Beschluss vom Oberlandesgericht Köln - Ss 569/92 - 2 -
Tenor
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G r ü n d e :
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Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen gemeinschaftlicher Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten nach § 329 StPO verworfen. In dem Urteil heißt es unter anderem:
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"Durch die vorgelegten Bescheinigungen der jü-dischen Gemeinden in F. und A. vom 24. Septem-ber 1992 ist zwar glaubhaft gemacht, daß ein gläubiger Jude am heutigen Jüdischen Neujahrs-fest aus religiösen Gründen nicht an einem Ge-richtstermin teilnehmen darf. Dies vermag den Angeklagten jedoch nicht zu entschuldigen. Es bestehen nämlich durchgreifende Zweifel daran, ob der Angeklagte - wie von der Verteidigung geltend gemacht - gläubiger und praktizie-render Jude ist. Die Zeugin R., mit der der Angeklagte zusammenlebt, hat zwar bekundet, der Angeklagte halte bei seiner Familie in Israel die Riten jüdischer Feiertage ein, u. a. esse er dort auch koscher. Die Zeugin hat aber einräumen müssen, selbst keine koschere Küche für ihn zu führen. Sie konnte auch im übrigen trotz der Nachfrage des Gerichts keine konkreten Angaben dazu machen, ob und wie der Angeklagte hier in Deutschland, wo der Ange-klagte nach ihren Angaben überwiegend lebt, seinen jüdischen Glauben praktiziert. Zweifel daran, daß der Angeklagte aus religiösen Grün-den an der Terminswahrnehmung gehindert ist, ergeben sich auch daraus, daß derartige Gründe erstmals in der Hauptverhandlung vorgetragen wurden, obgleich der Termin bereits im Oktober 1991 anberaumt wurde. Die Lebensgefährtin des Angeklagten, die Zeugin R., hat bei ihrer telefonischen Rücksprache mit dem Vorsitzenden in der Woche vor dem Termin keine religiösen Gründe geltend gemacht, sondern wegen Verhin-derung des bisherigen Verteidigers Rechtsan-walt Knöss die Frage einer Vertagung angespro-chen. Sie hat daneben nur ganz allgemein auf mögliche Probleme infolge des jüdischen Neu-jahrsfestes hingewiesen, ohne diese in irgend-einer Weise näher zu erläutern, insbesondere hat die Zeugin R. sich für den Angeklagten nicht auf religiöse Gründe für ein Nichter-scheinen berufen.
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Dies spricht dagegen, daß der Angeklagte ge-genüber seinem Verteidiger und der Zeugin R. schon geraume Zeit vor dem Termin angegeben hat, aus religiösen Gründen am jüdischen Neujahrsfest nicht bei Gericht erscheinen zu können.
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Etwaige verkehrsmäßige Probleme im Zusammenhang mit dem jüdischen Neujahrsfest vermögen den Angeklagten ebenfalls nicht zu entschuldigen, da ihm der Termin seit Oktober 1991 bekannt ist und er sich im übrigen überwiegend in Deutschland aufhält".
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Mit der Revision rügt der Angeklagte Verletzung formellen Rechts. Er rügt, das Landgericht habe den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt; das Landgericht habe auch unter Verstoß gegen § 261 StPO den vorgelegten Bescheinigungen einen anderen Inhalt entnommen, als diese tatsächlich gehabt hätten.
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Die Revision ist ordnungsgemäß und rechtzeitig eingelegt sowie begründet worden. Nachdem das angefochtene Urteil am 05.10.1992 zugestellt worden ist, endete die Einlegungsfrist am Mon-tag, den 12.10.1992, und die Begründungsfrist am Freitag, den 13.11.1992 (zur Fristberech-nung vgl. BGHST 36, 241 = NJW 1990, 460 = NStZ 90, 43 = VRS 78, 48). Die Revisionsbegründung ist innerhalb dieser Frist eingegangen, so daß der wegen vermeintlicher Fristversäumung ge-stellte Wiedereinsetzungsantrag gegenstandslos ist.
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Die Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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Die ordnungsgemäß erhobene Rüge, das Landgericht habe den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt, greift durch.
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Grundsätzlich ist das Ausbleiben eines An-geklagten als genügend entschuldigt anzuse-hen, wenn ihm seine Religion eine Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung an diesem Tag verbietet. Bei der Verschuldensfrage ist im Rahmen des § 329 StPO eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten (Klein-knecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., § 329 Rdn. 23 m. w. N.). Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu ma-chen ist (Kleinknecht/Meyer a. a. O. § 329 Rdn. 23; KK-Ruß, StPO, 2. Aufl., § 329 Rdn. 10 - jeweils m. w. N.). Berufliche oder priva-te Angelegenheiten können das Ausbleiben ent-schuldigen, wenn sie unaufschiebbar oder von solcher Bedeutung sind, daß dem Angeklagten das Erscheinen billigerweise nicht zugemutet werden kann und die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung ausnahmsweise zurücktreten muß (OLG Düsseldorf VRS 64, 438; Kleinknecht/Meyer a.a.O. § 329 Rdn. 28 m. w. N.), so z. B. wenn ein Angeklag-ter sich verpflichtet fühlt, sich nach dem Tod eines nahen Angehörigen um die Beerdigungs-formalitäten zu kümmern, und deshalb einige Tage verreisen muß (Senatsentscheidung vom 11.10.1989 - Ss 512/89). Nichts anderes kann gelten, wenn ein Angeklagter sich aus religiö-sen Gründen verpflichtet fühlt, an dem Ter-minstag der Verhandlung fern zu bleiben. Dies folgt schon zwingend aus Art. 4 Abs. 1 GG. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit schließt aus, Betätigungen und Verhaltensweisen, die aus ei-ner bestimmten Glaubenshaltung fließen, ohne weiteres den Sanktionen zu unterwerfen, die der Staat für ein solches Verhalten - unabhän-gig von seiner glaubensmäßigen Motivierung - vorsieht (BVerfGE 32, 98, 108). Die sich aus Art. 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht aller öf-fentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeu-gung in weitesten Grenzen zu respektieren, muß zu einem Zurückweichen des Strafrechts jeden-falls dann führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubens-gebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber die kriminelle Bestra-fung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschen-würde verletzende soziale Reaktion darstellen würde (BVerfGE 32, 98, 109). Diese Grundsätze haben nicht nur bei der Auslegung und Anwen-dung von Straftatbeständen zu gelten, sondern auch im Rahmen des § 329 StPO. Die Verwerfung einer Berufung nach § 329 StPO ist zwar kei-ne Strafsanktion, sie führt aber dazu, daß eine sachliche Prüfung des erstinstanzlichen Urteils unterbleibt und im Ergebnis die dort ausgesprochene Verurteilung aufrechterhalten wird.
