Urteil vom Oberlandesgericht Düsseldorf - I-18 U 205/14
Tenor
Auf die Berufung des beklagten Landes wird das am 12.11.2014 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kleve (2 O 315/11) aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Kleve zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
I.
2Die Klägerin begehrt vom beklagten Land Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht wegen eines Unfalls auf der Deckstelle H… des Landgestüts W…. Die Klägerin wurde dort am 25.03.2009 von einem etwa 6 m langen Holzbalken im Gesicht getroffen und verletzt. Die Klägerin und ihr Ehemann züchteten Kaltblutpferde und suchten deshalb an diesem Tag die Deckstelle auf. Sie erwogen, eine ihrer Stuten dort decken zu lassen.
3Das Landgestüt W…, ein Regiebetrieb nach der Landeshaushaltsordnung, dessen Aufgabengebiet die gewerbliche Tätigkeit als Hengsthalter ist, betreibt die Deckstelle auf dem Gelände des Reit- und Fahrvereins „B…“ P… e.V. Grundlage ist ein im Jahr 1998 geschlossener Vertrag über die jährliche Aufnahme von 5 staatlichen Hengsten durch den Verein als Deckstellenhalter.
4Der beim Landgestüt beschäftigte Zeuge K… präsentierte der Klägerin und ihrem Ehemann am 25.03.2009 den Kaltbluthengst A…. Damit dieser nicht nur im Stall besichtigt, sondern auch seine Gangarten in Augenschein genommen werden konnten, führte der Zeuge den Hengst auf einen Außenreitplatz des Vereins. Am Eingang des Platzes befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Longieren und Springen verboten“. Der den Platz verschließende Holzbalken, der die Klägerin später im Gesicht traf, konnte in einer Höhe von etwa 1,05 m auf der linken Seite in eine Schlaufe und auf der rechten Seite in einen mit einer Kette zu sichernden Metallschuh eingelegt werden. Wegen der weiteren Einzelheiten der Örtlichkeit, insbesondere des Zugangs zum Platz mit dem ihn verschließenden Querbalken, wird auf die bei der Akte befindlichen Lichtbilder (Bl. 16-18, 204-205, 501-502 GA) verwiesen.
5Der Zeuge K… bat einen zufällig auf dem Platz anwesenden Herrn, den Zeugen D…, darum, ihm bei der Präsentation des Hengstes zu helfen. Nachdem das Pferd auf den Platz geführt worden und der den Zugang verschließende Querbalken wieder in seine Halterung eingelegt worden war, trieb der Zeuge D… den auf dem umzäunten Gelände frei laufenden Hengst mit einer Reitpeitsche zu verschiedenen Gangarten an. Das Pferd befand sich im Trab, als es plötzlich den Holzbalken touchierte, der den Platz verschloss. Niemand der Anwesenden rechnete damit. Der Balken wurde durch den Anprall des Pferdes aus seiner Halterung gerissen und durch die Luft geschleudert. Er traf die Klägerin mitten ins Gesicht. Sie ging bewusstlos zu Boden. Das Pferd, das auf dem Platz verharrte, ließ sich am Halfter einfangen. Nachdem die Klägerin wieder zu Bewusstsein gelangt war, brachte ihr Mann sie sofort mit dem eigenen Pkw in das nächstgelegene Krankenhaus, das W…-A…-Hospital in G…. Die Einzelheiten der nachfolgenden Behandlungshistorie der Klägerin sind zwischen den Parteien streitig geblieben.
6Die Klägerin ließ das beklagte Land durch ein Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten auffordern, seine Einstandspflicht hinsichtlich der Unfallfolgen anzuerkennen. Das Land lehnte dies mit Schreiben vom 27.10.2009 ab.
