Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht - 2 Ws 10/18

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) werden Ziffer II. bis VI. des Beschlusses des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 7 als Strafvollstreckungskammer, vom 20. Dezember 2017 aufgehoben.

2. Im Vollstreckungsverfahren betreffend das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 3. Januar 2008 werden die Zeiten des Maßregelvollzugs nur bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind auf die Strafe angerechnet.

3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

1

Mit seit dem 15. Januar 2008 rechtskräftigem Urteil vom 3. Januar 2008 hat das Landgericht Frankfurt (Oder) den Verurteilten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt angeordnet sowie entschieden, dass die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu vollziehen ist.

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Mit Beschluss vom 9. März 2010 hat das Landgericht Frankfurt (Oder) die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mangels Erfolgsaussicht für erledigt erklärt und den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

3

Der Verurteilte befand sich im vorliegenden Verfahren vom 25. Juni 2007 bis 8. Oktober 2008 in Polizei- und Untersuchungshaft. Vom 9. Oktober 2007 bis 14. Januar 2008 war er vorläufig untergebracht nach § 126a StPO im M.-G.-Krankenhaus in E., vom 15. Januar 2008 bis 29. März 2010 im Maßregelvollzug nach § 64 StGB, vom 30. März 2010 bis 8. Juli 2015 im Maßregelvollzug nach § 63 StGB jeweils im M.-G.-Krankenhaus und seither weiter im Maßregelvollzug nach § 63 StGB in der A. Klinik N.-O. in H..

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Mit Beschluss vom 20. Dezember 2017 hat das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 7 als Strafvollstreckungskammer, die Unterbringung nach § 63 StGB für erledigt erklärt und die Entlassung des Verurteilten aus dem Maßregelvollzug angeordnet (Ziffer I. des Beschlusses).

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Da die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Auffassung der Strafvollstreckungskammer auf einer anfänglichen Fehldiagnose im Erkenntnisverfahren beruhte, hat die Kammer weiter entschieden, dass die Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 3. Januar 2008 „durch Anrechnung der vollzogenen Maßregel vollständig vollstreckt ist“ (Ziffer II.) sowie weitere Anordnungen betreffend die nach Vollverbüßung der Strafe eintretende Führungsaufsicht getroffen (Ziffer III. bis VI.).

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Mit ihrer am 22. Dezember 2017 beim Landgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde, welcher die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist und auf deren Verwerfung der Verurteilte angetragen hat, wendet sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) unter ausdrücklicher Billigung der Erledigterklärung der Maßregel gegen den Beschluss vom 20. Dezember 2017, soweit diesem eine vollständige, über zwei Drittel der Strafe hinausgehende Anrechnung der Zeiten des Maßregelvollzugs auf die Strafe zu Grunde liegt.

II.

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Das einheitlich als sofortige Beschwerde auszulegende Rechtsmittel ist statthaft (§§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 1 und 3 Satz 1 StPO) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere binnen der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. Es führt zur Aufhebung und Änderung des angefochtenen Beschlusses, soweit die Strafvollstreckungskammer die Zeit des Maßregelvollzugs vollständig auf die Strafe angerechnet hat.

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1. Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so ist gemäß § 67 Abs. 4 StGB die Zeit des Maßregelvollzugs auf die Strafe anzurechnen, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.

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Bei dieser nur teilweisen Anrechnung der Maßregelvollzugszeiten nach § 67 Abs. 4 StGB bleibt es im Vollstreckungsverfahren auch dann, wenn die Anordnung des Maßregelvollzugs auf einer Fehldiagnose beruhen und deshalb ein Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB beim Verurteilten nicht vorgelegen haben könnte (BVerfG NStZ 1995, 174; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24. September 2007, Az.: 2 BvR 1844/07, juris Rn. 5 f.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 11. Februar 2008, Az.: 1 Ws 12/08, juris Rn. 14 f.; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 58, 59 f. und Beschluss vom 3. Juni 2005, 3 Ws 298-299/05, juris Rn. 13 ff. und 18; LK-Schöch § 67 Rn. 29; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder § 67 Rn. 5; Jehle in Satzger/Schluckebier/Widmaier § 67 Rn. 27; Wolf NJW 1997, 779, 781).

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2. Der gegenläufigen Ansicht, dass im Falle einer anfänglichen Fehldiagnose bereits verbüßter Maßregelvollzug analog § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB vollständig auf eine im gleichen Erkenntnis verhängte Strafe anzurechnen sei (so OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 2017, Az.: 4 Ws 305/16, juris Rn. 24; OLG Rostock, Beschluss vom 16. Januar 2017, Az.: 20 Ws 173/17, juris Rn. 37; KG, Beschluss vom 27. Januar 2015, Az.: 2 Ws 3/15, juris Rn. 28 ff.; OLG Dresden NStZ 1995, 520; MüKo-Maier § 67 Rn. 124) vermag sich der Senat in Anbetracht der entgegenstehenden Rechtskraft des erkennenden Urteils und der klaren gesetzlichen Regelung des § 67 Abs. 4 StGB nicht anzuschließen.

