Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 20 U 239/76
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 21. September 1976 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 47.085,95 (siebenundvierzigtausendfünfundachtzig 95/100) DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. Januar 1976 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 59.000,- DM abzuwenden.
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Tatbestand
2Die Klägerin ist die Witwe des Bauunternehmens .... Dieser hatte im Dezember 1969 unter der Versicherungs-Nr. ... bei der Beklagten einen Lebensversicherungsvertrag abgeschlossen, in dem die Klägerin als Bezugsberechtigte eingesetzt war. Die Versicherungssumme war auf 50.000,- DM vereinbart und hatte sich nachträglich auf 50.964,- DM erhöht. Dem Vertrag lagen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Großlebensversicherung zugrunde, in denen es in §8 (Selbsttötung) wie folgt heißt:
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Bei Selbsttötung des Versicherten zahlt die Gesellschaft die volle Versicherungssumme, wenn beim Ableben seit Einlösung des Versicherungsscheins oder Wiederherstellung der Versicherung 5 Jahre verstrichen sind oder wenn nachgewiesen wird, daß die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist. Andernfalls ist eine etwa vorhandene geschäftsplanmäßige Deckungsrückstellung auszuzahlen. |
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Der Ehemann der Klägerin schied am 17. Januar 1974 durch Selbstmord aus dem Leben. Er ertränkte sich in ... bei ... in der Lippe. Sein Pkw wurde am selben Tag unverschlossen mit steckendem Zündschlüssel auf einem Parkplatz in den ... Waldungen unweit des Lippeufers aufgefunden. Zwischen den Vordersitzen des Pkw lag ein aus einem Notizbuch herausgerissener Zettel, auf dem auf der einen Seite geschrieben stand:
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"Meine Helga Birgit Michael u. Andre + ich naß sterben". |
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Auf der anderen Seite des Zettels befanden sich neben einer älteren geschäftlichen Notiz die Worte:
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"Ich sterbe für so fiele. Ich habe Eich sehr geliebt aber nur Euch. Diese Heilt (e) Welt ist Böse." |
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In einer Entfernung von etwa 350 m vom Auto wurden auf einem Waldweg inmitten einer Pfütze die Schuhe des Verstorbenen, ordentlich hintereinander abgestellt, aufgefunden, 300 m weiter an der Böschung zum Ufer der Lippe der Dufflecoat des Verstorbenen. Der Leichnam wurde später in ... bei ... ans Ufer geschwemmt und dort am 12. Februar 1974 von spielenden Kindern entdeckt. Die Untersuchung des Leichenbluts ergab einen Äthylalkoholgehalt von 1,8 g %o.
9Der Ehemann der Klägerin befand sich zur Zeit der Tat in geschäftlichen und persönlichen Schwierigkeiten. Gegen ihn schwebte ein Ermittlungsverfahren wegen aktiver Bestechung (45 Js 144/73 StA Münster), in dem kurz zuvor die Buchhalterin des von ihm und seinen beiden Brüdern gemeinsam betriebenen Bauunternehmer von der Kriminalpolizei als Zeugin vernommen worden war. Ferner bestanden Meinungsverschiedenheiten mit seinen beiden Brüdern auf geschäftlicher Ebene, u.a. wegen der Höhe der Gewinnbeteiligung. Der Ehefrau des Verstorbenen war aufgefallen, daß dieser schon in der Nacht vor dem Selbstmord sehr unruhig war und kaum geschlafen hatte. Insbesondere äußerte er Befürchtungen, ein Baukran könne wegen eines in der Nacht herrschenden Sturms umstürzen. Am Morgen des 17. Januar 1974 wollte er zunächst nicht kaffetrinken. Er fuhr dann mit dem Pkw zum Betrieb, von dort aus sogleich aber zurück nach Hause, um die Tochter um 8.00 Uhr zur Schule zu bringen. Danach kam er wiederum nach Hause, fuhr erneut fort, und zwar zu seiner Schwägerin, um deren Sohn zu bitten, nach dem Baukran zu sehen. Bei seiner abermaligen Rückkehr brachte er für den Sohn einen Rollschuh mit nach Hause, der in seinem Betrieb repariert worden war. Er fuhr sodann wieder fort und wurde zuletzt lebend von einem Bekannte, den er grüßte, in Richtung ... fahrend gesehen.