7Die Klägerin hat behauptet, der Hengst sei bei der Präsentation ausgebrochen. Sie habe sich zu diesem Zeitpunkt in einer Entfernung von 6 Metern zum Platzzugang aufgehalten. Der Holzbalken, gegen den das Pferd gestoßen sei, habe nur locker und ungesichert auf den Stützbalken aufgelegen. Sie habe durch den in ihr Gesicht geschleuderten Balken schwere Gesichtsverletzungen erlitten, die einen langwierigen Behandlungs- und Heilungsverlauf nach sich gezogen hätten und ein Schmerzensgeld von 13.000,- € rechtfertigten. Der Heilungsverlauf sei immer noch nicht abgeschlossen, sie leide weiterhin unter Unfallfolgen. Unter anderem habe sie ein posttraumatisches Belastungssyndrom erlitten. Außer den Gesundheitsverletzungen seien ihr materielle Schäden in Gestalt einer zerstörten Brille und eines Haushaltsführungsschadens sowie in Gestalt von Fahrtkosten entstanden.
8Die Klägerin hat beantragt,
91. das beklagte Land zu verurteilen, an sie 1.378,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.10.2009 zu zahlen,
102. das beklagte Land zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.10.2009 zu zahlen,
113. festzustellen, dass das beklagte Land verpflichtet ist, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, letztere, soweit sie nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehen, aus dem Vorfall vom 25.03.2009 auf der Deckstelle H… des Landgestüts Warendorf zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
12Das beklagte Land hat beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Das Land hat behauptet, der Außenreitplatz sei ausreichend gesichert gewesen, insbesondere habe der Zeuge K… den Balken mit der vorhandenen Kette gesichert. Selbst bei weitergehenden Sicherungsmaßnahmen wäre es zu dem Unfall gekommen. Das Pferd sei nicht „durchgegangen“, sondern nur seitlich gegen den Querbalken geraten. Die Klägerin habe zu diesem Zeitpunkt in einem Meter Entfernung zum Balken gestanden. Die von der Klägerin vorgetragenen Verletzungen und die Behandlungshistorie hat das Land mit Nichtwissen bestritten. Es hat die Ansicht vertreten, für den Zustand des Außenreitplatzes nicht verantwortlich zu sein, da ihm eine Verantwortung durch den Vertrag mit dem Reit- und Fahrverein nicht zugewiesen sei. Die Klägerin treffe wegen ihres Standortes an ihren Verletzungen ein erhebliches Mitverschulden.
15Das beklagte Land hat zur Frage des Unfallhergangs ein Privatgutachten vorgelegt, das zu dem Ergebnis gelangt, dass anzunehmen ist, dass der Querbalken zum Unfallzeitpunkt beidseitig arretiert – in die Schlaufe eingelegt und mit der Kette gesichert – war. Wegen der Einzelheiten wird auf die bei der Akte befindliche Ablichtung des Gutachtens der Privatsachverständigen D… (Bl. 198-215 GA) Bezug genommen. Das Landgericht hat die Klägerin informatorisch angehört und Beweis erhoben über die von ihr erlittenen Unfallfolgen durch Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Umfangs und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Beweisbeschlüsse vom 05.09.2012 (Bl. 156-157 GA), vom 30.07.2013 (Bl. 277 GA) und vom 13.05.2014 (Bl. 341-342 GA) sowie das Gutachten von Prof. Dr. Dr. M… vom 02.06.2013 (Bl. 229-263 GA), das Gutachten von Dr. K… vom 21.10.2013 (Bl. 291-311 GA) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2014 (Bl. 355-357 GA) Bezug genommen. Das Landgericht hat das beklagte Land sodann – unter Klageabweisung im Übrigen – mit Urteil vom 12.11.2014, auf das wegen der weiteren Sachdarstellung gemäß § 540 ZPO Bezug genommen wird, zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 736,42 € und eines Schmerzensgeldes in Höhe von 13.000,- € verurteilt. Ferner hat es, wie von der Klägerin beantragt, die Ersatzpflicht des Landes für zukünftige materielle und immaterielle Schäden der Klägerin festgestellt. