Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 9 U 216/76
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn vom 25. Juni 1976 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand
2Die Klägerin nimmt die am 20. März 1962 geborene Beklagte aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) auf Ersatz von Leistungen in Anspruch, welche sie als Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung an ihr Mitglied ... aufgrund eines Unfalls vom 5. Juni 1975 erbracht hat, bei dem ... von dem Balkon der Obergeschosswohnung des Wohnhauses ... stürzte.
3Die Beklagte ist seit dem 15. Februar 1974 Eigentümerin dieses Hauses; bezüglich des hier streitigen Schadensrisikos ist sie nicht haftpflichtversichert. Vorher war von 1968 an ihr Vater Eigentümer. Sie selbst wohnt mit ihren Eltern nicht in diesem Hause. Die Erdgeschosswohnung war an ... und die Obergeschosswohnung an ein Fräulein ... vermietet, mit der ... seit längerem eng befreundet war und mit der er in der Obergeschosswohnung zusammenlebte.
4Die Klägerin hat behauptet: Der Unfall habe sich dadurch ereignet, daß sich ... leicht an die Balkonbrüstung des zur Wohnung ... gehörigen Balkons gelehnt habe. Dadurch sei ein Teil der Balkonbrüstung abgebrochen. ... sei dabei aus einer Höhe von ca. 3,50 m abgestürzt, da er sich nirgends habe festhalten können. Der Brüstung sei vorher nicht anzusehen gewesen, daß sie nicht mehr sicher gewesen sei. Sie habe nur deshalb abbrechen können, weil die Beklagte es unterlassen habe, in gehöriger Weise für die Unterhaltung auch dieses Gebäudeteiles zu sorgen. ... habe bei dem Unfall eine Brustkorbprellung, eine Beckenprellung sowie einen Bruch des rechten Handgelenks und eines Fingers der rechten Hand erlitten. Sie, die Klägerin, habe für ihn an Heilungskosten insgesamt 3.971,90 DM aufgewandt.
5Die Klägerin hat gemeint, die Beklagte hafte gemäß §§ 836, 829 BGB auf Ersatz der Heilungskosten.
6Sie hat beantragt,
7die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.971,90 DM nebst 8 % Zinsen seit dem 11. August 1975 zu zahlen.
8Die Beklagte hat beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie hat behauptet: Der Unfall habe sich ereignet, als ... Möbel oder Verpackungsmaterial über den Balkon transportiert habe, ohne sich vorher zu vergewissern, ob die dabei offensichtlich übermäßig beanspruchte Balkonbrüstung dies aushalten werde. Bei dem Möbeltransport sei die Balkonbrüstung beschädigt und dadurch der Unfall herbeigeführt worden.
11Im übrigen hat die Beklagte geltend gemacht: Sie sei gemäß § 828 Abs. 2 BGB für den Schaden nicht verantwortlich, da sie zur Unfallzeit nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Reife gehabt habe. Eine Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen nach § 829 BGB sei schon deshalb nicht gegeben, weil die Klägerin im Verhältnis zu ihr sehr vermögend sei. Ihr, der Beklagten, Vater habe den Balkon gemäß Rechnung vom 8.5.1973 durch zuverlässige Handwerker instandsetzen lassen. Weder ... noch Fräulein ... hätten als Mieter irgendwelche Schäden an dem Hause angezeigt, obwohl sie hierzu nach dem Mietvertrag verpflichtet gewesen wären; im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Hausrenovierung hätten sie vielmehr auf Befragen ausdrücklich erklärt, am Balkon seien keine Instandsetzungsarbeiten erforderlich. Schließlich hat die Beklagte die Schadenshöhe als unsubstantiiert bestritten.
12Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil die Klage abgewiesen und in den Gründen ausgeführt: Eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 836, 823 BGB entfalle gemäß § 828 Abs. 2 BGB. Auch eine Billigkeitshaftung gemäß § 829 BGB komme nicht in Betracht. Der Klägerin stehe auch kein auf sie übergegangener Schadensersatzanspruch des ... aus dem Gesichtspunkt des Vertrages mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter zu. Es sei schon zweifelhaft, ob der Verletzte ... überhaupt in den Schutzbereich des Mietvertrages zwischen der Beklagten und der Mieterin ... einbezogen gewesen sei. Auf jeden Fall lasse sich allein aus der Tatsache, daß die Balkonbrüstung abgebrochen sei, keine Vertragsverletzung der Beklagten herleiten, zumal die Klägerin selbst vortrage, daß man der Balkonbrüstung die mangelnde Sicherheit nicht habe ansehen können.
13Gegen dieses Urteil, auf dessen weiteren Inhalt Bezug genommen wird, richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Klagebegehren weiterverfolgt. Sie meint, ... habe in Bezug auf die mietvertraglichen Schutzpflichten der Beklagten die gleiche Stellung eingenommen, als wenn Angehörige der Mieterin ... bei dieser gewohnt hätten. Die bloße Tatsache, daß ... und Fräulein ... nicht verheiratet gewesen seien, sei unerheblich. Beide hätten sich tagsüber meistens in der Wohnung ... und nachts in der Wohnung ... aufgehalten und einen gemeinsamen Haushalt geführt. Im übrigen spreche eine tatsächliche Vermutung dafür, daß die mangelnde Standsicherheit der Balkonbrüstung von der Beklagten bzw. ihren Eltern zu vertreten sei.
14Die Klägerin hat beantragt,
15abändernd die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.971,90 DM nebst 8 % Zinsen seit dem 11. August 1975 zu zahlen, hilfsweise, ihr für den Fall einer revisionsfähigen Entscheidung nachzulassen, jede Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung, auch in Form selbstschuldnerischer Bürgschaft einer Großbank oder öffentlichen Sparkasse, oder durch Hinterlegung abzuwenden.
16Die Beklagte beantragt,
171)
18die Berufung zurückzuweisen,
192)
20ihr bei einer revisionsfähigen Entscheidung nachzulassen, jede Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abzuwenden,
213)
22falls der Klägerin Vollstreckungsnachlaß gewährt werde, gemäß § 713 Abs. 2 2. Halbsatz ZPO auszusprechen, daß das Urteil auch bei Sicherheitsleistung durch die Klägerin für die Beklagte vorläufig vollstreckbar ist, sofern diese ihrerseits Sicherheit leiste, welche hiermit angeboten werde.
23Sie tritt der Rechtsansicht der Klägerin entgegen und macht noch geltend: Die von der Klägerin behauptete Art der gemeinsamen Wohnungsbenutzung durch ... und Fräulein ... sei der Beklagten und ihren Eltern nicht bekannt; diese hätten nur allgemein gewußt, daß beide ein enges Verhältnis miteinander unterhalten hätten, so daß sich daraus die naheliegende Schlußfolgerung ergebe, daß sich beide häufig gegenseitig in ihren Wohnungen besuchten. Mehr sei ihnen, die in einem anderen Stadtteil wohnten, nicht bekannt gewesen.
24Im übrigen wiederholen und ergänzen die Parteien ihr bisheriges Vorbringen, wegen dessen näherer Einzelheiten auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze verwiesen wird.
25Die Klägerin hat den Eheleuten ..., den Streit verkündet.
26Entscheidungsgründe
27Die Berufung ist unbegründet. Der Klägerin stehen weder auf sie übergegangene Ansprüche des ... gemäß §§ 836, 823, 828 Abs. 2, 829 BGB noch vertragliche Schadensersatzansprüche aus dem zwischen der Beklagten und Fräulein ... geschlossenen Mietvertrag zu.