10Die Beklagte hat im Juli 1974 der Klägerin das durch Beiträge angesparte Deckungskapital aus der Lebensversicherung in Höhe von 2.923,90 DM sowie die Mitgliedsbeiträge für die Zeit vom 1. Februar bis 1. November 1974 in Höhe von 954,15 DM erstattet.
11Die Klägerin hat behauptet: Ihr Ehemann habe sich im Zeitpunkt des Selbstmordes in einem die freie Willensbestimmung ausschließen den Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden. Sie hat dazu ein Privatgutachten des Leitenden Medezinaldirektors des Westfälischen Landeskrankenhauses, Dr. med. ..., vorgelegt (Bl. 39 ff d.A.). Der Gutachter kommt darin zusammenfassend zu dem Ergebnis, der Verstorbene habe sich, ausgelöst durch die Schwierigkeiten mit seinen Brüdern und das gegen ihn laufende Ermittlungsverfahren, in einem tiefgreifenden Depressionszustand befunden. Diesen Depressionszustand könne man durchaus einem seelischen Depressionszustand anderer Art gleichsetzen, und er komme nach seinem Gewicht einerechten Psychose, etwa einer Depression aus dem endogen-cirkulären Formenkreis gleich. Der Verstorbene habe sich bei der Selbsttötung in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden.
12Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Zahlung der Versicherungssumme abzüglich der erstatteten Beiträge und der ausgezahlter Deckungsrückstellung. Sie hat beantragt,
13die Beklagte zu verurteilen, an sie 47.085,95 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. Januar 1976 zu zahlen.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Sie hat bestritten, daß die freie Willensbestimmung des Verstorbenen im Zeitpunkt des Selbstmordes ausgeschlossen gewesen sei. Sie hat dazu ein Gutachten der Universitäts-Nervenklinik ... vom 7. Juli 1975 (Bl. 18 ff d.A.) vorgelegt, in dem der Gutachter im Gegensatz zu dem von der Klägerin beauftragten Sachverständigen zu dem Ergebnis kommt, die Selbsttötung des Ehemannes der Klägerin könne aus situativen Schwierigkeiten abgeleitet werden und sei planmäßig durchgeführt worden. Hinweise darauf, daß der Verstorbene die Selbsttötung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter völligem Ausschluß der freien Willensbestimmung infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen habe, ergäben sich nicht.
17Das Landgericht hat durch Einholung des Gutachtens ... vom 22. Juni 1976 (Bl. 61 ff d.A.) Beweis erhoben und die Klage ab gewiesen. Es hat die Leistungspflicht der Beklagten für ausgeschlossen gehalten, weil - entgegen dem Gutachten Prof. Dr. ... nicht feststehe, daß der Ehemann der Klägerin in einem die freie Willensbestimmung schließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gehandelt habe. Es fehle an genügenden tatsächlichen Anhaltspunkten, die hinreichend sichere Feststellungen auf den Geisteszustand des Verstorbenen im Zeitpunkt des Selbstmordes zuließen. - Auf das landgerichtliche Urteil wird zur weiteren Darstellung des Tatbestandes gemäß §543 ZPO Bezug, genommen.
18Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie wiederholt unter Berufung auf das gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten Prof. Dr. ... ihre Behauptung, ihr Ehemann habe sich im Zeitpunkt des Selbstmordes in einem Geisteszustand befunden, in dem die freie Willensbestimmung ausgeschlossen gewesen sei. Das Landgericht habe die Ausführungen des Sachverständigen mißdeutet.
19Die Klägerin beantragt,
20unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagten zu verurteilen, an sie 47.085,95 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. Januar 1976 zu zahlen.
21Die Beklagte beantragt,
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1. | die Berufung zurückzuweisen, | |
2. | hilfsweise ihr nachzulassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden. |
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Sie bestreitet auch in zweiter Instanz, daß der Ehemann der Klägerin den Selbstmord im Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen habe. Sie behauptet, der Ehemann der Klägerin habe vielmehr planmäßig und aus seiner Situation heraus einfühlsam gehandelt, wenn man berücksichtige, daß der Verstorbene schon immer ein zur Schwermut neigender Mann gewesen sei. Im übrigen sei es eine Erfahrungstatsache, daß dieweitaus meisten Selbstmörder nicht im Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung handelten.
