Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - VII-VErg 27/16
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer des Bundes vom 12. Juli 2016 (VK 2 - 49/16) wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.
1
G r ü n d e
2I. Die Antragsgegnerin schrieb durch Bekanntmachung vom 16.04.2016 die Vergabe „Hilfsmittel zur Versorgung der Versicherten mit Stomaanlagen“ im offenen Verfahren erstmals unionsweit aus. Sie bildete 16 Regionallose, in denen Versorgungsverträge mit jeweils drei Leistungserbringern geschlossen werden sollen (Drei-Partner-Modell). Mit Rügen vom 17., 20. und 27.05.2016 machte die Antragstellerin Verstöße gegen sozial- und vergaberechtliche Normen geltend, denen die Antragsgegnerin nicht abhalf. Mit ihrem daraufhin angebrachten Nachprüfungsantrag hat die Antragstellerin die Rügen teilweise weiter verfolgt. Sie macht unter anderem geltend, wegen der Kombination mit dem freien Versichertenwahlrecht hinsichtlich des Versorgers, des Produkts und der Frage, ob der Versicherte beraten werden möchte, lasse das ausgeschriebene Drei-Partner-Modell keine ordnungsgemäße kaufmännische Kalkulation zu. Die Versichertenversorgung müsse daher - wie bisher - im Wege eines Beitrittsvertrags nach § 127 Abs. 2, 2a SGB V als milderes Mittel erfolgen. Überdies sei die Antragsgegnerin verpflichtet, potentiellen Bietern losbezogene Daten über die im Referenzjahr 2014 bezogenen Produkte zu überlassen. Ferner verstoße sie gegen ihre Verpflichtung zur Festlegung objektiver und transparenter Kriterien für die Einzelabrufe. Schließlich sei der geforderte Abdeckungswert von 80 % bei der zu befriedigenden Nachfrage nach Hilfsmittelprodukten rechtswidrig.
3Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen. Auf den Inhalt des angefochtenen Beschlusses wird Bezug genommen.
4Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens vor der Vergabekammer beantragt sie,
5der Antragsgegnerin unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses einen Zuschlag zu untersagen.
6Die Antragsgegnerin beantragt,
7die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
8Unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrags vor der Vergabekammer verteidigt sie den angefochtenen Beschluss.
9Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und die Anlagen sowie auf die Verfahrensakten der Vergabekammer und die beigezogenen Vergabeakten Bezug genommen.
10II. Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.
111. Allerdings ist der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zulässig. Auf die zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer im angefochtenen Beschluss wird Bezug genommen.
122. Der Nachprüfungsantrag ist jedoch nicht begründet. Die von der Antragstellerin beanstandete Kombination des Drei-Partner-Modells mit der vorgesehenen Wahlfreiheit der Versicherten hinsichtlich des Leistungserbringers, des Produkts sowie der Frage, ob eine Beratung erfolgen soll, ist vergaberechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere ist sie nicht unter dem Gesichtspunkt unzumutbar, dass den Bietern eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation nicht möglich wäre.
13Nachdem das Verbot einer Aufbürdung ungewöhnlicher Wagnisse für Umstände und Ereignisse, auf die der Bieter keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann (§ 8 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A 2006), nicht mehr gilt, können Ausschreibungsbedingungen nur noch unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zu beanstanden sein. Dies ist freilich generell noch nicht der Fall, wenn der Bieter gewisse Preis- und Kalkulationsrisiken, namentlich solche, die ihm typischerweise ohnedies obliegen, tragen soll. Die Zumutbarkeitsschwelle erhöht sich bei einer Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen (im weiteren Sinn) zulasten der Bieter. Angeboten bei Rahmenvereinbarungen wohnen - in der Natur der Sache liegend und abhängig vom in der Regel ungeklärten und nicht abschließend klärbaren Auftragsvolumen - erhebliche Kalkulationsrisiken inne, die typischerweise vom Bieter zu tragen sind. Bei Rahmenvereinbarungen gelten die Gebote der Bestimmtheit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung nur eingeschränkt. Sowohl nach § 4 Abs. 1 Satz 2 VOL/A als auch nach § 4 Abs. 1 VOL/A-EG ist der in Aussicht genommene Auftragsumfang lediglich so genau wie möglich zu ermitteln und bekannt zu geben, er braucht aber nicht abschließend festgelegt zu werden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 28.03.2012, VII-Verg 90/11 - Zytostatika, juris Rn. 12 mwN).
14Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Ausschreibung nicht zu beanstanden.
15a) Die Regelung, nach der jeder Versicherte im Rahmen der Einzelabrufe unter der ausgeschriebenen Rahmenvereinbarung gemäß § 127 Abs. 1 SGB V ein Wahlrecht hinsichtlich des Leistungserbringers (Bewerbungsbedingungen Ziffer 10.2; Rahmenvereinbarung, § 7 Abs. 1), des Produkts (Bewerbungsbedingungen, Ziffer 2.3) und der Frage, ob er beraten werden möchte (Leistungsbeschreibung, Ziffer 2.4), haben soll, ist nach den vorgenannten Grundsätzen nicht unvereinbar mit einer Ausschreibung im Dreipartnermodell. Soweit dies zur Gewährleistung einer wirtschaftlichen und in der Qualität gesicherten Versorgung zweckmäßig ist, können die Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften im Wege der Ausschreibung Verträge mit Leistungserbringern oder zu diesem Zweck gebildeten Zusammenschlüssen der Leistungserbringer über die Lieferung einer bestimmten Menge von Hilfsmitteln, die Durchführung einer bestimmten Anzahl von Versorgungen oder die Versorgung für einen bestimmten Zeitraum schließen (§ 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, hat der Auftraggeber die Wahl, eine derartige Rahmenvereinbarung mit nur einem oder mit mehreren Auftragnehmern einzugehen (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 10.06.2015, VII-Verg 4/15, BA S. 10). Hat die Krankenkasse Verträge nach § 127 Abs. 1 über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln geschlossen, erfolgt die Versorgung durch einen Vertragspartner, der den Versicherten von der Krankenkasse zu benennen ist (§ 33 Abs. 6 Satz 2 SGB V). Sind mehrere Leistungserbringer Vertragspartner ihrer Krankenkasse, können die Versicherten alle Leistungser-
16bringer in Anspruch nehmen (vgl. § 33 Abs. 6 Satz 1 SGB V).
17Die aus dieser Wahlfreiheit hervorgehende Unsicherheit der Bieter, in welchem Umfang sie beim Abruf der Einzelleistungen zum Zuge kommen, aber auch die Unwägbarkeiten, die sich aus der freien Wahl der Produkte und der Wahlfreiheit hinsichtlich einer Beratung der Versicherten ergeben, sind den Bietern zumutbar.
18b) Die Antragsgegnerin ist nicht darauf zu verweisen, das von ihr angestrebte Ziel eines möglichst weitreichenden Wahlrechts für die Versicherten im Weg eines Beitrittsvertrags gemäß § 127 Abs. 2, 2a SGB V als vermeintlich milderes Mittel zu verfolgen. Grundsätzlich gilt der Vorrang des Vertragsschlusses im Weg der Ausschreibung. Ausnahmsweise wird den gesetzlichen Krankenkassen ein Vertragsschluss durch Gewährung eines Beitrittsrechts ermöglicht, wenn die Krankenkasse eine Ausschreibung für unzweckmäßig hält (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 24.09.2014, VII-Verg 17/14, juris Rn. 26-29). Kommt eine gesetzliche Krankenkasse innerhalb ihrer Einschätzungsprärogative rechtsfehlerfrei zum Ergebnis, dass eine Ausschreibung zweckmäßig ist, ist sie nicht darauf zu verweisen, hierauf unter dem von der Antragstellerin angeführten Gesichtspunkt zu verzichten, dass bei einem Beitrittsvertrag geringere Kalkulationsrisiken für die Bieter bestünden. Ebenso wenig trifft es zu, dass im Fall der Entscheidung für eine Ausschreibung an die Beurteilung der Frage, ob den Bietern eine ordnungsgemäße kaufmännische Kalkulation möglich ist, strengere Maßstäbe anzulegen wären. Das Interesse der Antragsgegnerin und der Allgemeinheit an einer wirtschaftlichen und in der Qualität gesicherten Versorgung der Versicherten, das - von Ausnahmefällen der Unzweckmäßigkeit abgesehen - am ehesten im Wettbewerb erreicht werden kann, steht nicht hinter dem Interesse der Bieter zurück, möglichst sicher kalkulieren zu können. Kalkulationsrisiken, die sich aus der Art der Ausschreibung ergeben, sind innerhalb des den Bietern Zumutbaren hinzunehmen. Die zwischen den Verfahrensbeteiligten streitige Frage, ob bei einem Beitrittsvertrag tatsächlich geringere kalkulatorische Risiken bestehen als bei der vorliegenden Ausschreibung, bedarf daher keiner Vertiefung.
