Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 20 U 221/87
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 8. Mai 1987 verkündete Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert.
Es wird festgestellt, daß der Beklagte nicht berechtigt ist, einen Teil seiner Aufwendungen anläßlich des Verkehrsunfalls vom 22. März 1986 in ... hinsichtlich der Schadensersatzansprüche der Geschädigten ... und ... in Höhe von insgesamt 16.160,50 DM, beschränkt auf den Betrag von 5.000,- DM, vom Kläger zu verlangen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand:
2Mit seinem beim Beklagten haftpflichtversicherten Pkw verursachte der Kläger in der Nacht zum 23.03.1986 in ... einen Verkehrsunfall mit Fremdschaden. Bei der polizeilichen Unfallaufnahme wurde festgestellt, daß der rechte Vorderreifen des Wagens nicht die vorgeschriebene Mindestprofiltiefe von 1 mm aufwies. Der Kläger wurde deshalb später mit einem Bußgeld belegt.
3Der Beklagte regulierte den vom Kläger verursachten Fremdschaden von etwas mehr als 16.000,- DM und nahm anschließend den Kläger in Höhe von 5.000,- DM mit der Begründung in Regress, er habe ein nicht verkehrssicheres Fahrzeug geführt und damit eine Gefahrerhöhung vorgenommen; er - der Beklagte - sei daher im Innenverhältnis zum Kläger leistungsfrei. Gleichzeitig kündigte der Beklagte den Versicherungsvertrag mit sofortiger Wirkung.
4Der Kläger hat dagegen negative Feststellungsklage erhoben und sich unter Beweisantritt dahin eingelassen, er habe sich nach der Beendigung seiner Arbeit als Koch in einer Gaststätte nachts auf dem Heimweg befunden, als plötzlich der rechte Vorderreifen geplatzt sei. Er habe daher das Reserverad montiert, dessen Reifenprofil abgefahren gewesen sei. Damit habe er aber nur noch bis zur nächsten Werkstatt fahren wollen.
5Nachdem die Parteien den zunächst zusätzlich angekündigten Antrag des Klägers, auch die Unwirksamkeit der Kündigung festzustellen, mit widersprechenden Kostenanträgen übereinstimmend für erledigt erklärt haben, hat der Kläger zuletzt beantragt,
61.
7festzustellen, daß der Beklagte nicht berechtigt ist, seine Aufwendungen anläßlich eines Verkehrsunfalls vom 22.03.1986 hinsichtlich der Schadensersatzansprüche der Herren ... und ... in Höhe von 16.160,50 DM, beschränkt auf den Betrag von 5.000,- DM, vom Kläger zu verlangen,
82.
9dem Beklagten im Umfang der Erledigung die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
10Der Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Er hat die Darstellung des Klägers bestritten und ausgeführt, es sei unglaubhaft, daß der Kläger sich mitten in der Nacht noch zur nächstgelegenen Werkstatt habe begeben wollen. Jedenfalls aber hätte der Kläger mit dem abgefahrenen Reifen besonders vorsichtig fahren müssen, so daß ihm auch der Vorwurf grober Fahrlässigkeit zu machen sei.
13Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Beklagte sei schon deshalb leistungsfrei, weil er den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt habe. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob eine Gefahrerhöhung vorliege, für die der Beklagte beweispflichtig sei, aber keinen Beweis angetreten habe.
14Mit der hiergegen gerichteten Berufung rügt der Kläger, die Begründung des angefochtenen Urteils sei rechtsfehlerhaft. Es könne allein auf die Frage der Gefahrerhöhung ankommen, die jedoch nicht bewiesen sei.
15Der Kläger wiederholt seinen erstinstanzlichen Klageantrag, während der Beklagte Zurückweisung der Berufung beantragt.
16Der Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig. Er wiederholt seine Auffassung, daß die Darstellung des Klägers unglaubhaft sei, und behauptet darüber hinaus, der Kläger habe den Unfall billigend in Kauf genommen, als er den Wagen mit dem abgefahrenen Reifen in Betrieb genommen habe. Daher sei er - der Beklagte - auch wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls leistungsfrei.
17Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze verwiesen.
18Entscheidungsgründe:
19Die Berufung des Klägers hat Erfolg und führt antragsgemäß zur Abänderung des angefochtenen Urteils.
20I.
21Die Begründung des angefochtenen Urteils trägt die Entscheidung nicht.
22Die Parteien streiten um Ansprüche aus einer Haftpflichtversicherung. In der Haftpflichtversicherung hat der Versicherer auch für grobe Fahrlässigkeit Deckung zu gewähren. Seine Eintrittspflicht endet erst, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich gehandelt hat (§152 VVG); die Vorschrift des §61 VVG, die Leistungsfreitheit auch bei grober Fahrlässigkeit vorsieht, gilt nur für die Sachversicherung, im Bereich der Kraftfahrtversicherung also z.B. für die Kaskoversicherung, um die es hier jedoch nicht geht.