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, das beklagte Land hafte dem Grunde nach wegen der Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht des § 823 Abs. 1 BGB sowie wegen Verwirklichung der Tiergefahr im Sinne von § 833 BGB. Als Nutzer des Geländes des Vereins sei das Land für den verkehrssicheren Zustand verantwortlich. Als Betreiber der Deckstation hätte es für eine ausreichend sichere Umzäunung sorgen müssen. Diesen Anforderungen genüge der Eingangsbereich mit dem verletzungsursächlichen Querbalken aber nicht, ungeachtet der Frage, welche der von den Parteien vorgetragenen Unfallhergänge letztlich zutreffend sei. Aus dem Sachverhalt ergebe sich, ohne dass ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsse, dass die Anlage nicht den Anforderungen an eine sichere Umzäunung entsprochen habe. Die Haftung des beklagten Landes folge auch aus § 833 Satz 1 BGB. Den Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2 BGB habe das Land wegen des verkehrssicherungspflichtwidrigen Zustands des Reitplatzes nicht geführt. Auf ein Mitverschulden der Klägerin könne sich das Land nicht berufen. Während der Klägerin ein Anspruch auf Ersatz materieller Schäden nur teilweise zustehe, sei angesichts ihrer Verletzungen und Behandlungen, von denen das Gericht nach durchgeführter Beweisaufnahme überzeugt sei, ein Schmerzensgeld von 13.000,- € gerechtfertigt. Wegen der weiteren Einzelheiten der Urteilsbegründung wird auf die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils (Bl. 401-409 GA) Bezug genommen.
16Einen Antrag des beklagten Landes auf Tatbestandsberichtigung hat das Landgericht mit Beschluss vom 16.12.2014 (Bl. 431-432 GA) zurückgewiesen. Gegen das ihm am 17.11.2014 zugestellte Urteil wendet sich das beklagte Land darüber hinaus mit seiner am 05.12.2014 beim Oberlandesgericht Düsseldorf eingelegten Berufung, die es nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 17.02.2015 mit einem am 13.02.2015 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz begründet hat.
17Das beklagte Land rügt das landgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens als fehlerhaft. Das Urteil verletze es in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil die von ihm angebotenen Beweise, insbesondere diejenigen zur Ordnungsmäßigkeit der Umzäunung und Toranlage, nicht erhoben worden seien. Das Landgericht habe nicht aufgrund einer nicht belegten und bestrittenen eigenen Sachkunde davon ausgehen dürfen, dass die Umzäunung des Reitplatzes unzureichend gewesen sei. Dadurch habe es das Verbot der Beweisantizipation verletzt. Die Umzäunung einschließlich der Toranlage entspreche in jeder Hinsicht dem aktuellen Stand der Technik. Sie erziele den notwendigen Abgrenzungs-, Abschreckungs- und Sicherungseffekt. Es handele sich um eine übliche Einfriedung, die nicht jeder Belastung standhalten müsse. Die Rechtsprechung verlange keine Umzäunung, die der Kraftentfaltung des eingehüteten Tieres in jedem Fall standhalte. Alternativen zu der vorhandenen Toranlage, die auch den weiteren an sie gestellten Anforderungen (Durchfahrtbreite für Traktoren und Gespanne, leichte Handhabbarkeit für Einzelpersonen) genüge, seien entweder technisch nicht überzeugend umsetzbar, so ein Schwing- und Flügeltor, oder aber so teuer, so eine Schiebetoranlage, dass sie sowohl dem Reitverein als auch dem Land wirtschaftlich nicht zumutbar seien. Sicherungsmaßnahmen stünden aber unter dem Vorbehalt des Zumutbaren. Im Übrigen sei das Land nicht verpflichtet gewesen, für eine ausreichende Umzäunung zu sorgen. Diese Verpflichtung habe allein den Reitverein getroffen. Das Land habe keine Gefahrenlage geschaffen, sondern habe selbst davon ausgehen dürfen, dass die vorhandenen Anlagen den Sicherheitsanforderungen genügten. Eine Verkehrssicherungspflicht sei dem Land nicht übertragen worden. Auch eine Tierhalterhaftung greife nicht ein. Es habe sich nicht die typische Tiergefahr verwirklicht. Selbst bei Verwendung eines stärkeren Torbalkens hätte der Schadenseintritt nicht verhindert werden können. Bei Bejahung einer Haftung dem Grunde nach treffe die Klägerin in jedem Fall ein Mitverschulden, weil sie einen größeren Sicherheitsabstand hätte einhalten können. Materielle Schadensersatzbeträge habe das Landgericht nicht ohne Beweisaufnahme zusprechen dürfen.