281)
29Bezüglich eines etwaigen Anspruchs aus unerlaubter Handlung (§§ 836, 823 BGB) hat das Landgericht zutreffend ausgeführt, daß die Beklagte nicht die zur Erkenntnis ihrer Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht gehabt hat, § 828 Abs. 2 BGB; für ihre gesetzlichen Vertreter haftet die Beklagte weder aus §§ 823, 831 BGB, weil die gesetzlichen Vertreter nicht zu einer Verrichtung bestellt sind (RGZ 159, 283, 292; Erman/Drees, 6. Aufl., § 831 BGB Rz. 14, 22), noch aus § 836 BGB (RG JW 1915, 580; LZ 1915, 1004; Geigel, Haftpflichtprozeß, 16. Aufl., Seite 586 Rz. 11). Das wird von der Klägerin auch nicht in Zweifel gezogen, die insoweit lediglich meint, es entspreche der Billigkeit, daß die Beklagte wenigstens einen Teil des Schadens trage.
30Zu Recht hat das Landgericht indes die Voraussetzungen einer etwaigen Ersatzpflicht der Beklagten aus § 829 BGB verneint. Nach dieser Vorschrift hat derjenige, der in einem der in den §§ 823 bis 826 BGB bezeichneten Fälle für einen von ihm verursachten Schaden aufgrund des § 828 BGB nicht verantwortlich ist, gleichwohl - sofern der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann - den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum angemessenen Unterhalte sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf. Diese Bestimmung ist entsprechend auf die Fälle des § 836 BGB anzuwenden, da es sich hier um einen gleichwertigen Tatbestand - nämlich eine unerlaubte Handlung im Sinne des § 823 BGB - handelt und lediglich eine abweichende Regelung der Beweislast getroffen ist (Erman/Drees, a.a.O., §§ 829 und 836 BGB, jeweils Rz. 1; Palandt/Thomas, 35. Aufl., § 829 BGB Anm. 4 und § 836 BGB Anm. 1; Medicus, Studienkommentar zum BGB, § 829 Anm. 3).
31Es kann dahingestellt bleiben, ob überhaupt im übrigen die Voraussetzungen des § 836 BGB oder des § 823 BGB vorliegen, ob sich der Unfall in der von der Klägerin behaupteten Weise ereignet hat und ob, falls die Beklagte als erwachsener normaler Mensch für ihr Tun voll verantwortlich sein würde, sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung verwirklicht wäre oder ob bewiesen werden könnte, daß die zum Zwecke der Abwendung der Gefahr im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet worden ist (§ 829 BGB ist nämlich auch dann nicht anzuwenden, wenn die Schuld des Täters aus anderen als den in §§ 827, 828 BGB bezeichneten Gründen nicht gegeben ist, BGH NJW 1958, 1630, NJW 1962, 2201 und NJW 1963, 1609). Immerhin war nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin der Balkonbrüstung eine mangelnde Sicherheit nicht anzusehen. Schließlich kann es auch offen bleiben, ob nicht eine Schadensersatzpflicht eines aufsichtspflichtigen Dritten in Betracht kommt. Denn auf jeden Fall wäre eine Ersatzpflicht der Beklagten gemäß § 829 BGB deswegen zu verneinen, weil die Billigkeit eine solche nicht erfordert.
32Die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzes, daß schuldunfähige Personen nicht ersatzpflichtig sind, darf nicht schon durch das Billigkeitsurteil des § 829 BGB korrigiert werden, wenn die Billigkeit, etwa im Hinblick auf die beiderseitigen Vermögensverhältnisse, dieses erlaubt. Vielmehr muß die Billigkeit diese Korrektur (ganz oder teilweise) erfordern, wie schon der Wortlaut des Gesetzes und die Einschränkung zeigt, daß der Geschädigte nicht Ersatz bei einem Aufsichtspflichtigen darf erlangen können (BGH NJW 1969, 1762 und NJW 1973, 1795). Seine "Bedürftigkeit" ist daher mindestens ebenso Voraussetzung einer Haftung aus 829 BGB wie die "Leistungsfähigkeit" des Schädigers. Um das Billigkeitsurteil zutreffend fällen zu können, bedarf es der Würdigung der gesamten Umstände des Haftpflichtfalles, wobei die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten als einer der Beurteilungsfaktoren zu berücksichtigen sind, daneben aber, auch die Besonderheiten der den Schaden auslösenden Handlung (BGH NJW 1957, 674 - VersR 1957, 218 und NJW 1969, 1762).