19c) Die den Versicherten eingeräumte Wahlfreiheit verstößt nicht gegen das Wettbewerbs- und Transparenzgebot (§ 97 Abs. 1 GWB a.F.) sowie das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 97 Abs. 5 GWB a.F.). Die Antragsgegnerin war nicht verpflichtet, anderweitige Kriterien für die Einzelabrufe innerhalb des Rahmenvertrags aufzustellen. Hierdurch würde die Wahlfreiheit der Versicherten, die gerade Ziel und Gegenstand der Ausschreibung ist, eingeschränkt. Die Bestimmung der Auftraggeberin, dass die Versicherten bezüglich des Leistungserbringers, des Produkts und der Frage einer Beratung Wahlfreiheit haben, ist eine transparente wie auch sachgerechte, nämlich den sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben entsprechende Regelung. Anzuerkennen ist insbesondere auch der Wunsch der Antragsgegnerin, ihren Versicherten eine möglichst große Auswahl an Produkten zu ermöglichen und den auf ein bestimmtes Produkt eingestellten Personen nicht aufgrund des Wechsels des Vertragspartners die Umstellung auf ein anderes Produkt zuzumuten.
20Kalkulatorische Unwägbarkeiten, die sich daraus ergeben können, dass die Versicherten ihre Auswahlentscheidung nicht nur nach objektiven Kriterien treffen, sondern ihre Wahl beispielsweise auch von subjektiven Umständen beeinflusst sein kann oder davon, auf welches Produkt sie im Krankenhaus eingestellt wurden, sind hinzunehmen. Sie ergeben sich unmittelbar aus dem Auftragsgegenstand und liegen nicht außerhalb des Zumutbaren.
21d) Die vertraglichen Regelungen in § 5 Abs. 3 des Mustervertrags und Ziffer 2.7.2 der Leistungsbeschreibung, wonach die Antragsgegnerin im Fall der Verordnung eines Produkts, das der Auftragnehmer nicht verbindlich angeboten hat, sowie bei Verfehlung von Lieferterminen den Einzelauftrag „im freien Wettbewerb vergeben bzw. dem Versicherten ein Wahlrecht einräumen“ will, sind vergaberechtlich nicht zu beanstanden. Sie führen weder zu einer Risikoverlagerung noch zu einer unzumutbaren Erschwerung der Kalkulation der Bieter. Wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, geht es um Fälle, in denen der vorgesehene Vertragspartner aus den genannten Gründen die Leistung nicht erbringt. Auf Bieterfragen hat die Antragsgegnerin klargestellt, dass - entgegen dem allerdings irreführenden Wortlaut - in derartigen Fällen keine Vergabe an Dritte, sondern eine Weitergabe des betroffenen Einzelauftrags innerhalb des Drei-Partner-Modells erfolgen soll. Dies ist nicht zu beanstanden.
22e) Eine Erschwerung der Kalkulation liegt auch nicht darin, dass die Antragsgegnerin unter dem noch laufenden Beitrittsvertrag Genehmigungen erteilt, die über den angestrebten Vertragsbeginn ab dem 01.01.2017 hinausreichen. Allerdings ist die Antragstellerin mit dieser Beanstandung nicht wegen einer Verletzung der Rügeobliegenheit ausgeschlossen. Eine solche bestand nicht. Die Antragstellerin wendet sich nicht in erster Linie gegen die - aus den Vergabeunterlagen erkennbare - Gestaltung des Mustervertrags. Ihre Beanstandung bezieht sich vielmehr auf Umfang und Dauer der bis August 2017 erteilten Genehmigungen, mithin auf Umstände, die in dieser Form erst im laufenden Nachprüfungsverfahren zutage getreten sind.
