Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht - 2 Ws 206 - 207/17

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 33, vom 13. November 2017 aufgehoben und die Sache an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die zugehörigen notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

1

Mit Urteil vom 7. Mai 2010, rechtskräftig seit dem 17. März 2011, hat das Landgericht Hamburg den Beschwerdeführer unter Einbeziehung einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen wegen Betrugs aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Oldenburg vom 19. Juni 2006 wegen Computerbetrugs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und zugleich entschieden, dass ein Strafzeitraum von zehn Monaten als vollstreckt gilt.

2

Mit Urteil vom 13. März 2012, rechtskräftig seit dem 19. September 2012, hat das Landgericht Oldenburg den Beschwerdeführer wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, in weiteren drei Fällen in Tateinheit mit Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und in zwei Fällen in Tateinheit mit Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge oder Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, ferner wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt und zugleich entschieden, dass ein Zeitraum von einem Monat als bereits vollstreckt gilt. Weiter hat es den Verfall von Wertersatz in Höhe von 10.000 € angeordnet.

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Nach Untersuchungshaft vom 28. April bis zum 4. August 2009 wegen der dem Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 13. März 2012 zugrunde liegenden Vorwürfe, befindet sich der Verurteilte seit dem 21. Januar 2002 in Strafhaft, welche er seit dem 21. August 2015 in der Justizvollzugsanstalt G. verbüßt.

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Seit dem 1. September 2017 hat der Verurteilte zwei Drittel der Strafen aus den Urteilen des Landgerichts Hamburg vom 7. Mai 2010 und des Landgerichts Oldenburg vom 13. März 2012 verbüßt.Das Strafende ist auf den 3. April 2021 notiert.

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Nach Antrag des Verurteilten vom 21. März 2017 auf bedingte Entlassung zum Zweidritteltermin hat das Landgericht nach Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt G. vom 11. April 2017 und der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 28. April 2017 am 9. Juni 2017 ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben, welches am 4. September 2017 bei Gericht eingegangen ist, und nach weiteren Stellungnahmen des Verurteilten, der Staatsanwaltschaft Oldenburg und der Staatsanwaltschaft Hamburg den Verurteilten und die Sachverständige am 13. November 2017 mündlich angehört.

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Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 33 (Strafvollstreckungskammer), den Antrag des Verurteilten, die Vollstreckung der Reststrafen aus den vorgenannten Urteilen gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen, abgelehnt.

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Gegen den ihm am 16. November 2017 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte mit am 22. November 2017 eingehendem Schreiben sofortige Beschwerde eingelegt, auf deren Verwerfung die Generalstaatsanwaltschaft angetragen hat.

II.

8

Die statthafte und auch im Übrigen zulässig sofortige Beschwerde (§§ 454 Abs. 3 Satz 1, 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO) hat in der Sache - vorläufigen - Erfolg, da die angefochtene Entscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist und der Senat auf der Grundlage der bisherigen Sachaufklärung keine Entscheidung (§ 309 Abs. 2 StPO) darüber treffen kann, ob der Strafvollzug fortzudauern hat. Der angefochtene Beschluss kann keinen Bestand haben, weil das zugrunde liegende Verfahren an dem in der Beschwerdeinstanz nicht heilbaren Mangel leidet, dass das bisherige Aussetzungsprüfverfahren ohne einen Verteidiger stattgefunden haben, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.

