Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 6 U 94/09
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Rechts-mittel im Übrigen – das am 26.03.2009 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert und wie folgt neu gefaßt:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 6.190,12 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.08.2007 sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von 603,93 Euro zu zahlen.
Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 70 % die Beklagten und zu 30 % die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
2I.
3Die Klägerin wollte am Nachmittag des 07.06.2007 mit ihrem Pkw Mercedes E 290 T nebst angehängtem Pferdetransporter in T von der R-Straße nach links in die Grundstückszufahrt zu einem Reiterhof einbiegen. Ihr kam der Beklagte zu 1) mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Motorrad entgegen; er durchfuhr eine Linkskurve. Im Einmündungsbereich stieß er gegen die Beifahrerseite des Pkw.
4Mit der Klage hat die Klägerin auf 100 %-Basis den Ersatz des an ihrem Fahrzeug entstandenen Schadens nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend gemacht. Das Landgericht hat Zeugen vernommen und ein unfallanalytisches Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. S eingeholt, welches der Sachverständige vor dem Landgericht weiter mündlich erläutert hat.
5Es hat sodann auf eine Haftungsquote des Beklagten von 30 % erkannt und im Übrigen – unter Abzügen zur Höhe - die Klage wegen überwiegender Verantwortlichkeit der Klägerin abgewiesen.
6Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe den Unfall durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung (mindestens 58 km/h bei zugelassenen 50 km/h) verschuldet; der überwiegende Verantwortungsanteil falle jedoch der Klägerin zur Last, weil sie ihren Sorgfaltspflichten beim Abbiegen in ein Grundstück (äußerste Sorgfalt) nicht nachgekommen sei; gegen sie spreche der Beweis des ersten Anscheins; dass der Beklagte zu 1) schneller als 58 km/h gefahren sei, sei nicht bewiesen.
7Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.
8Die Klägerin will nach wie vor eine Verurteilung der Beklagten auf 100 %-Basis erreichen. Die Beklagten erstreben die vollständige Abweisung der Klage. Sie greifen mit näheren Ausführungen das Urteil des Landgerichts an.
9Der Senat hat die Parteien angehört und weiter Beweis erhoben durch erneute Vernehmung der Zeugen. Er hat ferner das Gutachten durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. S weiter erläutern lassen. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Vermerk des Berichterstatters Bezug genommen.
10II.
11Die Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg. Im Übrigen ist sie – ebenso wie die Berufung der Beklagten – unbegründet.
121.
13Gem. §§ 7,17 StVG, § 823 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG a. F. haben die Beklagten den beim Unfall entstandenen Schaden nach einer Haftungsquote von 70 % zu ersetzen, denn die Betriebsgefahr des Motorrades war durch eine unfallursächliche schuldhafte Geschwindigkeitsüberschreitung des Beklagten zu 1) deutlich gesteigert. Auf Seiten der Klägerin läßt sich ein schuldhafter Fahrfehler nicht feststellen. Die hohe Betriebsgefahr ihres an ungünstiger Stelle nach links in eine Grundstückszufahrt einbiegenden Gespanns macht jedoch eine Anspruchskürzung um 30 % erforderlich.