23Die Beanstandung ist jedoch unbegründet. Die Verfahrensweise entspricht, wie die Antragsgegnerin dargelegt hat, der seit Jahren üblichen und damit auch den Marktteilnehmern bekannten Genehmigungspraxis. Sie ist sachlich gerechtfertigt, da sich mit Blick auf Verzögerungen durch Nachprüfungsverfahren der tatsächliche Beginn der Versorgung durch die neuen Vertragspartner noch nicht datieren lässt. Unzumutbare kalkulatorische Risiken sind damit nicht verbunden. Die sukzessive Übernahme der Versorgung durch die Ausschreibungsgewinner ist vertraglich vorgesehen (§ 3 Abs. 3 der Anlage 11 „Mustervertrag“). Das Auftragsvolumen wird hierdurch nicht in nennenswertem Maß geschmälert. Ein Ausgleich erfolgt dadurch, dass gemäß § 8 Abs. 3 des Mustervertrags die Rahmenvertragspartner ihrerseits über das Ende des Rahmenvertrags hinaus genehmigte Versorgungen fortführen können. Die sukzessive Übernahme der Versorgungen dient, wie die Antragsgegnerin weiter ausgeführt hat, überdies dem Schutz der Auftragnehmer, denn eine zeitgleiche Übernahme aller Versorgungen zum Stichtag durch die neuen Rahmenvertragspartner dürfte kaum zu leisten sein.
24f) Die Vorgabe einer 80 %-igen Nachfrageabdeckung als Mindestanforderung verletzt nicht den Wettbewerbsgrundsatz.
25Allerdings fehlt der Antragstellerin insoweit nicht mangels eines entstandenen oder drohenden Schadens die Antragsbefugnis (§ 107 Abs. 2 GWB a.F.). Sie macht unter anderem geltend, durch diese Vorgabe werde ihre Position im Wettbewerb beeinträchtigt. Etliche Artikel des Referenzportfolios seien nicht mehr am Markt erhältlich und müssten - mit dem Risiko schlechterer Einkaufskonditionen - durch Ersatzartikel ersetzt werden, um die 80 %-ige Nachfrageabdeckung zu erreichen. Der Nachprüfungsantrag ist mithin zulässig, jedoch nicht begründet:
26Zu Unrecht meint die Antragstellerin, die Vorgabe zwinge die Bieter in einen Wettbewerb, der auf einer willkürlich festgelegten Anforderung beruht. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist die Forderung nach einer 80 %-igen Mindestabdeckung der im Referenzjahr bezogenen Hilfsmittel vergaberechtlich nicht zu beanstanden (vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss v. 29.09.2014, VII-Verg 17/14 - Inkontinenzmittel, juris Rn. 57-61). Gegenstand der Ausschreibung sind nicht die im Referenzjahr abgegebenen Produkte. Vielmehr fragt die Antragsgegnerin Produktgruppen nach (vgl. Leistungsbeschreibung Ziff. II.1.1), die dem Bedarf der Versicherten entsprechen und durch die tabellarisch aufgeführten Produkte (sog. 10-Steller) lediglich - dem tatsächlichen Bedarf im Referenzjahr entsprechend - unterlegt sind. Daher ist unschädlich, dass ein Teil der im Referenzjahr 2014 bezogenen Produkte am Markt nicht mehr erhältlich ist, die Antragsgegnerin auf entsprechende Bieterfragen aber nur einzelne der nicht mehr vertriebenen Artikel aus der Liste entfernt hat. Weder werden damit objektiv unmögliche Anforderungen aufgestellt noch solche, die nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt wären. Es besteht keine Verpflichtung der Bieter, die auslaufenden Produkte anzubieten. Sie in der Auflistung der Produkte zu belassen, ermöglicht es aber, bei den Unternehmen eventuell noch bestehende Lagerbestände zu berücksichtigen und hierdurch den Versicherten eine möglichst große Auswahl zu bieten und möglicherweise anderenfalls notwendige Umstellungen zu vermeiden.
