Urteil vom Oberlandesgericht Köln - 5 U 246/94
T a t b e s t a n d
2Der Kläger wurde am 3. Juli 1970 im St. V.-Krankenhaus Düsseldorf, dessen Träger die Beklagte ist, geboren. Wegen anläßlich der Geburt erlittener Körperschäden nahm er die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch. Durch rechtskräftiges Urteil vom 30. Januar 1986 stellte das Oberlandesgericht Düsseldorf fest, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen in Zukunft entstehenden Vermögensschaden zu ersetzen, der diesem als Folge der Geburtsschädigung (Fraktur des Scheitelbeins rechts mit extremer Abhebung des Knochenstücks, Dura-Verletzung und Blutung ins Gehirn) noch entstehen wird (8 U 211/84 OLG Düsseldorf).
3Der Kläger verlangt nunmehr Ersatz des ihm seit Geburt entstandenen materiellen Schadens. Wegen der Einzelheiten wird auf die Darstellung im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen. Er hat beantragt,
4die Beklagte zu verurteilen, an ihn 340.701,50 DM nebst 4 % Zinsen aus 271.191,-- DM seit dem 1. August 1986, aus 44.114,30 DM seit dem 1. Juli 1988 sowie aus 25.396,20 DM seit dem 1. Februar 1989 zu zahlen.
5Die Beklagte hat beantragt,
6die Klage abzuweisen.
7Sie hat die Auffassung vertreten, die berechtigten Ansprüche durch Zahlung von insgesamt 170.000,-- DM befriedigt zu haben. Im übrigen ist sie den Forderungen entgegengetreten.
8Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von insgesamt 62.397,14 DM nebst Zinsen verurteilt und die weitergehende Klage abgewiesen. Dagegen wenden sich beide Parteien mit der Berufung.
9Der Kläger verlangt angemessenen Schadensersatz dafür, daß er aufgrund medizinischer Notwendigkeit in der Zeit vom 28. September 1970 bis 31. Dezember 1988 von seiner Mutter unter Anleitung einer Krankengymnastin nach der Methode Vojta täglich beturnt worden sei. Seine Mutter habe dafür insgesamt 6512 Stunden aufgewendet. Die vom Landgericht dafür in Ansatz gebrachte Entschädigung entsprechend einer Vergütung nach BAT V c (insgesamt 72.508,-- DM abzüglich gezahlter 52.200,-- DM) sei zu gering. Der Marktwert dieser Leistungen sei daran zu messen, was die Beklagte für eine Krankengymnastin hätte aufwenden müssen. Er beantragt,
10unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten und teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils, die Beklagte zu verurteilen, an ihn wegen der von seiner Mutter in der Zeit vom 28.09.1970 bis 31.12.1988 durchgeführten Beturnung nach der Methode Vojta (insgesamt 6.512 Stunden) einen Schadensersatzbetrag zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, und zwar nebst 4 % Zinsen seit dem 31. Dezember 1988 jedoch unter Abzug vorprozessual gezahlter 52.200,-- DM und im angefochtenen Urteil zuerkannter 20.308,-- DM, hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 253.092,-- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 31. Dezember 1988 zu zahlen.
11Die Beklagte beantragt,
12die Berufung des Klägers zurückzuweisen und die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils vollständig abzuweisen.
13Sie meint, die Klage sei abzuweisen, soweit Ansprüche für den Zeitraum vor Erlaß des Urteils des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 30. Januar 1986 geltend gemacht würden, weil der Kläger sich zur Rechtfertigung seiner Ansprüche lediglich auf dieses Urteil bezogen habe. Im übrigen seien deliktische Ansprüche verjährt, worauf er sich ausdrücklich berufe. Sie bestreitet, daß eine Beturnungsdauer von einer Stunde täglich bis Ende 1988 medizinisch notwendig gewesen und tatsächlich geleistet worden sei.
14Der vom Landgericht für die Zeit von 1972 bis Ende 1983 zugebilligte erhöhte Pflegeaufwand sei mit zwei Stunden täglich übersetzt. Der dafür in Ansatz gebrachte Stundensatz von 15,-- DM sei überhöht.