23Vorsatz - auch bedingter Vorsatz - des Klägers, den der Beklagte in zweiter Instanz behauptet, ist nicht feststellbar. Selbst wenn der Kläger mit der Möglichkeit eines Unfalls gerechnet hätte, wäre damit nicht gesagt, daß er diese Möglichkeit auch billigend in Kauf genommen hätte. Es liegt vielmehr weitaus näher, daß er darauf vertraut hätte, es werde schon nichts passieren. Das wäre aber ein Fall bewußter Fahrlässigkeit, für die der Haftpflichtversicherer Deckung gewähren muß.
24II.
25Eine zur Leistungsfreiheit führende Gefahrerhöhung (§§23 ff VVG) ist nicht bewiesen.
261.
27Die Benutzung eines verkehrsunsicheren Fahrzeugs kann zwar eine Gefahrerhöhung darstellen. Dazu gehört auch die Benutzung abgefahrener Reifen (Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 24. Aufl. 1988, §23 Anm. 2 C c, Amm. 4 vor AKB). Die Annahme einer Gefahrerhöhung setzt nach herrschender Meinung aber voraus, daß ein Zustand (erhöhter Gefahr) von einiger Dauer geschaffen wird (Prölss/Martin, a.a.O. §23 Anm. 2 A c m.w.N.). Daran fehlt es, wenn ein abgefahrener und damit verkehrsunsicherer Reifen nur für eine kurze Fahrtstrecke benutzt wird. Aus diesem Grund liegt eine Gefahrerhöhung dann nicht vor, wenn die Fahrt nur nach Hause oder in die nächste Werkstatt führen soll, wobei diese Fahrt nicht einmal auf dem kürzesten Weg erfolgen muß (BGH VersR 68, 1033 = NJW 68, 2142; Stiefel/Hofmann, Kraftfahrtversicherung, 13. Aufl. 1986, §2 AKB Rn. 111).
282.
29Beweispflichtig dafür, daß ein Zustand erhöhter Gefahr von einiger Dauer geschaffen worden ist, ist der Versicherer. Denn er muß die objektiven Voraussetzungen der Gefahrerhöhung beweisen (Prölss/Martin a.a.O. §25 Anm. 3). Der Beklagte hätte daher die Einlassung des Klägers widerlegen und beweisen müssen, daß das Reserverad mit dem abgefahrenen Reifen nicht erst kurz vor dem Unfall aufmontiert worden, sondern schon längere Zeit in Benutzung war und/oder noch längere Zeit benutzt werden sollte. Hierfür hat der Beklagte, wie schon das Landgericht angemerkt hat, keinen Beweis angetreten. Daß er die Darstellung des Klägers nicht glaubt, genügt nicht. Der Senat hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung angehört. Es haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß seine Schilderung erfunden sein könnte. Daraus folgt zwar nicht, daß sie richtig ist. Darauf kommt es jedoch auch nicht an, denn sie müßte mit der erforderlichen Gewißheit widerlegt werden können. Das ist nicht der Fall. Der unstreitige Umstand, daß der Kläger weder bei der Unfallaufnahme noch im anschließenden Bußgeldverfahren die vorangegangene Reifenpanne erwähnt hat, genügt dafür schon deshalb nicht, weil es hierauf für den Tatbestand der Ordnungswidrigkeit nicht ankam.
303.
31Die Tatsache, daß der Kläger nach eigener Darstellung des abgefahrenen Reifen bis zu der behaupteten Panne als Reservereifen mitgeführt haben muß, begründet keine Gefahrerhöhung.
32Das Mitführen eines Reservereifens ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Es ändert an dem Gefahrenniveau daher auch zunächst nichts, ob ein funktionstüchtiger, ein verkehrsunsicherer oder gar kein Reservereifen im Auto mitgeführt wird. Das Gefahrenniveau wird frühestens dann heraufgesetzt, wenn der Kraftfahrer sich entschließt, den mitgeführten verkehrsunsicheren Reservereifen zu montieren und in Gebrauch zu nehmen. Selbst dies führt aber - wie dargestellt - noch nicht zu einer Gefahrerhöhung im Sinne der §§23 ff VVG, wenn mit dem Reifen nur eine kurze Strecke nach Hause oder zur nächsten Werkstatt zurückgelegt werden soll. Ein Kraftfahrer, der einen abgefahrenen Reservereifen nur für solche Notfälle mitführt, um bei Bedarf mit der gebotenen Vorsicht damit noch seine Wohnung oder eine Werkstatt erreichen zu können, nimmt daher keine Gefahrerhöhung vor.
33III.
34Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen, soweit er unterlegen ist, §91 ZPO. Auch soweit die Parteien den Rechtsstreit schon in erster Instanz für erledigt erklärt haben, sind dem Beklagten die Kosten aufzuerlegen, §91 a ZPO, weil der Beklagte mangels Gefahrerhöhung zur Kündigung des Versicherungsvertrages nicht berechtigt war und daher unterlegen wäre, wenn sich die Hauptsache insoweit nicht erledigt hätte.
35Der Ausspruch über die Vollstreckbarkeit folgt aus §§708 Ziffer 10, 713 ZPO. Die Beschwer des Beklagten wird auf 5.000,- DM festgesetzt.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.