33Über die Vermögensverhältnisse ihres Mitglieds ... hat die Klägerin gar nichts dargelegt, nicht einmal seine berufliche Tätigkeit. Bezüglich der Beklagten hat sie nur vorgebracht, daß diese Grundstückeigentümerin sei. Letzteres ist aber für sich allein nichtssagend, da weder der Gebäudewert noch die Mieteinnahmen bekannt sind. Nach dem Inhalt der Grundakten ist bei der notariellen Übertragung des Hausgrundstücks auf die Beklagte der Verkehrswert mit 50.000,- DM angegeben worden; für die Eltern der Beklagten ist ein lebenslängliches Nießbrauchsrecht eingetragen, beginnend mit der Vollendung des 18. Lebensjahres der Beklagten, also am 20.3.1980. Der Senat sah keine Veranlassung, der Klägerin gemäß § 139 ZPO eine Ergänzung ihres Vorbringens anheimzustellen, da bereits in dem angefochtenen Urteil ausgeführt ist, es sei nicht hinreichend dargetan, wieso hier eine Haftung der Beklagten der Billigkeit entsprechen solle. Demgemäß kann nicht davon ausgegangen werden, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse des ... und der Beklagten eine Billigkeitshaftung der Beklagten erfordern würden.
34Im übrigen wäre bezüglich der wirtschaftlichen Verhältnisse aber auch zu berücksichtigen, daß die Beklagte gegen das hier streitige Schadensrisiko nicht haftpflichtversichert ist, während der hier streitige Schaden des Geschädigten ... von einem Sozialversicherungsträger getragen worden ist, der zudem nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin keinen Bankkredit in Anspruch nimmt, seine überschüssigen Gelder vielmehr zinsbringend (angeblich im Schnitt zu 8 %) anlegt. Werden aber die Schäden des Geschädigten von einem Sozialversicherungsträger getragen, während der schuldunfähige Schädiger nicht haftpflichtversichert ist, so kann die Billigkeitsregelung des § 829 BGB nur sehr begrenzt herangezogen werden. Auch dieser Gesichtspunkt spricht vorliegend gegen eine Billigkeitshaftung der Beklagten.
35Schließlich zeigt aber auch die Besonderheit der den Schaden nach der Behauptung der Klägerin auslösenden Handlung keinen so schweren Verantwortungsbeitrag der Beklagten, daß er eine Billigkeitshaftung nach § 829 BGB erfordern würde. Unstreitig war der Balkonbrüstung die mangelnde Festigkeit nicht anzusehen und ist sie auch von Schäpermeier nicht erkannt worden, obwohl er nach dem Vorbringen der Klägerin tagsüber dauernd mit Fräulein ... in deren Obergeschosswohnung zusammenlebt und daher jedenfalls im allgemeinen die örtlichen Verhältnisse genau kannte.
36Nach alledem würden schon die Gesamtumstände nicht zu einer Billigkeitshaftung der Beklagten gemäß § 829 BGB führen.
372)
38Da dem Mitglied ... der Klägerin kein vertraglicher Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zustand, konnte ein solcher auch nicht gemäß § 1542 RVO auf die Klägerin übergehen.