15Ferner bestreitet sie folgende vom Landgericht zuerkannte Schadensersatzforderungen nach Grund und Höhe: Pflegeaufwand für das Schneiden von Fuß- und Fingernägeln (1.872,-- DM). Dieser Aufwand sei im erhöhten Pflegeaufwand enthalten. Zeitaufwand der Mutter des Klägers für dessen Begleitung zum therapeutischen Reiten. Eine Begleitung sei allenfalls bis zum 10. Lebensjahr des Klägers erforderlich gewesen. Ein Aufwand von jeweils vier Stunden je Reitunterricht sei nicht dargetan. Die Vereinsbeiträge für das therapeutische Reiten seien nicht erstattungsfähig. Der Aufwand der Mutter für die Begleitung des Klägers zur Vorschule sei überhöht. Die Anschaffung von Turngeräten für 2.000,-- DM werde bestritten, desgleichen die Kosten für den Erwerb von Behindertenfahrkarten. Kosten der Eltern des Klägers für das Aufsuchen der Rechtsanwälte zwecks Information seien nicht erstattungsfähig. Kostenanteile für krankengymnastische Behandlungen in den Jahren 1989/1990 seien nicht dargetan, desgleichen nicht die Erforderlichkeit einer Rehabilitation in Bad G.
16Wegen aller Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze verwiesen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
18Die nach §§ 511, 511 a ZPO statthaften Berufungen sind form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 516, 518, 519 ZPO) und damit zulässig. In der Sache ist nur die Berufung der Beklagten teilweise gerechtfertigt.
19I. Berufung des Klägers: Dem Kläger steht wegen der von seiner Mutter für ihn zu Heilzwecken erbrachten Beturnung nach der Methode Vojta kein über das erstinstanzliche Erkenntnis hinausgehender Schadensersatzanspruch zu.
20Das Landgericht hat zutreffend dargelegt, daß die Beturnung nach Vojta als Heilungs- und Rehabilitationsmaßnahme nicht bloß Ausdruck von vermehrter elterlicher Zuwendung war, die selbst dann nicht ersatzfähig ist, wenn sie mit erheblichem Zeitaufwand verbunden ist (vgl. BGH NJW 1989, 766); sie stellte vielmehr eine besondere Art von zur Behebung und Linderung der in Folge der Fehlbehandlung entstandenen körperlichen Beeinträchtigung notwendiger Fürsorgeleistung dar, die in vergleichbarer Weise auch von einer fremden Hilfskraft hatte übernommen werden können, wenngleich möglicherweise nicht mit demselben positiven Effekt, so daß die Dienste der Mutter des Klägers objektivierbar und ,marktgerecht" erfaßbar und deshalb entschädigungspflichtig sind (vgl. BGH a.a.O.; VersR. 1978, 149).
21Bei der Bewertung der Dienstleistung darf freilich zum einen nicht außer Betracht gelassen werden, daß eine wesentliche Komponente der Übungen in der personalen Beziehung zwischen Mutter und Kind (fürsorgliche Zuwendung) besteht, die sich einer Kommerzialisierung entzieht und auch dann nicht Gegenstand eines Entgelts sein darf, wenn sie in besonderem Maße durch ein Schadensereignis veranlaßt worden ist und im Rahmen eines im übrigen entschädigungspflichtigen Zeitaufwands stattfindet; zum anderen ist zu beachten, daß es nicht - wie etwa bei einem Bereicherungsanspruch - darum geht, daß die Beklagte Aufwendungen ,herauszugeben" hat, die sie dadurch erspart hat, daß die tägliche Beturnung nicht durch eine (teure) Krankengymnastin durchgeführt worden ist. Es geht vielmehr um den Ausgleich des durch den Einsatz der Mutter konkret entstandenen Schadens, wobei allerdings der Umstand, daß die Mutter tatsächlich kein Entgelt beansprucht hat, den Schädiger nicht entlastet. Die Zubilligung von Schadensersatz darf aber auch nicht zu einer Bereicherung (letztlich auf seiten der Mutter) führen.
22An den dargelegten Kriterien gemessen, hat das Landgericht die Leistungen der Mutter zutreffend bewertet. Jene ist selbst examinierte Krankenschwester, ihre Leistungen hat der Sachverständige Dr. B. qualitativ einer Tätigkeit nach Vergütungsgruppe V c des BAT zugeordnet. Es wird deshalb dem Gedanken des billigen Schadensausgleichs am besten gerecht, die Leistungen solchermaßen einzuordnen und zu entschädigen.
23Das vom Landgericht auf dieser Grundlage zur Ermittlung der Entschädigung angestellte Rechenwerk ist nicht zu beanstanden. Da der Kläger dies auch nicht geltend macht, kann sich der Senat insoweit weitere Ausführungen ersparen (§ 543 Abs. 1 ZPO).