24Wegen des Vorbringens der Parteien in den Einzelheiten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze ergänzend Bezug genommen.
25Der Senat hat den Sachverständigen Prof. Dr. ... zur mündlicher Erläuterung seines Gutachtens gehört, wobei die Beklagte ihren Standpunkt durch den Facharzt Dr. ... (Universitäts-Nervenklinik ...) hat vertreten lassen. Die Akten 30 Js 1135/74 und 45 Js 144/73 StA Münster lagen vor und waren Gegenstand der Verhandlung. Auf ihren Inhalt wird verwiesen.
26Entscheidungsgründe
27Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
28Die Klägerin hat den Nachweis, daß ihr Ehemann im Zeitpunkt des Selbstmordes in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gehandelt hat, erbracht. Ein solcher Zustand liegt vor, wenn der Versicherungsnehmer sich in einer geistigen Verfassung befunden hat, in der er sein Handeln nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen konnte (vgl. zu §104 Ziff. 2 BGB schon RGZ 130, 71; vgl. ÖOGH VersR. 64, 761 mit Anmerkung Wahle und weiteren Nachweisen; vgl. OLG Frankfurt VersR 62, 821 m.v.N.).
29Ungeachtet der in den Sachverständigengutachten erörterten Frage, was in medizinisch-psychiatrischem Sinn als "Bilanzselbstmord" zu bezeichnen ist, steht zunächst fest, daß der Verstorbene das Für und Wider einer Selbsttötung nicht mit Überlegung, die von einer depressiven Stimmungslage unbeeinflußt war, abgewogen hat.
30Zwar befand sich der Verstorbene, wie auch die Klägerin nicht bestreitet, in einigen Schwierigkeiten: Gegen ihn richtete sich das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen aktiver Bestechung, nach dem - jedenfalls aus damaliger Sicht - Anklageerhebung und Verurteilung des Verstorbenen drohten. Ein für den Verstorbene positiver Ausgang des Ermittlungsverfahrens zeichnete sich damals noch nicht ab. Auch gegen den Beamten der Amtsverwaltung ..., dem der Verstorbene Geld und Geschenke zugewandt haben soll, ist Anklage erhoben worden, wenngleich das Strafverfahren mit einem Freispruch endete (45 Js 144/73 StA Münster). Außerdem bestanden geschäftlich-familiäre Schwierigkeiten. Wie sich aus der Ermittlungsakte 30 Js 1135/74 StA Münster ergibt, war es zwischen den drei Brüdern ... die Inhaber des Bauunternehmens ... waren, zu Meinungsverschiedenheiten unterschiedlicher Art gekommen, u.a. wegen des Baus eines Schwimmbades auf dem Grundstück des Verstorbenen und wegen der Gewinnbeteiligung der drei Brüder. Noch am Vortage des Selbstmordes hatte der Verstorbene ein Schreiben des Anwaltes eines Bruders erhalten.
31Diese Schwierigkeiten waren jedoch keineswegs unüberwindlich und nicht so gravierend, daß sich bei vernünftiger Überlegung ein Selbstmord als denkbarer Ausweg hätte darstellen können. Die wirtschaftliche Existenz des Verstorbenen war durch seine 20 %ige Gewinnbeteiligung am Unternehmen sichergestellt, so daß er einem etwaigen Streit um eine Erhöhung der Gewinnbeteiligung gelassen entgegensehen konnte. Der Ausgang des Ermittlungsverfahrens war seinerzeit noch völlig offen, es stand nicht einmal fest, ob es zu einer Anklageerhebung kommen würde, geschweige denn ließ sich absehen, wie ein etwaiges Strafverfahren ausgehen würde.