39Allerdings hätte die Mieterin ..., falls sie selbst durch eine Mangelhaftigkeit der Balkonbrüstung geschädigt worden wäre, bei Verschulden der Beklagten, die im Rahmen des Mietvertrages gemäß § 278 BGB für ihre gesetzlichen Vertreter einzustehen hätte, nach § 538 BGB einen Schadensersatzanspruch, falls dieser nicht gemäß § 539 BGB wegen Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis des Mangels ausgeschlossen wäre. In der Rechtsprechung ist es anerkannt, daß auch dritte, an einem Vertrag nicht unmittelbar beteiligte Personen in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen werden können. Ihnen gegenüber ist dann der Schuldner zwar nicht zur Leistung, wohl aber unter Umständen zum Schadensersatz verpflichtet. Zu den Verträgen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gehört insbesondere auch der Mietvertrag (BGH NJW 1964, 33; NJW 1965, 1757; Betrieb 1968, 349; JZ 1968, 304; NJW 1968, 694 und 885, 887; NJW 1973, 2059, 2061). Die Einbeziehung Dritter in die Schutzwirkung eines Vertrages beruht darauf, daß - dem Schuldner erkennbar - mit seiner Leistung ein Dritter in Berührung kommt, dem gegenüber der Gläubiger in dem Bereich, in den das Schuldverhältnis hineinragt, seinerseits fürsorge- und obhutspflichtig ist. Dann nämlich entspricht es Sinn und Zweck des Vertrages sowie Treu und Glauben, daß dem Dritten der Schutz des Vertrages in gleicher Weise zugute kommt wie dem Gläubiger selbst. Steht diesem aber - wie z.B. einem Mieter - ein Schadensersatzanspruch bei eigener Schädigung zu, so kann für den Dritten nichts anderes gelten. Das bedeutet keine nicht zu rechtfertigende Ausdehnung der Garantiehaftung des Vermieters auf eine unübersehbare Zahl von Personen, vielmehr kann der Schutzbereich nur auf diejenigen Personen ausgedehnt werden, von denen bei Vertragsschluß angenommen werden muß, daß der Mieter ihnen den selben Schutz zukommen lassen will, wie er ihm selbst im Rahmen des Vertrages zusteht (BGH NJW 1968, 887).
40Der Bundesgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, daß der Kreis derjenigen Personen, die in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen können, eng zu begrenzen ist (vgl. die oben angeführten Entscheidungen). Ein derartiges Fürsorgeverhältnis des Mieters zu Dritten ist bei dem Vater gegenüber den Familienangehörigen (NJW 1964, 34) und bei dem Mieter gegenüber Hausangestellten oder sonstigen Hilfspersonen, die nach dem Inhalt des Mietvertrages bestimmungsgemäß an dem Gebrauch der Mietsache teilhaben oder ihn gar anstelle des Mieters für sich ausüben (BGH NJW 1973, 2059, 2061), bejaht worden. Dabei ist allgemein darauf abzustellen, daß der Mieter für das "Wohl und Wehe" des Dritten mitverantwortlich sein und Anlaß haben muß, auf dessen Sicherheit ebenso bedacht zu sein wie auf seine eigene (BGH NJW 1964, 35). Nach der Literatur fallen nicht unter die Schutzwirkung eines Mietvertrages Besucher oder zufällige Kontaktpersonen des Mieters (Erman/Westermann, a.a.O., § 328 BGB Rz. 12) bzw. Lieferanten oder Gäste (Palandt-Heinrichs a.a.O., § 328 BGB Anm. 3, a, ii).
41Das Mitglied ... der Klägerin fiel aus mehreren Gesichtspunkten nicht unter den Schutzbereich, des zwischen der Beklagten und der Mieterin ... bestehenden Mietvertrages:
42a)
43In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen bestand durchweg eine Fürsorgepflicht des Mieters gegenüber dem Geschädigten Dritten, sei es aufgrund der familienrechtlichen Vorschriften oder im Hinblick auf § 618 BGB. Dieser Fürsorgepflicht entsprechen Treuepflichten des anderen Teils, die bei den familienrechtlichen Verhältnissen in den §§ 1353 ff, 1601 ff, 1626 ff BGB gesetzlich normiert und in einem Arbeitsverhältnis (vgl. hierzu Erman/Sirp, a.a.O., § 242 BGB Rz. 61 ff; Palandt/Putzo, a.a.O., § 611 BGB Anm. 8) aufgrund des § 242 BGB besonders ausgeprägt sind. Demgegenüber war aber das bloße Zusammenleben des Mitglieds ... der Klägerin mit Fräulein ... durch eine beiderseitige völlige Bindungslosigkeit gekennzeichnet, die noch dadurch offenbarer wird, daß nicht einmal eine vertragliche Beziehung in Form eines Verlöbnisses behauptet wird. Dieses bloße Zusammenleben begründete kein gesetzliches Treue- und Fürsorgeverhältnis, keine gegenseitige Unterhalts- oder Beistandspflicht in Notfällen und konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen einseitig aufgelöst werden, ohne daß einer auf den anderen dahin Rücksicht zu nehmen hatte, ob dieser hierdurch wirtschaftlich oder sonstwie hart getroffen wurde. Wenn beide aber durch bloßes Zusammenleben eine Beziehung eingehen, die von der Rechtsordnung nicht besonders vorgesehen und geschützt, sondern allenfalls in gewissem Umfange toleriert wird, so haben sie damit selbst Verhältnisse geschaffen, die außerhalb des besonderen Schutzbereiches stehen, auf die sich noch der Mietvertrag erstreckt. Deshalb war ... nicht in den Schutzbereich des Mietvertrages einbezogen.
