Urteil vom Oberlandesgericht Köln - 9 U 62/71
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 12. Januar 1971 verkündete Grundurteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn - 1 0 138/70 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrene zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand:
2Der jetzt 27 Jahre alte Kläger erlitt mit 12 Jahren, am 16. November 1956, in F auf der Lstraße einen schweren Unfall. Auf dem Fahrrad fahrend, wurde er am Kopf von einen Sprengring getroffen, der sich von einem Rad eines dem Vater und Rechtsvorgänger der Beklagten gehörenden landwirtschaftlichen Schleppers gelöst hatte.
3In einem längeren Rechtsstreit wurde um die Verantwortlichkeit des Rechtsvorgängers der Beklagten am Zustandekommen des Unfalls sowie über das Ausmaß des vom Kläger erlittenen Schadens gestritten ( 1 0 3/58 LG Bonn). Im Herbst 1960 erstellte der Sachverständige Professor Dr. R ein Gutachten, wonach der Kläger wegen Kopf- und Gehirnverletzungen zu 50 % erwerbsgemindert sei.
4Der Rechtsvorgänger der Beklagten erklärte sich schließlich bereit, dem Kläger unter anderem neben einem Schmerzensgeld allen Schaden zu ersetzen, den dieser durch den Unfall künftig erleiden würde.
5Der Kläger setzte nach einer längeren, durch die Unfall folgen bedingten Unterbrechung seinen Schulbesuch fort und wurde im Frühjahr 1958 aus dem 8. Schuljahr der Volksschule entlassen. Er trat sodann bei dem Elektromeister K eine Elektrolehre an, bestand jedoch die Gesellenprüfung nicht. Das Abschlußzeugnis der gewerblichen Berufsschule des Kreises F vom 31. März 1962 trägt den Vermerk: " Die Folgen eines schweren Unfalls behinderten F F trotz große Anstrengungen sachlich mitzuarbeiten. "
6Einige Zeit danach sah sich der Kläger nach seiner Behauptung nicht mehr in der Lage, seinen Beruf oder irgend eine andere Tätigkeit auszuüben. Er erhält von der Landesversicherungsanstalt der Rheinprovinz eine Erwerbsunfähigkeitsrente und den Differenzbetrag bis zu einem von der Beklagten anerkannten Verdienstausfall von zur Zeit 751,-- DM monatlich von der Beklagten sowie von deren Haftpflichtversicherung.
7Der Kläger hat mit der vorliegenden Klage für die Zeit vom 1. Februar 1969 bis zum 30. Juni 1970 einen weiteren monatlichen Verdienstausfall von jeweils 494,-- DM geltend gemacht und dazu vorgetragen, er hätte spätestens bis zum 1. Februar 1969 ohne die durch den Unfall erlittenen Körperschäden seine Meisterprüfung abgelegt und alsdann einen monatlichen Verdienst von mindestens 1.200,-- DM erhalten. Vor dem Unfall sei er ein überdurchschnittlich guter Schüler gewesen; er hätte ohne den durch den Unfall eingetretenen Abfall seines Leistungsvermögens die Elektromeisterprüfung bestanden, zumal er durch sein Elternhaus - sein Vater ist Fernmeldeobersekretär bei der Bundespost - wie auch durch seinen Lehrherrn, dessen Geschäft er später habe übernehmen sollen, den erforderlichen Antrieb zum Ablegen der Meisterprüfung erhalten hätte.
8Der Kläger hat beantragt,
9die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.633,--DM nebst 4 % Zinsen seit der Klagezustellung zu zahlen.
10Die Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Sie hat bestritten, daß der Kläger die Meisterprüfung mit Erfolg abgelegt hätte und hat auch die Höhe der Klageforderung für übersetzt gehalten.
13Das Landgericht hat ohne Beweiserhebung die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und ausgeführt, die Beklagte müsse dem Kläger eine noch zu ermittelnde Rente nach dem Lohnniveau eines Elektromeisters zahlen. Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sei davon auszugehen, daß jeder Handwerksgeselle mit durchschnittlichen Intelligenz, Ehrgeiz und Fleiß die Meisterprüfung mit Erfolg ablegen könne. Die Schulzeugnisse des Klägers hätten vor dem Unfall in den wesentlichen Fächern die Zensuren befriedigend und gut gezeigt. Ein ordentliches Elternhaus hätte dem Kläger auch günstige Umweltbedingungen zur Entwicklung von Fleiß und Ehrgeiz gegeben, zumal der Anreiz hinzugekommen sei, später das Geschäft seines Lehrherrn zu übernehmen, der keine männlichen Abkömmlinge habe.