32Das Handeln des Verstorbenen ist unter diesen Umständen nur dann zu erklären, wenn er sich zur Zeit der Tat in einem - auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen - psychischen Ausnahmezustand befand, in dem ein vernünftiges Überlegen und Abwägen zumindest beeinträchtigt war. Die entscheidende Frage war nur, ob diese Beeinträchtigung so weit ging, daß die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Dies war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der Fall. Der Sachverständige Prof. Dr. ... hat dazu in seinem schriftlichen Gutachten vom 22. Juni 1976 ausgeführt, es habe von vornherein eine Disposition des Verstorbenen zur abnormen Reaktion und zum Selbstmord vorgelegen. Der Verstorbene sei von seinem Bruder als ängstlicher und empfindsamer Mensch geschildert worden, was man in vielen Dingen des täglichen Lebens habe feststellen können. Er habe niemals allein riskante geschäftliche Entscheidungen treffen können und habe mehrfach gesagt, er müßte ein "so dickes Fell" haben wie sein Bruder. Ein weiterer dispositioneller und Persönlichkeitsfaktor sei die Tatsache gewesen, daß der Verstorbene offenbar schwer in der Lage gewesen sei, sich anderen mitzuteilen. Er habe versucht, mit seinen Problemen allein fertig zu werden und habe gerade zum Schluß "alles in sich hineingefressen", auch seiner Ehefrau nichts über den Inhalt des am Vortages des Selbstmordes erhaltenen Briefes des Anwalts seines Bruders gesagt. Solche Menschen neigten bekannterweise besonders stark zu überschießenden effektiven Ausbrüchen. Zu diesen dispositionellen Schwierigkeiten seien die situativen Probleme hinzugetreten. Den geschäftlichen Schwierigkeiten sie er kaum gewachsen gewesen. Ohne ausreichende kaufmännische Ausbildung sei er gezwungen gewesen, einen Betrieb mit hohen Umsätzen zu leiten und für den kaufmännischen Teil die Verantwortung zu tragen, wobei er sich besonders darüber gekränkt habe fühlen müssen, daß sein Gewinnanteil nur 20 % betragen habe und daß seine Brüder mit seinen persönlichen Ausgaben nicht einverstanden gewesen seien. Als dann noch die Affäre mit der angeblichen Bestechung und den polizeilichen Vernehmungen hinzugekommen sei und als letztes der Brief des Anwaltes des Bruders, seien das die Tropfen gewesen, die das Faß zum Überlaufen gebracht hätten, d.h. die den ohnehin erheblich überforderten, schon vorher leicht depressiv verstimmten Verstorbenen zur psychischen Dekompensation gebracht hätten. Er haben offenbar in den letzten Tagen die Übersieht über alle auf ihn eindrängenden Schwierigkeiten verloren und sei darüber schließlich affektiv entgleist. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, seine verschiedenen Belange richtig zu bewerten. Etwa in den letzten 24 Stunden vor seinem Tode sei er in einen "depressiv gefärbten Unruhe- und - letztlich - Versagenszustand" geraten. Dieser Depressionszustand sei sicher kein endogener, sondern nach der psychiatrischen Nomenklatur als symptomatisch zu bezeichnen und komme sowohl in der qualitativen Ausprägung als auch im quantitativen Ausmaß der Handlungen einer echten Psychose gleich Die depressiv gefärbten Gedankeninhalte hätten bei ihm schließlich zu einer starken effektiven Dekompensation geführt, die schließlich bis zum äußersten, dem Selbstmord, geführt hätten. Der depressiv gefärbte effektive Ausnahmezustand müsse als krankhafte Störung der Geistestätigkeit gelten und habe die freie Willensbestimmung ausgeschlossen.
