat hierzu keine Klärung erbracht. Die Antragsgegnerin erläuterte die rechnerische Punkteverteilung am Beispiel des Unterkriteriums Datenannahme, wiederum jedoch ohne mitzuteilen, worin „weitere Vorteile“ liegen könnten.
42b) Eine Rügeobliegenheit des Antragstellers nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 3 GWB bestand insoweit nicht. Weder waren die vorgenannten Mängel der Vergabeunterlagen so offensichtlich, dass ein verständiger Bieter bei der Vorbereitung seines Angebots den Verstoß - in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht - erkennen musste noch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller die Verstöße tatsächlich erkannt hätte.
43III.
44Die Entscheidung über Kosten und Aufwendungen beruht auf § 128 Abs. 3 und 4, § 78 und § 120 Abs. 2 GWB. Die Beigeladene hat sich am Nachprüfungsverfahren auf Seiten der Antragsgegnerin beteiligt. Sie ist daher in gleicher Weise zu den Kosten und Aufwendungen heranzuziehen. Ein Teilunterliegen des Antragstellers ist nicht gegeben. Mit dem Beschlusstenor hat er den angestrebten Erfolg des Nachprüfungsbegehrens erreicht.
45Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 50 Abs. 2 GKG.
46Dicks Rubel Barbian
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Referenzen
- GWB § 120 Besondere Methoden und Instrumente in Vergabeverfahren 1x
- § 302 SGB 1x (nicht zugeordnet)
- X ZR 129/06 1x (nicht zugeordnet)
- GWB § 117 Besondere Ausnahmen für Vergaben, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen 1x
- GWB § 107 Allgemeine Ausnahmen 3x
- § 50 Abs. 2 GKG 1x (nicht zugeordnet)
- § 302 SBG 1x (nicht zugeordnet)
- 13 Verg 16/09 1x (nicht zugeordnet)