27Das von der Antragstellerin angeführte Risiko, für Artikel, die anstelle der auslaufenden Produkte in das Angebotsportfolio aufgenommen werden, schlechtere Einkaufskonditionen zu bekommen, gehört zu den typischerweise von einem Bieter zu tragenden Risiken und lässt - ebenso wie die weiteren, von der Antragstellerin angeführten Umstände - eine kaufmännisch ordnungsgemäße Kalkulation des Angebots nicht als unzumutbar erscheinen.
28Zu Unrecht meint die Antragstellerin weiter, die von der Antragsgegnerin als Mindestanforderung geforderte Abdeckung von mindestens 80 % der bundesweiten Nachfrage sei willkürlich, weil sie nicht im Zusammenhang mit dem in Lose geteilten Auftragsgegenstand stehe, und beinhalte zugleich einen Verstoß gegen das Gebot der losweisen Angebotswertung. Nicht zu beanstanden ist zunächst, dass eine Mindestanforderung gleichermaßen für alle Regionallose aufgestellt wird. Zwar mag es zutreffen, dass der Antragstellerin bei einem bundesweit ermittelten Referenzwert Wettbewerbsvorteile entgehen, die darauf beruhen, dass sie in jedem Regionallos bei Betrachtung der dort herrschenden tatsächlichen Nachfrageverhältnisse eine gute Nachfrageabdeckung gewährleisten kann, sie sich nach dem Zuschnitt der Ausschreibung aber dem Wettbewerb mit Anbietern ausgesetzt sieht, die nur bei bundesweiter, nicht aber bei losbeszogener Betrachtung den Abdeckungsgrenzwert rechnerisch erreichen. Ein Verstoß gegen das Wettbewerbsgebot (§ 97 Abs. 1 GWB a.F.), das Diskriminierungsverbot (§ 97 Abs. 2 GWB a.F.) und die Grundsätze der Angebotswertung (§ 19 VOL/A-EG) liegt hierin gleichwohl nicht. Die Zugrundelegung der bundesweit ermittelten Zahlen beruht darauf, dass aus den bereits genannten Gründen für die Abfrage in den einzelnen Regionallosen im Referenzjahr 2014 der Antragsgegnerin keine Daten vorliegen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass Bieter keinen Anspruch darauf haben, dass der öffentliche Auftraggeber Ausschreibungen gerade entsprechend ihren Leistungsmöglichkeiten zuschneidet.
29g) Ihre - von der Vergabekammer zu Recht als unbegründet erachtete - Beanstandung, die von der Antragsgegnerin aufgestellte Preisobergrenze für die Zuschlagserteilung belege eine fehlende unbedingte Vergabeabsicht und bewirke zudem eine unzulässige Wettbewerbsverzerrung, hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren nicht mehr aufrecht erhalten.
30h) Auch in ihrer Zusammenschau führen die von der Antragstellerin erhobenen Beanstandungen und die Kumulation der angeführten Kalkulationsrisiken nicht dazu, dass die Ausschreibung als unzumutbar zu kritisieren wäre. Insbesondere ist die den Bietern zur Verfügung gestellte Datengrundlage ausreichend für eine ordnungsgemäße kaufmännische Kalkulation. Die Antragsgegnerin hat in den Vergabeunterlagen genau beschrieben, welche konkreten Produktarten (sog. 7-Steller) Gegenstand des abzuschließenden Rahmenvertrags sein sollen und - soweit dies zur sog. Mindestabdeckung von 80 % erforderlich ist - darüber hinaus, welche konkreten Produkte (sog. 10-Steller) die potentiellen Bieter zum Gegenstand ihrer Angebote machen sollten. Zudem enthielten die Vergabeunterlagen eine Reihe von Angaben, die die voraussichtliche Vertragsmenge abschätzen lassen. So hat die Antragsgegnerin in der Leistungsbeschreibung die Anzahl der von ihr versorgten Versicherten des Jahres 2014, aufgeteilt nach Regionallosen und Art des Stomas, die durchschnittliche Versorgungsdauer je Versicherten nach Stomaart, die Anzahl der Versicherten, die im Referenzjahr erstmals mit den verfahrensgegenständlichen Hilfsmitteln versorgt wurden, sowie der Versicherten, die neben den Hilfsmitteln häusliche Krankenpflege, ambulante oder stationäre Pflege erhalten, die Zahl der abgerechneten Versorgungspauschalen (Versorgungsmonate) je Los und Stomaart und die durchschnittlichen monatlichen Verbrauchszahlen jedes 7-Stellers pro Patient mitgeteilt. Zudem konnten die Bieter der Anlage 03 (Bezeichnung der angebotenen Hilfsmittel) entnehmen, wie sich der bundesweite Bedarf der Versicherten auf die konkreten Produkte (10-Steller) im Referenzjahr 2014 verteilte.