33Der Senat schließt sich diesen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. ... an. Über die an sich schon überzeugenden medizinisch-wissenschaftlichen Argumente hinaus sprechen insbesondere folgende Indizien für eine tiefgreifende, durch Umstände und Persönlichkeitsstruktur hervorgerufene geistige Verwirrung und gegen die Fähigkeit des Verstorbenen, sein Verhalten von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen: Schon in der Nacht vor der Tat hat der Verstorbene wenig geschlafen, ist vielmehr mehrfach aufgestanden und ohne vernünftigen Sinn hin und her gelaufen. Dieses von innerer Unruhe bestimmte Verhalten setzte sich am Morgen des 17. Januar 1974 fort. Der Verstorbene wollte nicht kaffeetrinken, fuhr dann mit dem Pkw fort, kam nach Hause zurück, brachte anschließend die Tochter zur Schule, kam wieder nach Hause, fuhr ein drittes Mal fort zu seiner Schwägerin und brachte einen Rollschuh für den Sohn mit. Schließlich fuhr er ein viertes und letztes Mal fort. Schon das häufige planlose Hin- und Herfahren läßt auf eine erhebliche Verwirrung schließen und zeigt, daß der Verstorbene von erheblicher Unruhe getrieben wurde und sein Verhalten nicht mehr vernünftig gesteuert hat. Es kommen aber noch weitere, gewichtigere Indizien hinzu: Der möglicherweise wegen Fehlens einer Schreibunterlage sehr unordentlich beschriebene Zettel, den er im Pkw hinterließ, bevor er sich ertränkte, enthält eine Reine orthographischer Fehler und keinerlei Satzzeichen. Als besonders gravierend fällt auf, daß der Verstorbene das Wort "viele" mit "f" am Anfang geschrieben hat, "böse" mit einem großen Anfangsbuchstaben und statt "ich muß sterben" "ich naß sterben". Aus der Aussage der Zeugin ... der Sekretärin des Verstorbenen, ergibt sich, daß er der Rechtschreibung sehr wohl mächtig war. Als Sekretärin ist die Zeugin ... in der Lage, dies zu beurteilen. Die Aussage ist in diesem Punkt durchaus glaubhaft, wenn auch im übrigen, was die angeblich nach einem Besuch der Polizei grau gewordene Haarsträhne anbelangt, der Zeugin die Phantasie einen Streich gespielt haben mag. Von dem haufmännischen Leiter eines Bauunternehmens, auch wenn es sich nicht um ein großes Unternehmen handelt ist zu erwarten, daß er die Rechtschreibung leidlich beherrscht, und wären, so grobe orthographische Fehler, wie auf dem Zettel festzustellen sind, höchst ungewöhnlich. Der Senat hat sich durch Einblick in den Terminkalender des Verstorbenen und anderen Notizen (Hülle Bl. 190 d.A.) selbst davon überzeugt, daß der Verstorbene, dessen Handschrift von der Zeugin ... identifiziert worden ist, keine nennenswerten orthographischen Fehler gemacht hat. Somit spricht auch der vom Verstorbenen unmittelbar vor der Tat beschriebene Zettel für einen erheblichen Verwirrungszustand. Als weitere Merkwürdigkeit kommt hinzu, daß er seine Schuhe in einiger Entfernung vom Auto in einer Pfütze abgestellt und offenbar auf Strümpfen den weiteren Weg bis zur Lippe zurückgelegt hat - ein völlig sinnloses Tun, das auch nicht damit erklärt werden kann, daß Selbstmörder sich vor dem Ertränken oft entkleiden. Denn hier hat der Verstorbene sich nicht unmittelbar vor dem Gang ins Wasser die Schuhe ausgezogen, sondern unmotiviert schon auf einem Waldweg, und ist auf Strümpfen weitergegangen. Ferner war zu bedenken, daß der Verstorbene nach der auch insoweit glaubhaften Aussage ...strenggläubig katholisch war und sich anläßlich eines anderen Selbstmordfalles sehr ablehnend über ein solches Handeln geäußert hat. Hinzu kommt weiter als Indiz, daß wie von dem Sachverständigen Prof. Dr. ... bei seiner mündlichen Einvernahme bestätigt worden ist - die Begehungsart des Selbstmordes, nämlich das Sich-Ertränken, im hiesigen Raum bei einem Mann selten ist. Schließlich war durch den Alkoholgenuß - niemand weiß, wann, wo und warum der Verstorbene Alkohol zu sich genomen hat - möglicherweise eine gewisse Enthemmung eingetreten, zumal der Verstorbene, wie sich sowohl aus den Angaben der Klägerin als auch der Aussage der Zeugin ... ergibt, sonst keinen oder kaum Alkohol trank und die Wirkung des Alkohols deshalb und infolge der Übermüdung möglicherweise größer gewesen ist als gewöhnlich.