18Das beklagte Land beantragt,
191. unter Abänderung des am 12.11.2014 verkündeten Urteils des Landgerichts Kleve (Az. 2 O 315/11) wird die Klage abgewiesen,
202. hilfsweise: Die Entscheidung des Landgerichts Kleve vom 12.11.2014 (Az. 2 O 315/11) wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Kleve zurückverwiesen mit der Maßgabe, dass dieses verpflichtet wird, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts über die Sache erneut zu entscheiden.
21Die Klägerin beantragt,
22die Berufung zurückzuweisen.
23Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens als zutreffend. Sie ist der Ansicht, dass das beklagte Land wegen der dauernden Nutzung in jedem Fall Kontrollpflichten hinsichtlich des Außenreitbereichs trafen. Die Schaffung einer sicheren Toranlage sei nicht nur notwendig, sondern auch zumutbar gewesen. Ohne diese hätte das Land eine Nutzung nicht zulassen dürfen. Nachdem erstinstanzlich unstreitig war, dass es sich bei dem Hengst A… um ein ruhiges und ausgeglichenes Tier handelte, das sich bis dahin weder ungestüm noch unkontrolliert gezeigt hatte, bestreitet die Klägerin nunmehr erstmals mit Nichtwissen, dass es sich um ein ausgeglichenes Pferd mit einwandfreiem Charakter handelt.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung des beklagten Landes vom 13.02.2015 (Bl. 497-542 GA) und seinen Schriftsatz vom 20.05.2015 (Bl. 586-590 GA) sowie die Berufungserwiderung der Klägerin vom 23.03.2015 (Bl. 562-569 GA) und ihren Schriftsatz vom 09.06.2015 (Bl. 591-592 GA) Bezug genommen.
25II.
26Die zulässige Berufung hat im Umfang des Hilfsantrags des beklagten Landes Erfolg. Auf diesen Antrag ist das angefochtene Urteil gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nach pflichtgemäßem Ermessen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen. Die Voraussetzungen hierfür liegen vor.
271.
28Das Verfahren im ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Mangel im Sinne von § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO. Indem das Landgericht eine Haftung des beklagten Landes ohne Erhebung des von diesem angebotenen Entlastungsbeweises zum Haftungsgrund und ohne die ersatzweise Darlegung einer die Beweisaufnahme entbehrlich machenden eigenen Sachkunde bejaht hat, hat es den Anspruch des beklagten Landes auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
29a)
30Die für eine etwaige Haftung des beklagten Landes entscheidende Anspruchsgrundlage ist § 833 Satz 1 BGB. Das Land haftet der Klägerin nicht nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Die Mitarbeiter der Deckstelle H… des Landgestüts W… werden bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nicht hoheitlich tätig. Das Landgestüt ist ein Regiebetrieb, der die gewerbliche Tätigkeit eines Hengsthalters zum Gegenstand hat. Diese wirtschaftliche Betätigung ist privatrechtlicher Natur. Zudem zählt die Wahrnehmung von Verkehrssicherungspflichten für öffentliche Sachen, zu denen die Deckhengste des Landgestüts in entsprechender Anwendung von § 90a Satz 3 BGB gehören, zum privatrechtlichen Tätigkeitsbereich des öffentlichen Sachherrn, soweit sie nicht ausdrücklich dem hoheitlichen Bereich zugewiesen ist. Letzteres ist hier nicht der Fall.
31Zwar kommen neben Ansprüchen der Klägerin aus § 833 Satz 1 BGB auch solche aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB aufgrund einer Pflichtverletzung des beklagten Landes im vorvertraglichen Bereich sowie aus § 823 Abs. 1 und § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht. So kann sich eine deliktische Verantwortlichkeit aus § 823 Abs. 1 BGB auch aus der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten bei der Ausübung eines Gewerbes ergeben. Vom Gewerbetreibenden sind diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der jeweiligen Berufsgruppe für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind (BGH, Urt. v. 18.07.2006 – X ZR 142/05, Juris). Die Haftung nach jenen Bestimmungen ist indes nicht strenger als diejenige nach § 833 Satz 1 BGB, die der Tierhalter allenfalls über den strengen Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2 BGB abwenden kann.