14Die Beklagte hat gegen dieses am 12. Januar 1971 verkündete und am 29. Januar 1971 zugestellte Grundurteil am 25. Februar 1971 Berufung eingelegt und sie nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 25. April 1971 am 26. April 1971, einem Montag, begründet.
15Die Beklagte trägt vor, der Kläger habe nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dargetan, daß er ohne den Unfall mit der Vollendung des 25. Lebensjahres die Meisterprüfung im Elektrohandwerk abgelegt haben würde.
16Von 100 jungen Leuten, die eine Handwerkslehre begännen, beständen nämlich nur rund 75 die Gesellenprüfung. Lediglich 25 % der Gesellen, nicht einmal 20 % der Berufsanfänger, unterzögen sich mit Erfolg der Meisterprüfung ( Beweis: Auskunft des statistisch Landesamts und der Handwerkskammer). Es komme hinzu, daß die Schulzeugnisse des Klägers nicht gerade überdurchschnittlich gewesen seien.
17Die Beklagte bestreitet auch, daß der Kläger begründete Aussicht gehabt habe, irgendwann einmal das Geschäft seines Lehrherrn zu übernehmen.
18Die Beklagte beantragt,
19unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen, notfalls ihr Vollstreckungsnachlaß zu gewähren.
20Der Kläger beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen,
22notfalls ihm, der sich vorsorglich zur Sicherheitsleistung erbietet nachzulassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung abzuwenden und zu gestatten, daß diese durch Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse erfolgt.
23Der Kläger beruft sich auf seinen früheren Vortrag und auf die Begründung des angefochtenen Urteils. Er behauptet, bei seinen in der Schule vor dem Unfall gezeigten Leistungen sowie bei den bei ihm vorliegenden günstigen Umweltsbedingungen hätte er auf jeden Fall die Meisterprüfung abgelegt.
24Im übrigen wird auf den Vortrag der Parteien nach Maßgabe der gewechselten Schriftsätze sowie auf die vom Kläger überreichten Schul- und Lehrzeugnisse verwiesen.
25Entscheidungsgründe:
26Die an sich statthafte, in rechter Form und Frist eingelegte und begründete Berufung hat keinen Erfolg.
27Zu Recht hat das Landgericht den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
28Der Kläger hat unstreitig gemäß §§ 843, 842 BGB einen Anspruch darauf, im Wege einer Geldrente Ersatz für die Nachteile zu erhalten, die er infolge des Unfalls vom Jahre 1956 erlitten hat. Dennoch ist der Kläger, wie das Landgericht zu Recht ausgeführt hat, gemäß § 252 BGB so zu stellen, wie wenn er im Alter von 25 Jahren, also spätestens bis zum 1. Februar 1969, die Meisterprüfung im Elektrohandwerk mit Erfolg abgelegt hätte. Zwar hat der Kläger nicht zur vollen Gewißheit dartun können er hätte bis zu dem angeführten Zeitpunkt die Prüfung als Elektromeister bestanden, da er bereits mit 12 Jahren den seine Intelligenz und sein Leistungsvermögen erheblich mindernden Unfall erlitten hat. Dem Kläger kommt aber die Beweiserleichterung des § 252 Abs. 2 BGB zugute, wonach als entgangen auch der Gewinn gilt, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten oder Vorkehrungen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann ( BGH NJW l 964, 662 mit weiteren Belegen; BGB (VersR 1967, 903, VersR 1969, 376, VersR 1970, 76 ). Hiernach muß die den Schadensersatz fordernde Partei für die Ausgangssituation des Schadens greifbare Tatsachen vorbringend aus denen sich anhand eines bestimmten Sachverhalts sagen läßt, wie die Dinge wenn das als Schaden stiftende Ereignis nicht eingetreten wäre, sich nach menschlicher Erfahrung weiter entwickelt haben würden.
29Dies hat der Kläger getan. Er hat nachgewiesen, daß seine intellektuellen Fähigkeiten vor dem Unfall weit über dem vergleichbaren Durchschnitt seiner Altersgenossen lagen. Die letzten drei Schulzeugnisse vor dem Unfall weisen Zensuren aus, die im wesentlichen um befriedigend liegen, in den Hauptfächern Deutsch und Rechnen teilweise sogar darüber. Gerade im Hinblick auf sein Berufsziel - Elektrotechniker - ist von Belang, daß der Kläger sich - bei dem gleichen Lehrer - im Rechnen und Naturkunde in seinem letzten Zeugnis vor dem Unfall auf gut verbesserte. Nach dem Unfall verschlechterten sich seine Leistungen erheblich, teilweise um mehr als eine Zensur und lagen nur noch um ausreichend, teilweise waren sie sogar schlechter.