44b)
45Im übrigen fiel ... auch deshalb nicht unter den durch den Mietvertrag geschützten Personenkreis, weil ein Vermieter es nicht generell zu dulden braucht, daß eine Mieterin einen Partner aufnimmt, mit dem sie ehelos zusammenlebt. Zwar ist ein Mieter berechtigt, nahe Familienangehörige in die Wohnung aufzunehmen (BGH WarnRspr. 1970 Nr. 66); jedoch ist die eigenmächtige Aufnahme eines Partners zum Zwecke des bindungslosen Zusammenlebens ein vertragwidriger Gebrauch im Sinne des § 353 BGB. Zu Unrecht hat das Landgericht Bonn gemeint (NJW 1975, 1690), die Abwägung der Interessen des Vermieters und des Mieters könne im Einzelfall dazu führen, daß das Interesse des Mieters an der Fortführung der eheähnlichen Beziehungen in der Mietwohnung das Interesse des Vermieters an der Durchsetzung seiner Moralauffassung überwiege. Wenn Schickedanz gar meint (NJW 1975, 1891), aus Artikel 6 Abs. 1 des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Eheschließungsfreiheit auch die "vorehelichen Aktivitäten des Suchens und gemeinsamen Versuchens" als verfassungsrechtlich geschützt anzusehen, so ist das schlechthin abwegig und pervertiert den grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie. Im übrigen wäre es dem Vermieter auch weder möglich noch zumutbar, Erhebungen darüber anzustellen, ob es sich bei dem Dritten um den Verlobten oder den "ernsthaften Partner vorehelicher Aktivitäten" oder um einen bindungslosen Geschlechtspartner handelt.
46Allerdings bedeutet, wie Gernhuber (Familienrecht, 2. Aufl., § 5 I, 1) zutreffend ausführt, der Schutz der Ehe noch kein verfassungsrechtliches Verbot der "freien Lebensgemeinschaft". Mögen auch manche Vermieter gegen die Vermietung an ein unverheiratetes Paar oder gegen die Aufnahme eines "freien Partners" keine Bedenken haben und mag ein derartiges Zusammenleben auch teilweise praktiziert werden, so ändert das doch nichts an der Tatsache, daß auch heute noch ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung daran Anstoß nimmt. Auch der Vermieter hat Anspruch auf Gewissensfreiheit und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Demjenigen, der das Zusammenleben eines unverheirateten Paares als sittlich nicht zu rechtfertigen erachtet, muß es frei stehen, sich eines Mieters zu entledigen, der sich über diese auf beachtenswerte Grundwerte zurückzuführende Haltung einseitig hinwegsetzen will. Zur Entfaltung der freien Persönlichkeit des Vermieters gehört es, daß er seine Auffassung darüber, was in seinem Hause geschieht, frei vertreten und durchsetzen kann (so zutreffend Händel NJW 1975, 521). Wenn tatsächlich - wie von der Gegenmeinung behauptet wird - die Zahl derer wächst, die bei sozialethischer Betrachtung einem ehelosen Zusammenleben positive Aspekte abgewinnt, so ist es einem Mieter umso eher zumutbar, sich eventuell eine andere Wohnung bei einem "toleranten" Vermieter zu suchen, als seinerseits Toleranz einseitig zu postulieren und dem Vermieter die Duldung eines Konkubinates aufzuzwingen.