31Nicht zu beanstanden ist, dass die vorgenannten 10-Steller-Abgabemengen bundesweit ermittelt wurden und keinen Bezug zu den Regionallosen aufweisen. Derartige Angaben würden die Kalkulationsgrundlage zwar verbessern. Die Antragstellerin verweist insoweit darauf, dass Art und Menge der an die Versicherten der Antragsgegnerin in der Stomaversorgung abgegebenen Einzelprodukte zwischen den Regionallosen erheblich schwanken und die Beschaffungskosten für die Einzelprodukte stark variieren. Die gewünschten Daten liegen der Antragsgegnerin indes nicht vor, weil sie nur Versorgungspauschalen mit den Leistungserbringern vereinbart hat. Aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen ist damit ersichtlich, wie viele Versicherte mit welcher Stomaart versorgt wurden, nicht jedoch, wie viele Hilfsmittel (10-Steller) innerhalb der Pauschale abgegeben wurden.
32Die Antragsgegnerin war nicht verpflichtet, für die streitgegenständliche Ausschreibung auf Regionallose bezogene 10-Steller-Abgabemengen zu ermitteln und den Bietern als Kalkulationsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Der dem öffentlichen Auftraggeber bei der Vorbereitung und Durchführung von Ausschreibungen zumutbare Aufwand ist mit Rücksicht auf den vergaberechtlich bezweckten, möglichst raschen Abschluss des Vergabeverfahrens durch Erteilen des Zuschlags, aber auch wegen der dem öffentlichen Auftraggeber nicht in unbegrenztem Umfang zu Gebote stehenden verwaltungsmäßigen und finanziellen Ressourcen, zu beschränken (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 21.10.2015, VII-Verg 28/14, juris Rn. 155 mwN). Der öffentliche Auftraggeber hat demgemäß in der Leistungsbeschreibung (nur) diejenigen Daten und Fakten bekanntzugeben, über die er liquide verfügt oder die er sich - gemessen an den Grundsätzen der Zumutbarkeit - mit der Ausschreibung adäquaten Mitteln, in der für das Vergabeverfahren zur Verfügung stehenden vergleichsweise kurzen Zeit und mit den dafür in der Regel nur begrenzt verfügbaren administrativen Ressourcen beschaffen kann (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 10.04.2013, VII-Verg 50/12, juris Rn. 17).
33Die gewünschten 10-Steller-Abgabemengen mit regionalem Bezug konnte die Antragsgegnerin nicht mit zumutbarem Aufwand beschaffen. Zwar hat sie, wie die Antragstellerin geltend macht, im Februar 2015 eine Befragung der größtenteils bundesweit agierenden, marktrelevanten Leistungserbringer durchgeführt. Es trifft jedoch nicht zu, dass aus den gewonnenen Daten mit geringem Aufwand anonymisierte gebietsbezogene und zumindest näherungsweise zutreffende Abgabemengen je Regionallos zu ermitteln gewesen wären. Wie die Antragsgegnerin erläutert hat, hat die Befragung die den Bietern mitgeteilten bundesweiten Datensätze erbracht. Regionale Daten wurden nicht erfasst, weil aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht alle Leistungserbringer bereit waren, Angaben mit konkretem Versichertenbezug zu machen, und die Antragsgegnerin aus denselben datenschutzrechtlichen Erwägungen lediglich die absoluten Versorgungszahlen ohne Versichertenbezug gespeichert hat. An der Richtigkeit dieser Darstellung zu zweifeln hat der Senat keine Veranlassung.
