Beschluss vom Oberlandesgericht Köln - 4 UF 153/90
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der angefochtene Beschluß dahin ergänzt, daß dem Antragsgegner aufgegeben wird, das Kind H. bis zum 30. November 1990 an die Antragstellerin herauszugeben.
Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.
1
G r ü n d e
2I.
3Die beteiligten Eltern - beide türkische Staatsangehörige - haben im Juli 1985 die Ehe geschlossen und leben seit Februar 1989 voneinander getrennt. Der Antragsgegner, der ebenso wie seine Eltern, bereits mehr als 15 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland lebt, ist in der gemeinschaftlichen Ehewohnung verblieben. Ihm ist durch Anordnungsbeschluß des Amtsgerichts Bonn vom 12.5.1989 (Az. 43 F 96/89) einstweilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht über H. übertragen worden.
4Im Verlaufe ständig eskalierender Streitigkeiten zwischen den Eltern hat der Vater das gerichtlich festgelegte Umgangsrecht der Mutter mehrfach vereitelt und schließlich ganz verweigert.
5Im Rahmen eines von ihr angestrengten Verfahrens zur Sorgerechtsregelung während des Getrenntlebens der Eltern hat die Mutter beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung ihr einstweilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht über H. zu übertragen und die
6Herausgabe des Kindes anzuordnen.
7Durch Anordnungsbeschluß vom 21.9.1990 hat das Amtsgericht dem Antrag der Mutter wegen des Aufenthaltsbestimmungsrechtes entsprochen, ihren Herausgabeantrag dagegen zurückgewiesen.
8Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Anordnung sei erforderlich, weil der Antragsgegner die Besuchskontakte zwischen dem Kind und seiner Mutter hartnäckig vereitele und damit sein Sorgerecht mißbrauche. Dem Herausgabeantrag habe
9nicht entsprochen werden müssen, weil zu erwarten stehe, daß der Antragsgegner sich auch so der gerichtlichen Anordnung beuge.
10Gegen diesen Beschluß haben die Eltern Beschwerde eingelegt.
11Die Antragstellerin verfolgt das Herausgabeverlangen weiter und macht geltend, der Antragsgegner mißachte die gerichtliche Anordnung.
12Der Antragsgegner verweist auf ein in der Türkei anhängiges Ehescheidungsverfahren und bezweifelt die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, zumal er sein Kind am 23.9.1990 in die Türkei verbracht habe in Verfolgung eines bereits früher gefaßten
13Entschlusses und vor Zustellung der abändernden Entscheidung des Amtsgerichts am 25.9.1990. Auch nach dem hier zu beachtenden türkischen Recht stünde ihm als Vater die Entscheidung darüber zu, den Aufenthalt seines Kindes zu bestimmen.
14In der Sache rechtfertige die bloße Nichtbeachtung eines Umgangsrechtes es nicht, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht über sein Kind zu entziehen.
15Die Antragstellerin bestreitet, daß der Antragsgegner das Kind in die Türkei verbracht habe und macht geltend, er halte es vielmehr an einem anderen Ort verborgen.
16II.
17Von den gemäß §§ 19, 20 FGG zulässigen Rechtsmitteln hat nur dasjenige der Antragstellerin sachlich Erfolg.
18Die internationale Zuständigkeit, die wegen der Auslandsberührung (türkische Staatsangehörigkeit der Eltern und des Kindes) vorrangig zu prüfen ist, folgt aus Art. 1 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA) vom 5.10.1961, der insoweit Art. 19 EGBGB verdrängt. Sind deutsche Gerichte international zuständig, so ist nach Art. 2 MSA auch materiell deutsches Recht anzuwenden.
19Nach Art. 1 MSA sind die Gerichte des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art. 3, 4 und 5 MSA, diese wiederum unter der Einschränkung der Art. 8 und 16 MSA, für Maßnahmen zum Schutze der Person und des Vermögens eines Minderjährigen zuständig.
20Die sachlichen Erfordernisse sind erfüllt. Das Kind H. hatte bei der Entscheidung des Amtsgerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt ohne Zweifel in der Bundesrepublik Deutschland, einem Vertragsstaat des Übereinkommens, und insbesondere im Bezirk des Amtsgerichts Bonn und Oberlandesgerichts Köln. Die Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes als eines Teilbereiches der elterlichen Sorge ist eine Schutzmaßnahme im Sinne des Übereinkommens (vgl. Paland/jHelldrich, BGB, 49. Aufl., Art. 1 MSA Anm. 3 m.w.N.). In persönlicher Hinsicht ist das Übereinkommen nach Art. 13 Abs. 1 MSA auf alle Minderjährigen anzuwenden, so daß es weder auf die Staatsangehörigkeit des Kindes noch darauf ankommt, ob der Heimatstaat des Minderjährigen zu den Vertragsstaaten gehört. Im übrigen ist auch die Türkei mit Wirkung vom 16.4.1984 dem Abkommen beigetreten (Bekanntmachung vom 4.4.1984, BGBI. II, 460).