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1. Im Vollstreckungsverfahren findet - soweit es an spezialgesetzlichen Regelungen wie in § 463 Abs. 3 Satz 5, Abs. 4 Satz 8 und Abs. 8 Satz 1 StPO fehlt - die Vorschrift über die notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO entsprechende Anwendung, wenn die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage des Vollstreckungsfalles oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (Senat, Beschlüsse vom 6. März 2015, Az.: 2 Ws 56/15; vom 11. Juli 2005; Az.: 2 Ws 161/05; vom 6. Januar 2004, Az.: 2 Ws 328-329/03; Meyer-Goßner/Schmitt § 140 Rn. 33 m.w.N.). Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage bemisst sich dabei allerdings nicht nach der im Falle einer negativen Entscheidung noch zu verbüßenden Dauer der Restfreiheitsstrafen oder der Schwierigkeit der Sache im Erkenntnisverfahren, sondern nach der Schwierigkeit des Vollstreckungsfalles in Hinblick auf das Bedürfnis der Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten gerade im konkreten Verfahrensabschnitt (OLG Köln, Beschluss vom 29. Dezember 2015, Az.: III-2 Ws 834/15, juris Rn. 5; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 319; Schmitt aaO.).

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2. Nach diesem Maßstab bedarf der Verurteilte eines Verteidigers, weil er aufgrund der Schwierigkeiten des Vollstreckungsfalles seine Rechte im Vollstreckungsverfahren nicht mehr ausreichend selbst wahrnehmen kann.

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Nachdem die Strafvollstreckungskammer ein psychologisches Prognosegutachten nach § 454 Abs. 2 StPO eingeholt hat erfordert die vom Gericht zu treffende Prognoseentscheidung eine inhaltliche Auseinandersetzung mit verschiedenen, zu gegensätzlichen Ergebnissen kommenden Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt einerseits und der Staatsanwaltschaften Oldenburg und Hamburg andererseits unter fachkundiger Auswertung des von den Verfahrensbeteiligten unterschiedlich bewerteten Prognosegutachtens und nach mündlicher Anhörung der Sachverständigen. Ein solcher Verfahrensstand führt regelmäßig zu einer schwierigen Sachlage, die einen rechtsanwaltlichen Beistand für den Verurteilten notwendig macht (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2015, 229; OLG Brandenburg StV 2007, 95; OLG Celle, Beschluss vom 20. September 2011, Az.: 2 Ws 242/11, juris; Fischer § 57 Rn. 33).

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Auch dass eine Strafvollstreckungskammer erwägt, aufgrund eines Prognosegutachtens abweichend von der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zu entscheiden, indiziert, dass die Sachlage bei der Beurteilung der Voraussetzungen der Reststrafaussetzung nach § 57 StGB nicht einfach gelagert ist, sondern den Beistand durch einen Verteidiger entsprechend § 140 Abs. 2 StPO erfordert (OLG Stuttgart, Beschluss vom 5. Oktober 2015, Az.: 4 Ws 328/15, juris Rn. 11; OLG Hamm, Beschluss vom 14. September 2009, Az.: 2 Ws 239/09, juris Rn. 15).

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Jedenfalls nachdem die Sachverständige vorliegend über die Feststellungen in den der Vollstreckung zugrunde liegenden Urteilen hinaus eine bislang nicht aktenkundige langjährige dissozial-narzisstische Persönlichkeitsstörung des Verurteilten diagnostiziert hat, ist von einer besonderen Schwierigkeit des Vollstreckungsfalles im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO auszugehen. Zwar verneint die Sachverständige bei Anwendung des Prognoseinstruments HCR-20 zunächst eine in der Vergangenheit liegende psychiatrische Erkrankung, dennoch soll nach den weiteren im Rahmen der Prognosekriterien nach Dittmann und des allgemeinen Befundes dargelegten Einschätzungen der Sachverständigen, denen sich die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss vom 13. November 2017 weitgehend anschließt, beim Verurteilten eine schwer behandelbare dissozial-narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegen, welche bereits seit dem Alter von 14 Jahren zu erster Delinquenz geführt habe, und welcher ersichtlich eine erhebliche Bedeutung für die nach § 57 StGB zu treffende Prognoseentscheidung zukommen soll. Spätestens aufgrund dieser neuen Diagnose und der komplexen Folgefragen hinsichtlich ihrer prognostischen Relevanz in Wechselwirkung zum fortgeschrittenen Lebensalter und zu körperlichen Beeinträchtigungen des Verurteilten ergibt sich eine besondere Schwierigkeit des Vollstreckungsfalles.