343. Es besteht keine Veranlassung, im Hinblick auf den mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 20.09.2016 gestellten Antrag der Antragstellerin auf Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an den EuGH die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens kann gemäß Art. 267 AEUV geboten sein, wenn es um die Auslegung und Gültigkeit primären und sekundären Unionsrechts geht. Weitere Voraussetzung gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV ist, dass das nationale Gericht die zu stellende Frage für entscheidungserheblich hält, wobei diese Frage einer Einschätzungsprärogative des nationalen Gerichts unterliegt. Ausnahmen von der Vorlagepflicht kommen in Betracht, wenn die Vorlagefrage vom EuGH bereits entschieden worden ist oder sich eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH auch in anderen Verfahrensarten entwickelt hat. Nach der sog. „Acte clair“-Theorie ist darüber hinaus keine Pflicht zur Vorlage gegeben, wenn die richtige Anwendung des EU-Rechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum mehr besteht (EuGH, Urteil v. 06.10.1982, C-283/81 - Cilfit, Rn. 12-16). Dies ist hier der Fall. Das freie Versichertenwahlrecht hinsichtlich des Vertragspartners und des Produkts bei den Einzelabrufen innerhalb der Rahmenvereinbarung tangiert nicht die unionsrechtlichen Grundsätze des Wettbewerbs, der Transparenz und der Diskriminierungsfreiheit. Ebenso wenig liegt ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot vor.
35a) Das Wettbewerbsgebot ist auf die von der Antragstellerin beanstandeten Regelungen über die Einzelabrufe nicht anwendbar. In Fällen der vorliegenden Art findet ein Wettbewerb allein bei der Wahl der Rahmenvertragspartner statt, nicht hingegen bei der Vergabe der Einzelaufträge. Art. 32 der Richtlinie 2004/18/EU bestimmt, dass die Vergabe von Aufträgen, die auf einer mit mehreren Wirtschaftsteilnehmern geschlossenen Rahmenvereinbarung beruhen
36- entweder nach den Bedingungen der Rahmenvereinbarung ohne erneuten Aufruf zum Wettbewerb erfolgt
37- oder, sofern nicht alle Bedingungen in der Rahmenvereinbarung festgelegt sind, nach erneutem Aufruf der Parteien zum Wettbewerb zu denselben Bedingungen, die erforderlichenfalls zu präzisieren sind, oder gegebenenfalls nach anderen, in den Verdingungsunterlagen der Rahmenvereinbarung genannten Bedingungen nach dem in Art. 32 der Richtlinie vorgegebenen Verfahren.
38Im Streitfall hat sich die Antragsgegnerin im Rahmen der ihr als Auftraggeberin zukommenden Bestimmungsfreiheit für die erste Variante entschieden, mithin einen Wettbewerb bei der Auswahl der Vertragspartner der Rahmenvereinbarung und eine Vergabe der Einzelaufträge nach den Bedingungen der Rahmenvereinbarung ohne erneuten Wettbewerb.
39b) Durch die Festlegung, dass die Vergabe der Einzelaufträge nach den Bedingungen des Rahmenvertrags erfolgt, hat die Antragsgegnerin zugleich dem Transparenzgebot genügt. Aus den Vergabeunterlagen geht mit der gebotenen Eindeutigkeit hervor, wie die Einzelabrufe erfolgen sollen, nämlich dass den Versicherten ein freies Wahlrecht hinsichtlich des Vertragspartners und des Produkts eingeräumt wird.
40c) Die sich aus dem freien Versichertenwahlrecht ergebenden kalkulatorischen Unwägbarkeiten belasten alle Bieter gleichermaßen, so dass auch das Verbot der Diskriminierungsfreiheit offensichtlich nicht verletzt ist.
41d) Dem Wirtschaftlichkeitsgebot genügt die Antragsgegnerin durch Auswahl der drei preiswertesten Bieter als Rahmenvertragspartner. Unter diesen hat, wie bereits ausgeführt, kein weiterer Wettbewerb stattzufinden, vielmehr sind die Einzelaufträge nach den festgelegten Bedingungen, mithin nach freier Wahl der Versicherten, zu vergeben.
424. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 78, 120 Abs. 2 GWB.
43Dicks, Rubel, Barbian
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