21Ein Ehescheidungsverfahren der Eltern in der Türkei steht der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte für die hier zu treffende Entscheidung bei Getrenntleben der Eltern nicht entgegen. Auf zwischenstaatlichen Abkommen beruhende Regelungen haben Vorrang vor etwaigen abweichenden Vorschriften des autonomen nationalen Rechts, auch wenn dieses später ersetzt worden ist. Danach setzt sich die Regelung der
22internationalen Zuständigkeit im Minderjährigenschutzabkommen auch gegenüber etwaigen Zuständigkeiten der Ehegerichte durch (vgl. Böhmer/Siehr, FamR II MSA Einf. Rdnr. 16 und Art. 1 Rdnr. 114; Jayme, FamRZ 79, 21). Die Vorschrift des § 621 ZPO, auf die der Antragsgegner offenbar mit seiner Beschwerdebegründung abhebt, ist hier schon deshalb nicht anwendbar, weil deutsches Recht nicht die Zuständigkeit ausländischer Gerichte begründen kann.
23Art. 4 MSA steht nicht entgegen, selbst wenn der Antragsgegner das Kind am 23.9.1990 in die Türkei verbracht haben sollte, was die Antragstellerin bestreitet, weil nach, dem eigenen Vorbringen des Antragsgegners türkische Heimatbehörden bislang Schutzmaßnahmen für H. nicht ergriffen haben. Entsprechendes gilt für Art. 5 MSA, nach welchem mit Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts von einem Vertragsstaat in einen anderen auch ein Wechsel der internationalen Zuständigkeit des Aufenthaltsstaates nach Art. 1 MSA verbunden ist; denn H. hat seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik Deutschland beibehalten. Allgemein wird unter dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts der tatsächliche Lebensmittelpunkt verstanden, also der Aufenthaltsort als Daseinsmittelpunkt im Unterschied einmal zum nur schlichten Aufenthaltsort und zum anderen zum Wohnsitz (vgl. Palandt/Heldrich, a.a.O. Anm. 2 m.w.N.). Der gewöhnliche Aufenthalt, dessen Begründung – anders als beim Wohnsitz - keinen rechtsgeschäftlichen Willen erfordert, also auch nicht von der Bestimmung des Sorgeberechtigten abhängt, verlangt eine gewisse Dauer der Anwesenheit und darüber hinaus eine gewisse Bindung in familiärer oder beruflicher Hinsicht im Sinne einer Eingliederung in die soziale Umwelt. Vom gewöhnlichen Aufenthaltsort läßt sich gewissermaßen als "faktischen Wohnsitz" sprechen, wenn sich aus der Verweildauer und den sozialen Kontakten auf einen neuen Lebensmittelpunkt schließen läßt. Für die Verweildauer werden in der Rechtsprechung häufig als Faustregel etwa sechs Monate genannt (OLG Stuttgart, NJW 78, 1746; OLG München FamRZ 81, 389; OLG Düsseldorf, FamRZ 84, 194), die im Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung zu beurteilen ist. Das Kind H. ist jedoch nach der Darstellung des Antragsgegners erst seit sieben Wochen "außerhalb des Geltungsbereiches" des Familiengerichts Bonn verbracht. Auch die sozialen Kontakte des Kleinkindes bestehen nach wie vor in Bonn, wo es bei den Eltern und Großeltern väterlicherseits aufgewachsen ist und seinen Lebensmittelpunkt hat. Nichts spricht dafür, daß der Vater einen anderweitigen Aufenthalt des Sohnes H. - etwa in der Türkei - von Anfang an auf Dauer angelegt hat, zumal er nach seinem eigenen Vorbringen ebenso wie seine Eltern weiterhin in der Bundesrepublik verbleiben will. Im übrigen wird sich der entgegenstehende Wille des berechtigten Elternteils - hier der aufgrund Anordnung des Amtsgerichts aufenthaltsbestimmungsberechtigten Mutter - regelmäßig auch rein tatsächlich dahin ausdrücken, daß der Aufenthalt des Minderjährigen in einem anderen Staat noch nicht von vornherein als auf Dauer angelegt angesehen werden kann und dies solange nicht anzunehmen ist, als die Möglichkeit besteht, daß der berechtigte Elternteil die Rückführung des Minderjährigen durchsetzt, ehe es zu dessen sozialer Eingliederung in die neue Umwelt gekommen ist (vgl. auch OLG Hamm, FamRZ 88, 1198).