141.1
15Aufgrund der überzeugenden Erläuterung des in erster Instanz erstatteten Gutachtens durch den Sachverständigen Dipl.-Ing. S ist auch der Senat zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Beklagten zu 1) eine unfallursächliche Überschreitung der an der Unfallstelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zur Last fällt, wobei seine Bremsausgangsgeschwindigkeit in einem Rahmen von 58 km/h bis 71 km/h eingegrenzt werden kann. Der Sachverständige hat sich eingehend mit den Einwendungen der Beklagten gegen sein erstinstanzliches Gutachten, die insbesondere die zugrunde zu legenden Verzögerungswerte betrafen, auseinander gesetzt. Aufgrund seiner Ausführungen ist auch der Senat davon überzeugt, dass hier nicht lediglich die geringeren Verzögerungswerte anzusetzen sind, die dann zu gelten haben, wenn nur die Hinterradbremse, nicht aber die Vorderradbremse eingesetzt wird. Die Länge der Bremsspur und die bedrohliche Unfallsituation sprechen dafür, dass der Beklagte zu 1) nicht nur genügend Zeit, sondern auch massiven Anlass hatte, so viel Bremskraft wie möglich wirksam werden zu lassen. Selbst wenn er nur in seiner Freizeit Motorrad fährt, so verfügte er doch, da er seit vielen Jahren über eine Fahrerlaubnis für Motorräder verfügt und vor dem Unfall bereits mehrere Maschinen hintereinander besessen hat, über so viel Erfahrung, dass nicht angenommen werden kann, er habe sich in der höchst bedrohlichen Unfallsituation trotz entsprechender Abwehrzeit lediglich auf den Einsatz der Hinterradbremse beschränkt. Seine Bremsausgangsgeschwindigkeit lag demnach jedenfalls bei mindestens 58 km/h. Die Überschreitung der an der Unfallstelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h war auch unfallursächlich, da bei einer Geschwindigkeit bis zu 54 km/h der Unfall hätte vermieden werden können.
161.2.
17Ein unfallursächliches Verschulden der Klägerin kann nicht festgestellt werden.
181.2.1
19Wenn – was nicht auszuschließen ist und auch nicht völlig fern liegt – die Bremsausgangsgeschwindigkeit des Motorrades im oberen Bereich des in Betracht kommenden Geschwindigkeitsrahmens lag, konnte sie bei ihrem Abbiegeentschluss den Beklagten zu 1) noch nicht sehen, weil er durch den Bewuchs auf der Kurveninnenseite verdeckt war.
20Da entgegen kommende Fahrzeuge, welche die an der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h einhielten, nach Herstellung der gegenseitigen Sicht aufeinander vor dem mit dem Abbiegen beginnenden Fahrzeug der Klägerin hätte anhalten können, durfte sie aufgrund des Vertrauensgrundsatzes hier auch mit dem Abbiegen beginnen. Hinreichender Anlass, sich einweisen zu lassen (vgl. hierzu BGH NZV 94, 184) oder auf das Linksabbiegen an dieser Stelle zu verzichten, um zunächst weiter geradeaus zu fahren, dann an geeigneter Stelle zu wenden und dann als Rechtsabbiegerin in die angestrebte Einfahrt zu gelangen, bestand nicht.
211.2.2
22Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann ein unfallursächliches Verschulden der Klägerin auch nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises festgestellt werden.
23Ein solcher kann zwar – nach den Umständen des Einzelfalles – bei der Kollision eines Grundstückseinbiegers mit dem entgegen kommenden durchgehenden Verkehr für die schuldhafte Unfallverurschung des Abbiegers sprechen (vgl. OLG Düsseldorf NZV 06, 415). Für die Anwendung des Anscheinsbeweises reicht aber regelmäßig nicht das Anknüpfen an einen bloßen Sachverhaltskern aus. Er setzt vielmehr voraus, dass die umfassende Gesamtschau aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts einen Geschehensablauf erkennen lässt, der für die zu beweisende Tatsache nach der Lebenserfahrung typisch ist (vgl. BGH NJW 96, 1828 = VersR 96, 772 = r + s 96, 224; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., 2007, § 38 Rn. 43, 44; derselbe VersR 80, 1091; Lepa, NZV 92, 130; Dannert, NZV 95, 132, 133).
24Daran fehlt es hier. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Klägerin nach links in eine Grundstückszufahrt eingebogen, die aus ihrer Sicht am Beginn einer Rechtskurve lag. Der Bewuchs auf der Kurveninnenseite schränkte zwar die Sicht auf den entgegen kommenden Verkehr ein, aber doch nur so weit, dass ein mit der dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h entgegen kommender Motorradfahrer nach Erkennbarwerden des einbiegenden Gespanns sein Fahrzeug problemlos ohne Sturzgefahr rechtzeitig hätte anhalten können. Die Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1) lag jedoch zwischen 58 km/h und 71 km/h, und er war für die Klägerin bei deren Anfahrbeginn jedenfalls dann noch nicht erkennbar, wenn seine Ausgangsgeschwindigkeit in der oberen Hälfte des feststellbaren Geschwindigkeitsrahmens lag.