30In Rechnen und Naturkunde erhielt er jetzt, im Zeugnis vom 31. Oktober 1957, nur noch ausreichend. Hiernach wird es verständlich, weshalb der Kläger die Elektrogesellenprüfung nicht bestand, zumal er nach dem Zeugnis seines Lehrherrn wegen seines Gesundheitsstands nur zur Hälfte einsatzfähig war.
31Weiter rechtfertigen die persönlichen Eigenschaften des Klägers sowie seine Umweltbedingungen den Schluß, daß er auch den notwendigen Ansporn bekommen und den erforderlichen Ehrgeiz entwickelt hätte, seinen intellektuellen Fähigkeiten zum Bestehen der Meisterprüfung auszunutzen. Der Kläger hatte vor dem Unfall in seinem Schulzeugnissen,in Führung, Beteiligung am Unterricht und Fleiß gute und befriedigende Noten. Erst nach dem Unfall wird im Zeugnis über ein Nachlassen der Beteiligung am Unterricht geklagt. Immerhin besaß der Kläger jetzt noch die Energie, eine weitere Ausbildung, somit die Elektrolehre, anzutreten, die er allerdings aufgrund der unfallbedingten Leistungsminderung nicht mit Erfolg abschließen konnte. Ob sich für den Kläger als weiterer Ansporn zum Ablegen der Meisterprüfung die Übernahme des Geschäftes seines Lehrherrn ergeben hätte, hat der Senat nicht für beweiserheblich angesehen. Wohl aber ist zu berücksichtigen, daß der Kläger einer Familie entstammt, mit eigenem Hausgrundbesitz. Der Vater hat sich bis zum Fernmelde-Obersekretär bei der Bundespost hochgearbeitet, hat somit auch vom Beruf her eine Berührung mit dem Elektrozweig. Ein Bruder des Klägers, mit einer Schlosserausbildung, befindet sich, wie die Beklagte nicht bestreitet, in einer vergleichbaren sozialen Stellung.
32Der Senat ist überzeugt, daß ein 12jähriges Kind anstelle des Klägers mit seinen befriedigenden schulischen Leistungen und guten Leistungen in Rechnen und Naturkunde, mit überdurchschnittlichem Fleiß und Energie und aus der Umwelt eines bürgerlich-strebsamen Elternhauses heraus, bei dem Vater und Bruder technische Berufe eingeschlagen haben, durchweg alle Voraussetzungen zu einem späteren Ablegen der Meisterprüfung im Elektrohandwerk besitzt.
33Dem kann die Beklagte nicht entgegenhalten, daß nur 20 % derjenigen, die eine Elektrolehre beginnen, später auch die Meisterprüfung mit Erfolg ablegen. Dem Senat kommt es hierbei auch nicht darauf an, zu ermitteln, wie hoch die Durchfallquote selbst bei der Meisterprüfung ist, ob nicht - wofür die Lebenserfahrung spricht - nur ein geringer Teil der Gesellen diese Prüfung anstrebt. Entscheidend ist, daß der Kläger nach Überzeugung des Senats wegen seiner überdurchschnittlichen intellektuellen und persönlichen Fähigkeiten und wegen des günstigen Umwelteinflusses seines Elternhauses, ohne das Unfallereignis zu jenen 20 % der Berufsanfänger gehört hätte, die die Meisterprüfung bestanden haben würden. Daß der Kläger den vollen Nachweis nicht führen kann, liegt allein an dem vom Rechtsvorgänger der Beklagten verursachten Unfall.
34Dieser Umstand nimmt der Beklagten aber nach Treu und Glauben die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, der Kläger habe nicht zu den 20 % Berufsanfängern gehört, die die Meisterprüfung ablegen. Es hätte an der Beklagten gelegen, Umstände aufzuführen und zu beweisen die dafür sprechen, daß der Kläger trotz der dargelegten günstigen Voraussetzungen nicht zu jener Gruppe von Elektrolehrlingen gehört hätte, die die Meisterprüfung bestehen. Derartige Umstände hat die Beklagte indes nicht aufgezeigt.
35Das Landgericht hat also zu Recht die Klage dem Grunde nach zugesprochen, weshalb die Berufung zurückzuweisen war.
36Das Landgericht wird das Verfahren wegen des Anspruchs der Höhe nach fortzusetzen haben.
37Die Entscheidung über die prozessualen Nebenansprüche beruhen auf §§ 97 Abs. 2, 708 Ziff. 7, 713 a ZPO.
38Streitwert für das Berufungsverfahren: 7.633,-- DM.
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