34All diese Indizien sprechen sehr gegen ein gesteuertes Handeln und lassen den Schluß des Gutachters Prof. Dr. ... der Verstorbene habe sich zur Tatzeit in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden, überzeugend erscheinen. Die von der Beklagten gegen das Gutachten mit sachverständiger Hilfe geäußerten Bedenken vermögen demgegenüber nicht durchzugreifen. Die Beklagte, die sich vor allem auf den von ihr zum Termin gestellten Gutachter Dr. ... beruft, geht in Übereinstimmung mit dem Gutachter Prof. Dr. ... davon aus, daß beim Verstorbenen eine Disposition zu abnormen Reaktionen bestand und die hinzukommenden situativen Schwierigkeiten dann zum Selbstmord geführt haben (vgl. insbesondere Gutachten vom 7.9.1976, Bl. 86, 91). Sie räumt auch ein, daß beim Zusammentreffen einer labilen Charakterstruktur mit situativen Schwierigkeiten die Gefahr eines Suicids größer sei als bei anderen Menschen, will jedoch daraus trotz aller Begleitumstände nicht den Schluß ziehen, die freie Willensbestimmung des Verstorbenen sei infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen gewesen, weil faßbare Motive für einen Selbstmord vorhanden gewesen seien. In der Erörterung im Termin vom 27. April 1977 konnten die Unterschiede in der medizinischen Beurteilung weiter präzisiert werden: Der Privatgutachter Dr. ... hat erklärt, es sei sicher, daß der Verstorbene sich in einem Erregungszustand befunden habe und ihm die "Kontroll entglitten" sei. In diesem Zustand der Dekompensation sei zwar die freie Willensbestimmung ausgeschlossen gewesen, aber nicht infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit, denn das entscheidende Kriterium einer Krankheit sei das Fehlen der Einfühlbarkeit. Das Handeln des Verstorbenen sei, berücksichtige man außer den situativen Schwierigkeiten die Charakterstruktur, einfühlbär. Der Gutachter Prof. Dr. ... hat demgegenüber das Fehlen der Einfühlbarkeit als ein wichtiges; nicht aber das ausschlaggebende Kriterium des medizinischen Krankheitsbegriffes bezeichnet.
35Auf diese Differenz zwischen den beiden Gutachten kommt es jedoch aus Rechtsgründen nicht an. Wenn - wie hier - die freie Willensbildung des Täters infolge seines geistigen Zustandes ausgeschlossen ist, so steht damit zunächst notwendig fest, daß eine Störung der Geistestätigkeit vorliegt. Denn es ist nicht vorstellbar, wie ohne eine solche Störung der geistige Zustand des Täters zum Ausschluß der freien Willensbestimmung führen sollte. Fraglich kann nur sein, ob diese Störung als krankhaft zu werten ist. Für §8 AVB, der §104 Ziff. 2 BGB nachgebildet ist ist nicht erforderlich, daß der die freie Willensbildung ausschließende Zustand der Störung der Geistestätigkeit auf einer Krankheit in medizinischem Sinn beruht (vgl. auch Prölss-Martin, VVG, §169 Anm. 4). Das Gesetz geht vielmehr davon aus, daß eine Störung der Geistestätigkeit, die zu einem Zustand des Ausschlusses der freien Willensbestimmung geführt hat, regelmäßig als krankhaft anzusehen ist. Es reicht also die - hier bereits getroffene - Feststellung aus, daß der Wille der betreffenden Person nicht mehr durch beherrschbare Erwägungen bestimmt wird, sondern an die Stelle der Selbstentschließung ein Unterliegen unter nicht mehr durch den Willen kontrollierbare Empfindungen und Vorstellungen tritt (vgl. RGZ 130, 71), ohne daß von der Rechtsprechung auf die Ursachen abgestellt wird und abgestellt werden kann, die zu einem solchen Geisteszustand geführt haben. Denn es besteht kein vernünftiger Grund, die rechtlichen Folgen eines Handelns danach zu differenzieren, auf welchen Ursachen der geistige Zustand beruht, der zum Ausschluß der freien Willensbestimmung führt, von dem Ausnahmefall, daß sich jemand schuldhaft in einem solchen Geisteszustand versetzt hat, einmal abgesehen. Folglich ist hier nicht entscheidend, ob der Geisteszustand, in dem der Verstorbene sich im Zeitpunkt des Selbstmordes befand, durch eine Krankheit in medizinischem Sinne beeinflußt war, worüber die Meinungen der Sachverständigen auseinandergehen. Rechtlich bedeutsam ist - wie erwähnt - nur, daß dem Verstorbenen "die Kontrolle entglitten" war und er wegen seines geistigen Zustandes sein Handeln nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen konnte. Daß in diesem Sinne die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, ist übereinstimmende Auffassung beider Sachverständiger.