14

3. Da bereits eine schwierige Sachlage im Sinne des § 140 Abs. 2 2. Var. StPO vorliegt, kann dahinstehen, ob die - freilich ohne die nach den Grundsätzen der Nachvollziehbarkeit und Transparenz für ein Prognosegutachten zu fordernde Offenlegung und Begründung der einzelnen Diagnosekriterien - gestellte Diagnose einer dissozial-narzisstischen Persönlichkeitsstörung zutrifft und der Verurteilte sich infolge einer solchen psychiatrischen Erkrankung überhaupt selbst verteidigen kann, § 140 Abs. 2 4. Var. StPO.

15

4. Unbeachtlich ist schließlich, dass der Verurteilte in der mündlichen Anhörung vom 13. November 2017 angegeben hat, er benötige keinen Rechtsanwalt, dieser könne auch nicht mehr reden als er selber. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren hat (BVerfG NJW 1984, 113 f.). Das Institut gewährleistet vorrangig den Anspruch des Beschuldigten auf effektive Verteidigung. Zugleich soll aber die Durchführung eines geordneten Verfahrens garantiert werden (Senat NJW 1998, 621); deshalb ist auch eine Bestellung gegen den Willen des Verurteilten möglich (Senat, Beschluss vom 29. Februar 2016, Az.: 2 Ws 28/16, juris Rn. 14 m.w.N.).

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5. Der in der fehlenden Mitwirkung eines notwendigen Verteidigers liegende Verfahrensmangel wiegt so schwer, dass ausnahmsweise - in Abweichung von der Regel der §§ 308 Abs. 2, 309 Abs. 2 StPO - eine Zurückverweisung an die Vorinstanz zwecks Nachholung eines ordnungsgemäßen Prüfverfahrens und einer mündlichen Anhörung in Anwesenheit eines Verteidigers geboten ist (Senat, Beschluss vom 6. Januar 2004, Az.: 2 Ws 328-329/03). Der Mangel kann durch die Bestellung des Verteidigers im Beschwerdeverfahren nicht ausgeglichen werden (Senat aaO.).

III.

17

Soweit nach Eingang des Antrags des Verurteilten und der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt bei der Strafvollstreckungskammer am 13. April 2017 und Verbüßung von zwei Drittel der Strafen am 1. September 2017 eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer erst am 13. November 2017 ergangen ist, weist der Senat auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum auch im Aussetzungsprüfverfahren nach § 57 StGB geltenden Beschleunigungsgebot für Haftsachen hin und insbesondere auf die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Begründungserfordernisse fachgerichtlicher Entscheidungen hinsichtlich der Frage, ob und gegebenenfalls welche Verfahrensverzögerungen eingetreten sind und welche Ursachen hierfür maßgeblich waren (BVerfG, Beschlüsse vom 9. Oktober 2014, Az.: 2 BvR 2874/10; vom 13. September 2010, Az.: 2 BvR 449/10; vom 6. April 2006, Az. 2 BvR 619/06, juris).

IV.

18

Die Kosten- und Auslagenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Auch wenn ein Fall des § 309 Abs. 2 StPO, in dem das Beschwerdegericht zugleich die in der Sache abschließend erforderliche Entscheidung zu treffen hätte, nicht vorliegt und die Beschwerde nur vorläufigen Erfolg hat, hat eine Kosten- und Auslagenentscheidung zu ergehen. Da der weitere Fortgang des Verfahrens nicht vorherzusehen ist, ist kosten- und auslagenrechtlich insoweit bereits ein Verfahrensabschluss im Sinne des § 464 StPO gegeben (Senat, Beschluss vom 7. Dezember 2017, Az.: 2 Ws 201/17).

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