47War demnach die Beklagte als Vermieterin nicht von vornherein verpflichtet, die Aufnahme des ... durch Fräulein ... zu dulden, so unterfiel ... auch nicht zu Lasten der Beklagten den Schutzwirkungen des mit Fräulein ... geschlossenen Mietvertrages.
48Unerheblich ist es insoweit, ob die Beklagte bzw. ihre Eltern entsprechend ihrer Behauptung von dem Zusammenleben keine Kenntnis gehabt haben. Denn selbst wenn sie dieses Zusammenleben geduldet haben sollten, führte das nicht zu einer Einbeziehung des Schäpermeier in den Schutzbereich des Mietvertrages.
49Demgemäß war die Berufung zurückzuweisen. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 7 ZPO.
50Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlaß, da die gesetzlichen Voraussetzungen des § 546 Abs. 1 ZPO nicht vorliegen. Zum einen weicht die vorliegende Entscheidung des Senats nicht von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes ab. Zum anderen hat die Rechtssache aber auch keine grundsätzliche Bedeutung. Die Zulassungsvoraussetzung der "grundsätzlichen Bedeutung" ist bereits durch die Rechtsprechung zu der früheren Fassung des § 546 Abs. 2 Satz 1 ZPO und den entsprechenden Bestimmungen anderer Verfahrensordnung weithin ausgefüllt. Sie fand mit der Verordnung vom 15.1.1924 zum Zwecke der Beschränkung der Revision in Ehesachen erstmals, wenn auch nur vorübergehend, Eingang in den Zivilprozeß und ist seit Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes 1926 Gegenstand des arbeitsgerichtlichen Revisionsrechts. Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes "grundsätzliche Bedeutung" hat sich im wesentlichen an den Hauptaufgaben des Revisionsgerichts, nämlich die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts, zu orientieren. Erforderlich ist daher das Vorliegen einer klärungsbedürftigen Frage von grundsätzlicher und damit allgemeiner Bedeutung (BGH NJW 1951, 762; BVerwG NJW 1962, 218). Unter "allgemeiner Bedeutung" ist dabei zu verstehen, daß sich die Auswirkungen der Entscheidung in quantitativer Hinsicht nicht in einer Regelung der Beziehungen der Parteien oder in einer von vornherein überschaubaren Anzahl gleich gelagerter Angelegenheiten erschöpfen dürfen, sondern eine unbestimmte Vielzahl von Fällen betreffen müssen (BFH 89, 117, 119). In qualitativer Hinsicht dürfen die Auswirkungen der Entscheidung nicht nur auf tatsächlichem Gebiet liegen. Immer muß es sich um das abstrakte Interesse der Gesamtheit, der Einheit und Entwicklung des Rechts handeln und nicht um das Interesse eines Einzelnen oder um einen sogenannten Musterprozeß zur höchstrichterlichen Entscheidung zu bringen (BAG 2, 26; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 34. Aufl., § 546 ZPO Anm. 2).
51Nach diesen Grundsätzen kann keine Zulassung der Revision erfolgen. Die Auffassung des Senats zu § 829 BGB entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, ebenso die Rechtsauffassung, daß der Kreis derjenigen Personen, die in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen werden können, eng zu begrenzen ist. Die Rechtsfrage, daß ein in bindungsloser Gemeinschaft aufgenommener Partner nicht zu diesem Kreis gehört, hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die weiteren Ausführungen, daß ein Vermieter es nicht generell zu dulden braucht, daß eine Mieterin einen Partner aufnimmt, mit dem sie ehelos zusammenlebt, ist nur eine zusätzliche Begründung für die Rechtsauffassung des Senats, auf die sich die vorliegende Entscheidung also nicht allein stützt.
52Mangels Zulassung der Revision entfiel auch die Anordnung von Vollstreckungsnachlaß (§ 713 a ZPO).
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