24Schließlich scheitert die Anwendung deutschen Rechts hier auch nicht an Art. 3 MSA. Nach dem ein Gewaltverhältnis in allen Vertragsstaaten anzuerkennen ist, das nach dem internationalen Recht des Staates, dem der Minderjährige angehört, kraft Gesetzes besteht. Das genannte Gewaltverhältnis besteht nach türkischem Recht zwischen dem Vater und dem Kind H. gemäß Art. 263 des türkischen ZGB. Hiernach üben die Eltern
25die elterliche Gewalt während ihrer Ehe gemeinsam aus. Bei Meinungsverschiedenheiten entscheidet jedoch der Vater. Zwar kann der Richter nach Art. 272 ff. des türkischen ZBG bei mangelnder Fähigkeit der Eltern diesen die elterliche Gewalt entziehen. Eine dem § 1672 BGB ähnliche Regelung der elterlichen Sorge im Falle des Getrenntlebens der Eltern kennt das türkische Recht jedoch nicht, weshalb eine sog. regelungsfähige
26Lücke nicht besteht und das gesetzliche Gewaltverhältnis grundsätzlich anzuerkennen ist. Dieses Gewaltverhältnis, aufgrund dessen dem Vater grundsätzlich der Stichentscheid über den tatsächlichen Aufenthalt des Kindes H. zusteht, hindert die Annahme der internationalen Zuständigkeit und auch die Anwendung deutschen Rechtes hingegen nicht,weil durch die alleinige Entscheidung des Vaters der Sohn H. in seiner Person ernstlich gefährdet würde, so daß nach Art. 8 MSA die deutschen Gerichte trotz grundsätzlichen Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 3 MSA Maßnahmen zum Schutze des Minderjährigen unter Anwendung deutschen Rechts treffen dürfen.
27Nach Art. 8 MSA schließt u.a. Art. 3 MSA nicht aus, daß die Behörden des Aufenthaltsstaates Maßnahmen zum Schutze des Minderjährigen treffen, soweit dieser u.a. in seiner Person ernstlich gefährdet ist. Das Kind Gökhan ist ernstlich gefährdet, so daß die
28deutschen Gerichte nach Art. 1 MSA für die Regelung der elterlichen Sorge international zuständig sind und insbesondere nach Art. 2 MSA auch materiell nach deutschem Recht entscheiden dürfen, weil nach dem Grundsatz des Gleichlaufes das anzuwendende Recht dem Gerichtsstand folgt.
29Eine ernstliche Gefährdung des Kindeswohles im Sinne des Art. 8 MSA ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die Voraussetzungen der §§ 1666 ff. BGB erfüllt sind (vgl. BGH NJW 1973, 417, 418).
30Die Voraussetzungen des § 1666 BGB hält der Senat mit dem Amtsgericht für erfüllt. Hiernach hat dann, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes u.a. durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Bestimmung gefährdet wird und wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, das Gericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Ob derzeit das Kindeswohl konkret gefährdet ist, ist unerheblich. Es besteht jedenfalls eine begründete, gegenwärtige Besorgnis der Gefährdung zumindest des seelischen Wohles des Kindes Gökhan durch mißbräuchliche Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes durch den Vater für den Fall, daß eine anderweitige Regelung durch ein deutsches Gericht nicht möglich ist. Die bloße Besorgnis der Gefährdung genügt (Palandt/Diederichsen, Anm. 3 zu § 1666). Ob es tatsächlich hierzu kommen wird, hängt nur davon ab, ob deutsche Gerichte in der Sache entscheiden. Das folgt zur Überzeugung des Senats aus dem bisherigen Verhalten des Vaters. Er hat schon bislang den Kontakt des
31Kleinkindes zur Mutter vereitelt und es darüber hinaus abrupt aus seiner gewohnten Umgebung herausgenommen und von seinen bisher ihm vertrauten Bezugspersonen
32getrennt. Es bedarf keiner näheren Darlegungen dazu, daß das seelische Wohl des Kleinkindes durch dieses in krasser Weise verantwortungslose Verhalten, H. einer in erster Linie seinem Wohl dienenden Betreuung und Erziehung durch einen leiblichen Elternteil zu entziehen und einer (unbekannten) Fremdbetreuung in der Türkei oder anderswo zu überlassen, auf das äußerste gefährdet ist.
33Die in Anwendung des deutschen Rechts auf § 1672 BGB gestützte Entscheidung des Amtsgerichts, der Mutter einstweilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen, beachtet auch den im Rahmen des Gefährdungstatbestandes geltenden Grundsatz der
34Verhältnismäßigkeit und des geringsmöglichen Eingriffes in das elterliche Sorgerecht. Die Übertragung dieses Teilbereichs der elterlichen Sorge entspricht auch nach den zutreffenden Feststellungen des Amtsgerichts derzeit am besten dem Kindeswohl, weil konkrete Bedenken gegen die Erziehungseignung der Mutter weder überprüfbar dargetan noch – insbesondere auf dem Hintergrund der Feststellungen des zuständigen Jugendamtes - sonst ersichtlich sind. Darüber hinaus ist bei dieser Regelung zu erwarten,
35daß die Antragstellerin eher als der Antragsgegner bereit und fähig ist, dem Kind einen regelmäßigen Umgang mit dem anderen Elternteil zu ermöglich.
36Angesichts des bisherigen im einzelnen dargetanen rechtsmißachtenden Verhaltens des Antragsgegners ist die Herausgabeanordnung gemäß § 1632 BGB zur Wahrung der Kindesinteressen geradezu geboten, so daß der angefochtene Beschluß auf Antrag der Antragstellerin entsprechend zu ergänzen war.
37Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 a Abs. 1 Satz 2 FGG.
38Beschwerdewert: 5.000,00 DM.
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