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Davon, daß religiöse Gründe das Ausbleiben in der Hauptverhandlung entschuldigen kön-nen, ist auch das Landgericht ausgegangen. Wie die Revision ordnungsgemäß und zutreffend vorgetragen hat, gibt das Urteil allerdings den Inhalt der Bescheinigungen der jüdischen Gemeinden falsch wieder. Diese Bescheinigungen enthalten nicht die Einschränkung, daß nur ein "gläubiger" Jude am jüdischen Neujahrsfest an einem Gerichtstermin nicht teilnehmen darf. Die Bescheinigungen ergeben vielmehr, daß nach der jüdischen Religion eine Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung allgemein verboten ist. Auf diesem Verstoß gegen § 261 StPO (vgl. Kleinknecht/Meyer a.a.O. § 261 Rdn. 38) beruht das Urteil aber nicht, da das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat, daß dieses religiöse Verbot als Entschuldigungsgrund für das Ausbleiben nur dann anerkannt werden kann, wenn ein Angeklagter gläubiger und praktizie-render Jude ist. Die Gebote einer Religion können das Fernbleiben eines Angeklagten nur dann entschuldigen, wenn er nicht nur formell, sondern auch gläubiges und praktizierendes Mitglied der entsprechenden Religionsgemein-schaft ist. Ein nicht gläubiges Mitglied einer Religionsgemeinschaft befindet sich bei einem Verstoß gegen Verhaltensnormen seiner Religion nicht in einem seelischen Konflikt, der es rechtfertigen würde, das Interesse des Staates an der zügigen Durchführung des Strafverfah-rens und die sich daraus ergebende öffentlich rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zurückzustellen. Demjenigen, der sich auch sonst nicht an die Gebote sei-ner Religion hält, kann billigerweise zugemu-tet werden, an einer Hauptverhandlung teilzu-nehmen.
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Gleichwohl kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
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Nur die bestimmte Feststellung, nicht der bloße Verdacht, daß die Entschuldigung un-wahr ist, läßt sie als ungenügend erscheinen (Kleinknecht/Meyer a.a.O. § 329 Rdn. 22; KK-Ruß, StPO, 2. Aufl., § 329 Rdn. 8; Gollwit-zer in Löwe-Rosenberg StPO, 24. Aufl., § 329 Rdn. 29 - jeweils m. w. N.). Ist und bleibt zweifelhaft, ob ein Angeklagter genügend ent-schuldigt ist, sind die Voraussetzungen einer Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO nicht gegeben (BayObLG bei Bär/DAR 1989, 370; OLG Düsseldorf Strafverteidiger 1987, 9, 10; VRS 71, 292, 293; ständige Senatsrechtsspre-chung vgl. Senatsentscheidung Strafverteidiger 1989, 53 = VRS 75, 113 und Senatsentscheidung vom 09.10.1992 - Ss 433/92 - sowie Senatsent-scheidung VRS 83, 444 zu § 74 OWiG; Klein-knecht/Meyer a.a.O. § 329 Rdn. 22 m. w. N.). Bestehen Zweifel, ob dem Angeklagten das Er-scheinen in der Hauptverhandlung zumutbar ist, muß das Gericht von Amts wegen sich die volle Überzeugung verschaffen, daß Entschuldigungs-gründe nicht vorliegen (OLG Braunschweig NStE § 329 StPO Nr. 3). Verbleibende Zweifel dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (OLG Frankfurt NStE § 329 StPO Nr. 4; Senatsent-scheidung Strafverteidiger 1989, 53 = VRS 75, 113).
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Gegen diese Grundsätze hat das Landgericht verstoßen. Es hat nicht festgestellt, daß der Angeklagte kein gläubiger und praktizierender Jude ist und ihm deswegen das Erscheinen in der Hauptverhandlung trotz des jüdischen Neu-jahrsfest zumutbar war. Das Landgericht hat insoweit nur Zweifel geäußert, die aber nicht zu Lasten des Angeklagten gehen durften. Auch der Umstand, daß die Klärung der Frage, ob jemand gläubiges und praktizierendes Mitglied einer Religionsgemeinschaft ist, schwierig ist, weil es im wesentlichen um die subjektive Einstellung zur Religion geht, schränkt den Grundsatz nicht ein, daß die Berufung nur verworfen werden darf, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, daß der Angeklagte un-entschuldigt fernblieb, also in einem Fall wie dem vorliegenden aus Gründen seiner religiösen Überzeugung nicht gehindert war, zum Termin zu erscheinen. Unter diesen Umständen durfte das Landgericht die Berufung des Angeklagten nicht nach § 329 StPO verwerfen.
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