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a) Nach rechtskräftig abgeschlossenem Erkenntnisverfahren steht der Feststellung einer auf einer Fehldiagnose beruhenden fehlerhaften Maßregelanordnung im Vollstreckungsverfahren bereits die Bindungswirkung des rechtskräftigen Strafurteils entgegen. Die Rechtskraft des erkennenden Urteils kann nur durch vom Gesetzgeber zugelassene Rechtsmittel verhindert oder - nach formeller Rechtskraft - unter den abschließenden, engen Voraussetzungen eines Wiederaufnahmeverfahrens durchbrochen werden. Denn die Überprüfung, ob die Maßregel nach durchgeführter Hauptverhandlung rechtswidrig und auf tatsächlich fehlerhafter Grundlage angeordnet wurde, ist allein dem besonderen Verfahrensgang nach §§ 359 ff. StPO vorbehalten. Hierüber können die Gerichte im Vollstreckungsverfahren nicht befinden (ausführlich hierzu: BVerfG NStZ 1995, 174, 175).

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Deshalb ist ungeachtet der Frage, ob im Rahmen eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens eine vollständige Anrechnung der Maßregelvollzugszeiten auf die Strafe erfolgen müsste, die nur teilweise Anrechnung der Zeit des Maßregelvollzugs auf die Freiheitsstrafe auch im Falle einer anfänglichen Fehleinweisung in den Maßregelvollzug verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG aaO.; bestätigt durch Nichtannahmebeschluss vom 24. September 2007, Az.: 2 BvR 1844/07, juris Rn. 5 f.).

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b) Zudem fehlt es an der für eine analoge Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB notwendigen Gesetzeslücke, da § 67 Abs. 4 StGB nicht nur nach seinem Wortlaut und Wortsinn, sondern auch nach seinem Gesetzeszweck selbst im Falle einer Fehldiagnose Anwendung findet.

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Die zeitliche Begrenzung der Anrechenbarkeit nach § 67 Abs. 4 StGB soll in Anbetracht der Möglichkeit, im Falle einer positiven Legalprognose die Vollstreckung der verbleibenden Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, den Verurteilten zur Mitarbeit am Resozialisierungsziel motivieren oder den Erfolg der Behandlung stützen und sichern (BVerfGE 91, 1, 33; BT-Drs. 10/2720 S. 13; MüKo-Maier § 67 Rn. 120). Das gesetzgeberische Anliegen, den Verurteilten für die Dauer der Freiheitsentziehung zur Mitarbeit am Resozialisierungsziel und zur Schaffung der Voraussetzungen für eine günstige Legalprognose im Sinn des § 57 Abs. 1 StGB zu motivieren und ggf. den Verurteilten sodann unter dem Eindruck einer bedingten Reststrafaussetzung auch für die Zukunft zu einer straffreien Lebensweise zu veranlassen, ist ein allgemeingültiges Ziel und von der Richtigkeit der der Maßregelanordnung zugrunde liegenden Diagnose unabhängig (so ausdrücklich: BVerfG, Beschluss vom 24. September 2007, Az.: 2 BvR 1844/07, juris Rn. 6; OLG Brandenburg aaO. Rn. 15).

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c) Die Nichtanwendung des § 67 Abs. 4 StGB widerspräche dem Willen des Reformgesetzgebers, der in Kenntnis des Streitstrands zwar die Erledigterklärung auch bei anfänglicher Fehldiagnose angeordnet, aber auf eine von § 67 Abs. 4 StGB abweichende Anrechnungsregelung im Vollstreckungsverfahren verzichtet hat (vgl. hierzu bereits: OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juni 2005, Az.: 3 Ws 298-299/05, juris Rn. 14).