32b)
33Die Klägerin hat Ansprüche gegen das beklagte Land auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht aus § 833 Satz 1 BGB schlüssig dargelegt. Nach § 833 Satz 1 BGB ist der Tierhalter zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wenn durch ein Tier der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Das war hier der Fall. Zwar beruhten die von der Klägerin erlittenen Verletzungen bzw. die Beschädigung ihrer Brille nicht auf einem unmittelbaren Kontakt mit dem Pferd. Dessen bedarf es aber auch nicht. Für den notwendigen Zurechnungszusammenhang genügt ein mittelbarer ursächlicher Zusammenhang, der hier darauf beruht, dass erst die Kollision des Pferdes mit dem Querbalken diesen von seinem Auflager gerissen und in das Gesicht der Klägerin geschleudert hat. Entgegen der Ansicht des beklagten Landes hat sich in dem Geschehen auch die von § 833 Satz 1 BGB verlangte spezifische Tiergefahr realisiert. Eine Realisierung der spezifischen Tiergefahr ist zu bejahen, wenn sich eine Gefährdung menschlicher Schutzgüter verwirklicht, die durch das tierischer Natur entsprechende unberechenbare und selbstständige Verhalten des Tieres hervorgerufen wird. So verhielt es sich hier. Das Pferd wurde nicht von einem Reiter gegen den Querbalken gelenkt, was eine Tierhalterhaftung ausgeschlossen hätte (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1970, 333), sondern geriet, für die Beteiligten nicht berechenbar, plötzlich selbstständig hiergegen.
34Das beklagte Land ist auch Tierhalter im Sinne von § 833 Satz 1 BGB. Tierhalter ist derjenige, der darüber entscheidet, ob und welche Dritte der Tiergefahr ausgesetzt werden (Palandt-Sprau, BGB, 74. Aufl., § 833 Rn. 10). Dies ist hier hinsichtlich der Hengste des Landgestüts nach den tatsächlichen Verhältnissen das Land, das auch den wirtschaftlichen Nutzen aus den Tieren zieht.
35c)
36Dem beklagten Land steht gegenüber einer Haftung aus § 833 Satz 1 BGB jedoch der Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2 BGB offen. Der Hengst A… war ein Haustier im Sinne von § 833 Satz 2 BGB, das der Erwerbstätigkeit des beklagten Landes zu dienen bestimmt war. Der Erwerbstätigkeit in diesem Sinne dient auch das zur Zucht gehaltene Pferd eines staatlichen Gestüts (Palandt-Sprau, BGB, 74. Aufl., § 833 Rn. 17).
37An den nach § 833 Satz 2 BGB möglichen Beweis, dass der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet (1. Alt.) oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde (2. Alt.), sind strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris; OLG Jena, NZV 2002, 464, 465). Derjenige, der Pferde hält, ist für deren sichere Unterbringung verantwortlich (BGH, Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris). Über die Tierhalterhaftung wird der Tierhalter für die Anlagen, in denen er die Tiere hält, mitverantwortlich (vgl. BGH, Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris). Auf die Fragen, ob die vertragliche Vereinbarung zwischen dem Reit- und Fahrverein und dem beklagten Land auch den Außenreitplatz erfasst oder ob der Verein dem Land Verkehrssicherungspflichten übertragen hat, kommt es daher nicht an. Die aus der Tierhalterhaftung folgende Mitverantwortlichkeit für die sichere Unterbringung der Tiere bedeutet zwar nicht, dass alle theoretisch denkbaren Gefahren abgewendet werden müssen (BGH, Urt. v. 14.06.1976 – VI ZR 212/75; Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91; vgl. auch OLG München, Urt. v. 15.01.2010 – 10 U 5748/08, jeweils zitiert nach Juris). Die in der Landwirtschaft allgemein üblichen und im Verkehr als ausreichend erachteten Sicherungsmaßnahmen müssen aber eingehalten werden (BGH, Urt. v. 14.06.1976 – VI ZR 212/75; Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris). Dementsprechend ist beispielsweise für Weidezäune anerkannt, dass sie – bezogen auf die jeweilige Tierart – einerseits ihrer Hüte- und besonderen Schutzfunktion genügen müssen, andererseits aber einen absolut sicher wirkenden Schutz praktisch nicht bieten können. Gegen Ausbrüche ist daher die sicherste zumutbare Einfriedungsart zu wählen (BGH, Urt. v. 14.06.1976 – VI ZR 212/75, Juris; vgl. zur Zumutbarkeit in anderem Zusammenhang auch OLG Oldenburg, Urt. v. 09.11.2000 – 8 U 120/00, Juris).