36Soweit der Gutachter Dr. ... - allerdings im Rahmen der Prüfung, ob der Geisteszustand des Verstorbenen in medizinischem Sinn auf einer Krankheit beruhte - auf ein Einfühlbarkeit der Handlung abstellt, ist einzuräumen, daß auch rechtlich ein die freie Willensbildung ausschließender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht vorliegt, wenn "der von einfühlbaren Motive gesenkte Wille" noch Einfluß auf die Entscheidung des Verstorbenen hatte (vgl. OLG Frankfurt VersR 62, 821 m.w.N.). Diese von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien betreffen jedoch nicht die Krankhaftigkeit der festgestellten Geistesstörung, sondern die Frage des Ausschlusses der freien Willensbestimmung. Deshalb ist rechtlich maßgebend nicht die Einfühlbarkeit des Handlungserfolges, sondern ob dieser Erfolg in freier Willensentscheidung herbeigeführt wurde. So kommt es auch im Rahmen des §104 Ziff. 2 BGB nicht darauf an, ob der Betreffende etwas getan hat, was im Ergebnis vernünftig war oder nicht, sondern ob er sein Handeln nach vernünftigen Überlegungen ausrichten kann, wobei allerdings das Ergebnis ein wichtiges, im Falle des Selbstmordes gewiß nicht für das Vorliegen der freien Willensbestimmung sprechendes Indiz ist. So mag hier zwar sein, daß der vorliegende Selbstmord bei einem Mann ähnlicher Charakterstruktur unter den gegebenen Verhältnissen auch dann hätte geschehen können, wenn dieser Mann noch zu einer freien Willensentscheidung in der Lage gewesen wäre und sich nach Abwägung aller Umstände bei noch klarem Verstande zum Selbstmord entschlossen hätte. So aber liegt der Fall nicht, denn beide Sachverständige stimmen ja darin überein, daß dem Verstorbenen die Kontrolle entglitten war und er seinen Willen nicht mehr nach vernünftigen Überlegungen steuern konnte. Jedenfalls steht das aufgrund der Beweisaufnahme aus den dargelegten Gründen fest. Mit der Feststellung des Ausschlusses der freien Willensbestimmung ist auch die Problematik der Einfühlbarkeit der Tat erledigt und nicht noch einmal bei der Frage zu prüfen, ob die zugrundeliegende geistige Störung krankhaft war oder nicht.
37Daß der Verstorbene sich selbst vorsätzlich durch den Alkoholgenuß geschäfts- und zurechnungsunfähig gemacht habe, hat die Beklagte nicht behauptet. Auch die beiden Sachverständigen haben diesen in der mündlichen Verhandlungen erörterten Gesichtspunkt keine ins Gewicht fallende Bedeutung beigemessen. Der Alkoholgenuß ist deshalb nur als untergeordnetes Element der Gesamtumstände auszugehen, so daß es einer näheren Erörterung der Beweislastfrage bei alkoholbedingter Zurechnungsfähigkeit nicht bedarf. Sonstige Ausnahmeumstände der genannten Art sind wohl ersichtlich. Unabhängig von den erörterten Rechtsfragen, also im Wege der Hilfsbegründung, ist aber dem Gutachten von Prof. ... auch insoweit zu folgen, als er die festgestellte geistige Störung als krankhaft bezeichnet. Es bestehen keine Bedenken gegen seine Feststellung, daß ein depressiv gefärbter effektiver Ausnahmezustand vorgelegen habe, der als krankhafte Störung der Geistestätigkeit auch in medizinischem Sinn anzusehen sei.
38Da die Klageforderung der Höhe nach außer Streit war, war die Beklagte in Abänderung des angefochtenen Urteils antragsgemäß zu verurteilen.
39Die Kostenentscheidung folgt aus §91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufig Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§708 Ziff. 7, 713 ZPO.
40Beschwer der Beklagten: 47.085,95 DM.
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