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Mit dem Gesetz zur nachträglichen Einführung Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1838) hat der Gesetzgeber den im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelten Grundsatz, dass eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf Grundlage einer anfänglichen Fehldiagnose im Vollstreckungsverfahren für erledigt zu erklären ist (vgl. BGHSt 42, 306, 310 m.w.N.), ausdrücklich gebilligt und in § 67d Abs. 6 StGB normiert. Dabei hat sich Gesetzgeber auch mit der seinerzeit diskutierten Frage, ob die Rechtskraft des erkennenden Urteils einer Erledigterklärung infolge anfänglich fehlerhafter Unterbringungsdiagnose entgegenstehen könnte, auseinandergesetzt und dies verneint. Die Gesetzesbegründung führt aus, dass sich die Frage, ob möglicherweise bereits die Unterbringungsdiagnose fehlerhaft war, im Erledigungsverfahren gar nicht stelle. Denn zum einen unterliege im Erledigungsverfahren im Hinblick auf die fortbestehende Rechtskraft des erkennenden Urteils nur der gegenwärtige und nicht der frühere Zustand des Untergebrachten der Beurteilung des Vollstreckungsgerichts. Zum anderen könne im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens auch aus tatsächlichen Gründen immer nur über die gegenwärtige Sachlage entschieden werden, weil nur zur gegenwärtigen psychischen Situation des Untergebrachten hinreichende gutachterliche Feststellungen getroffen werden könnten (so BT-Drs. 15/2887 S. 14). Dabei zitiert die Gesetzesbegründung zustimmend die oben unter Ziffer II. 2. a) aufgeführte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge der Ausspruch über die Erledigung einer möglicherweise von Anfang an ungerechtfertigten Maßregelanordnung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, aber eine über § 67 Abs. 4 StGB hinausgehende Anrechnung von Maßregelvollzugszeiten wegen entgegenstehender Rechtkraft im Vollstreckungsverfahren nicht erfolgen könne. Aufgrund dieser Erörterungen ist eine planwidrige Regelungslücke auszuschließen (aA KG Berlin aaO. Rn. 37).

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d) Gegen eine planwidrige Regelungslücke spricht weiter, dass der Gesetzgeber auch nachfolgend mit dem Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften vom 8. Juli 2016 (BGBl. I S. 1610) keine vollständige Anrechenbarkeit von Maßregelvollzugszeiten auf die Strafe normiert hat. Ziel der Reform war die (erneute) Stärkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Vermeidung von unverhältnismäßigen oder unverhältnismäßig langen Freiheitsentziehungen infolge von Unterbringungen nach § 63 StGB. Dabei sah sich der Gesetzgeber zu einer Vielzahl von Veränderungen veranlasst, u.a. auch dazu, die Anrechnungsvorschrift des § 67 Abs. 4 StGB um die Möglichkeit der Anrechnung verfahrensfremder Strafen gemäß § 67 Abs. 6 StGB zu erweitern und die Voraussetzungen der Erledigterklärung nach § 67d Abs. 6 StGB weiter zu konkretisieren. Auch im Lichte einzelner obergerichtlicher Entscheidungen, die trotz der klaren gesetzlichen Regelung des § 67 Abs. 4 StGB weiterhin eine vermeintlich planwidrige Regelungslücke aufzeigten, sah sich der Gesetzgeber jedoch nicht veranlasst, über § 67 Abs. 4 und 6 StGB hinausgehende Anrechnungsmöglichkeiten zu normieren. Stattdessen wiederholt die Gesetzesbegründung unter Verweis auf die einschlägige Verfassungsrechtsprechung, dass keine umfassende Anrechnung der Maßregelvollzugszeiten auf die Strafe erfolgen müsse, weil Freiheitsstrafe und Maßregel der Unterbringung nach rechtfertigendem Grund und Zielrichtung grundsätzlich nebeneinander stünden. Die Verfassung erlaube es dem Gesetzgeber, in Ausübung seiner Gestaltungsfreiheit eine nur teilweise Anrechnung der Zeit der Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug auf die Freiheitsstrafe vorzusehen (BT-Drs. 18/7244 S. 27).

III.

18

Mangels vollständiger Anrechnung der Zeiten des Maßregelvollzugs auf die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 3. Januar 2008 ist die Strafe noch nicht vollständig verbüßt. Damit tritt auch nicht gemäß § 68f StGB von Gesetzes wegen Führungsaufsicht ein, so dass die die Führungsaufsicht betreffenden Anordnungen in Ziffer III. bis VI. des angefochtenen Beschlusses ebenfalls aufzuheben sind. Die Strafvollstreckungskammer wird nunmehr über die Frage einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB zu entscheiden haben.

IV.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Hat die Staatsanwaltschaft ein erfolgreiches Rechtsmittel eingelegt, mit dem sie ihre Aufgabe wahrgenommen hat, Gerichtsentscheidungen ohne Rücksicht darauf, welche Wirkung damit für den Verurteilten erzielt wird, mit dem Gesetz in Einklang zu bringen, so trägt in der Regel die Staatskasse die Kosten und die notwendigen Auslagen des Verurteilten (Senat, Beschluss vom 19. Januar 2018, Az.: 2 Ws 5/18; Meyer-Goßner/Schmitt § 473 Rn. 17 m.w.N.). Eine entsprechend Konstellation kann hier angenommen werden.

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