38Zwar zielt die im Rahmen der Tierhalterhaftung eigenständig relevant werdende Verkehrssicherungspflicht für Zäune und Einfriedungen vorrangig darauf, ein Ausbrechen der Tiere zu verhindern (vgl. BGH, Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris), damit die ausgebrochenen Tiere der Allgemeinheit keinen Schaden zufügen. Dem Schutzzweck der Tierhalterhaftung unterfällt es aber gleichermaßen, dass Menschen nicht durch Zäune und Einfriedungen verletzt werden, die den an sie unter den Aspekten der Hüte- und Schutzfunktion zu stellenden Anforderungen nicht genügen und von denen sich deshalb bei Berührung durch ein Tier vorschnell Verletzungen verursachende Teile ablösen (siehe auch BGH, Urt. v. 28.04.1992 – VI ZR 314/91, Juris).
39d)
40Das beklagte Land hat auch zur Führung des Entlastungsbeweises nach § 833 Satz 2 BGB geeignete Beweise angetreten. Es hat Beweis dafür angeboten, dass der Zeuge K… den eingelegten Querbalken mit der Kette gesichert hatte und die solchermaßen gesicherte Toranlage den an sie zu stellenden Sicherheitsanforderungen genügte. Es hat ferner dafür Beweis angetreten, dass es zu dem Unfall auch bei weitergehenden Sicherungsmaßnahmen gekommen wäre. Damit wollte das Land ersichtlich den Entlastungsbeweis des § 833 Satz 2 BGB in seinen beiden Alternativen antreten. Über diesen Beweisantritt durfte sich das Landgericht nicht – wie geschehen – einfach hinwegsetzen. Das Landgericht hat weder ausdrücklich dargelegt, hinsichtlich des Beweisgegenstands über eine eigene Sachkunde zu verfügen, die eine Beweisaufnahme entbehrlich machen könnte, noch wird eine solche Sachkunde in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils erkennbar.
41e)
42Lediglich vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass es einer weiteren Beweisaufnahme bedarf, wenn dem Land der Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2 BGB nicht gelingt. In diesem Fall ist im Rahmen der Prüfung eines den Anspruch der Klägerin mindernden Mitverschuldens gemäß § 254 Abs. 1 BGB auf den Antrag des beklagten Landes über den Standort der Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls Beweis zu erheben. Die Annahme des Landgerichts, dass ein Mitverschulden der Klägerin an der Schadensentstehung grundsätzlich nicht in Betracht kommt, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Aufgrund der Beschaffenheit der Umgebung der Unfallörtlichkeit war für die Klägerin erkennbar, dass es sich bei dem Zugangsbereich zum Außenreitplatz um einen gefährlicheren Ort handelte. Der dortige Querbalken lag nur in einer Höhe von ca. 1,05 m auf, während die weiteren Zaunteile – wie den zur Akte gereichten Lichtbildern entnommen werden kann – deutlich höher waren. Die übrige Umschließung des Platzes war zudem stärker ausgebildet und bestand aus zwei Querstreben (Holzbalken und Transportband). Auch waren diese Zaunelemente nicht wie der den Platz verschließende Querbalken beweglich. Aus diesem Grund macht es einen Unterschied, ob sich die Klägerin unmittelbar hinter dem Balken aufhielt oder in 6 Metern Entfernung.