25Unter diesen Umständen liegt gerade nicht der typische Fall der nach allgemeiner Lebenserfahrung schuldhaften Unfallverursachung durch mangelnde Sorgfalt beim Linkseinbiegen in ein Grundstück vor. Denn auch wenn offen bleibt, ob die Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1) im oberen oder unteren Bereich des feststellbaren Geschwindigkeitsrahmens lag, und wenn damit ungeklärt bleibt, ob er für die Klägerin bei ihrem Anfahrbeginn schon sichtbar war oder noch nicht, drängt sich hier nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht der Schluss auf, dass die Klägerin die beim Abbiegen in eine Grundstückszufahrt gemäß § 9 Abs. 5 StVO geforderte äußerte Sorgfalt missachtet hat. Danach kommt es hier auf die Frage der Erschütterung des Anscheinsbeweises nicht an, da seine Anwendung bereits am Fehlen der Typizitätsgrundlage scheitert.
261.3
27Bei Abwägung der haftungsbestimmenden Verursachungsanteile gemäß § 17 StVG fällt jedoch die hohe Betriebsgefahr des Gespanns, welches nach links in eine Grundstückszufahrt einbog und dabei die dem Gegenverkehr zugewiesene Fahrbahnhälfte versperrte, deutlich ins Gewicht. Im Vordergrund steht jedoch die unfallursächliche schuldhafte Geschwindigkeitsüberschreitung des Beklagten zu 1). Sie fällt indessen nur mit dem unteren Wert des feststellbaren Geschwindigkeitsrahmens – also mit 58 km/h bei zulässigen 50 km/h – in die Waagschale, denn bei der Abwägung dürfen nur feststehende Tatsachen berücksichtigt werden.
28Dem Senat erschien unter Berücksichtigung aller Umstände eine Haftungsverteilung im Verhältnis von 70:30 zugunsten der Klägerin sachgerecht.
292. Zur Schadenshöhe gilt Folgendes:
302.1
31Außer Streit sind der Fahrzeugschaden in Höhe von 8.000,00 Euro
32und die Sachverständigenkosten in Höhe von 758,03 Euro.
33Die An- und Abmeldekosten setzt der Senat in
34Anwendung des § 287 ZPO mit 16,00 Euro
35und die allgemeine Pauschale mit 25,00 Euro
36an. Von dem Gesamtschaden in Höhe von 8.843,03 Euro
37kann die Klägerin 70 % = 6.119,12 Euro
38als Schadensersatz beanspruchen.
392.2
40Gemäß §§ 286, 288 BGB sind aufgrund der Mahnung vom 06.08.2007 auf diesen Betrag antragsgemäß Verzugszinsen seit dem 18.08.2007 zu entrichten. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Landgerichts, diese Mahnung sei aufgrund der erheblichen Zuvielforderung nicht wirksam. Eine erhebliche Zuvielforderung bei der Mahnung steht nur dann dem Verzugseintritt entgegen, wenn sie dazu führt, dass dem Schuldner die Zinsberechnung unzumutbar oder unmöglich ist (vgl. BGH NJW 91, 1286). Davon kann in einem Fall, in dem sich die Zuvielforderung im Wesentlichen aus der zugrunde gelegten Haftungsquote ergibt, nicht die Rede sein.
412.3
42Bei einem Wert der berechtigten Forderung in Höhe von 6.119,12 Euro errechnen sich die von den Beklagten zu erstattenden vorprozessualen Anwaltskosten wie folgt:
431,3-fache Gebühr 487,50 Euro
44Pauschale 20,00 Euro
45Zwischensumme 507,50 Euro
46Mehrwertsteuer 96,43 Euro
47zu erstattende vorprozessuale Gebühren insgesamt 603,93 Euro
483.
49Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
50Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
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