43Zuzustimmen ist dem Landgericht darin, dass im Streitfall hinsichtlich der materiellen Schäden eine Schadensschätzung gemäß § 287 Abs. 1 ZPO in Betracht kommt. Diese bedarf allerdings greifbarer Anhaltspunkte. Als tatsächliche Grundlage der Schätzung sind diese Anhaltspunkte im Urteil mitzuteilen, damit sie nachvollzogen werden können. Werden sie bestritten, kann es im Einzelfall – wenn der Schätzung ansonsten eine tragfähige Grundlage fehlt – einer Beweisaufnahme hierüber bedürfen.
44Unter der Voraussetzung, dass dem beklagten Land der Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2 BGB nicht gelingt, wäre das der Klägerin zugesprochene Schmerzensgeld von 13.000,- € nicht zu beanstanden. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme zu den Verletzungen der Klägerin wäre es gerechtfertigt. Eine Kürzung könnte es durch ein zu berücksichtigendes Mitverschulden erfahren.
452.
46Auf Grund des wesentlichen Verfahrensmangels ist nunmehr noch eine umfangreiche Beweisaufnahme im Sinne von § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO erforderlich. Die verfahrensfehlerhaft unterbliebene Beweisaufnahme ist nachzuholen. Es ist nicht nur Zeugen-, sondern auch Sachverständigenbeweis zu erheben. Durch Erhebung des angebotenen Zeugenbeweises ist – auch mit Blick auf Anknüpfungstatsachen für die sachverständige Begutachtung – der zwischen den Parteien streitige Unfallhergang (Verhalten des Tieres, Sicherung des Balkens mit einer Kette) aufzuklären. Insoweit wird sich das beklagte Land, dessen Vortrag insoweit nicht ganz eindeutig ist, mit Blick auf den Entlastungsbeweis nach § 833 Satz 2, 2. Alt. BGB noch erklären müssen, ob es sich das Vorbringen der Klägerin zu einem „Durchgehen“ des Pferdes hilfsweise zu Eigen machen möchte. Ob die in der Landwirtschaft allgemein üblichen und im Verkehr als ausreichend erachteten Sicherungsmaßnahmen im Streitfall eingehalten worden sind, lässt sich sodann nicht ohne sachverständige Hilfe abschließend beurteilen, zumal es sich nicht um einen der in der Praxis und nachfolgend der Rechtsprechung häufigeren Fälle eines Tierausbruchs von einer Weide handelt. Mit sachverständiger Hilfe wird zu klären sein, welches die für Außenreitplätze üblichen Umschließungen sind, ob der streitgegenständliche Platz, insbesondere sein Verschluss durch den ggf. mit Kette gesicherten Querbalken, dem Üblichen entsprach und ob eine solche Verschlusseinrichtung im Allgemeinen sowie auch bei Berücksichtigung der konkreten Nutzung des Platzes – Präsentation eines Kaltbluthengstes ohne Longe – im Verkehr als Sicherung für ausreichend erachtet wird. Das Sachverständigengutachten wird sich hierbei auch mit den Argumenten des beklagten Landes auseinandersetzen müssen, dass alternative Gestaltungen entweder technisch schwer umzusetzen oder aber sehr teuer sind.
473.
48Neben der Aufhebung des Urteils erübrigt sich die Aufhebung des zugrunde liegenden Verfahrens, da die Beweiserhebung zur Anspruchshöhe nicht fehlerhaft war, sondern lediglich um eine solche zum Anspruchsgrund zu ergänzen ist. Der dem Urteil vorausgegangene Verfahrensfehler gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO liegt hier darin, dass die Beweisaufnahme in einer den Anspruch des beklagten Landes auf rechtliches Gehör verletzenden Weise unvollständig geblieben ist.
49III.
50Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
51Ein Grund zur Zulassung der Revision besteht nicht. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
52Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 15.736,42 € festgesetzt.
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