24II. Berufung der Beklagten: 1) Die Beklagte ist aus dem Gesichtspunkt der schuldhaften Vertragsverletzung verpflichtet, dem Kläger den durch die notwendige Beturnung nach der Methode Vojta entstandenen Schaden zu ersetzen. Dieser Anspruch ist, auch soweit vor Schluß der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf bereits entstanden, nicht verjährt, weil vertragliche Ansprüche erst in dreißig Jahren verjähren (§ 195 BGB). Die Haftungsgrundlage hat das Landgericht zutreffend dargestellt. Da die Beklagte im übrigen auch nicht in Abrede stellt, daß sie wegen einer im Zuge der Geburt des Klägers vorgekommenen Fehlbehandlung dem Grunde nach einstandspflichtig ist, kann sich der Senat weitere Ausführungen hierzu ersparen (§ 543 Abs. 1 ZPO).
252) Daß sich die Beturnung nicht in einer bloßen, einer Entschädigung nicht zugänglichen elterlichen Zuwendung erschöpfte, ist bereits oben dargetan.
263) Das Landgericht hat den Zeitaufwand für die Betreuung bis Ende 1988 mit Recht auf eine Stunde täglich bemessen. Die Notwendigkeit krankengymnastischer Übungen bis zu diesem Zeitpunkt steht nach dem Gutachten von Prof. M. vom 25. August 1992 außer Zweifel. Es mag der Beklagten zuzugeben sein, daß durch die Übungen nach der Methode Vojta mit Abschluß der hirnorganischen Entwicklung bei dem Kläger in dieser Hinsicht keine oder nur noch geringe positive Effekte erzielt werden konnten und mit Abschluß der Wachstumsphase auch die weitere Entwicklung der Gliedmaße davon unberührt blieb. Beim Kläger kommt aber hinzu, daß die Übungen auch der Verhinderung und Vorbeugung von Kontrakturen der Muskeln und Sehnen dienten und unter diesem Gesichtspunkt ständig und weiterhin erforderlich waren, wie Prof. Michalk hervorgehoben hat. Der Zeitaufwand für die Übungen mag in den ersten sechs Lebensjahren des Klägers eher über einer Stunde täglich (4 x täglich bis 20 Minuten) und danach etwas weniger betragen haben. Insgesamt ist indessen ein Mittelwert von einer Stunde angemessen, zumal Vor- und Nachbereitungszeiten hinzuzurechnen sind. Eine ,Abrechnung nach Minuten", die der Beklagten offenbar vorschwebt, erscheint im übrigen den Umständen nach gänzlich unsachgemäß.
274) Den Aufwand für vermehrten Pflegebedarf hat das Landgericht zwar nicht in Bezug auf den Zeitaufwand, aber doch in Ansehung der Entgelthöhe zu hoch bemessen.
28Das Landgericht hat den pflegerischen Mehraufwand für die Zeit von 1972 bis 1983 mit durchschnittlich zwei Stunden täglich angenommen. Das ist nicht zu beanstanden. Nach den Stellungnahmen des Kinderarztes Prof. W. vom 18. Juli 1979 und 19. Oktober 1983 war die Motorik des Klägers aufgrund der Hemispastik links, der daraus resultierenden Gangunsicherheit und der fast völligen Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes einschließlich der Hand schwerst gestört, so daß der Kläger die gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens nicht oder nur mit Hilfestellung Dritter auszuführen in der Lage war, was sich freilich mit zunehmendem Alter und als Folge intensiver Übung besserte. Dementsprechend hat Prof. Gl. den gesamten Pflegeaufwand einschließlich Gymnastikbetreuung, Transport und Begleitung bis zum 6. Lebensjahr des Klägers auf sechs Stunden täglich geschätzt, dann abnehmend auf ein bis zwei Stunden ab dem 10. Lebensjahr. Vor dem Hintergrund erscheint die Schätzung des Landgerichts als Mittelwert angemessen.
29Die Beklagte beanstandet freilich mit Recht den vom Landgericht in Ansatz gebrachten Stundensatz von durchgehend 15,00 DM. Wenngleich nicht zu verkennen ist, daß die Pflegeleistungen qualitativ nicht mit sonstigen einfachen häuslichen Dienstleistungen (Putzen oder ähnliches) gleichzusetzen sind und im Streitfall darüber hinaus von einer ,Fachkraft" erbracht worden sind, darf nicht unbeachtet bleiben, daß das Entgeltniveau in den 70ziger-Jahren deutlich unter diesem Betrag lag, wie sich aus der vom Landgericht herangezogenen Vergütungstabelle nach dem Bundesangestelltentarif ergibt. Dem Senat erscheint danach ein Mittelwert von 12,-- DM/Stunde angemessen. Bei einem Gesamtaufwand von 8760 Stunden ergibt sich somit ein Betrag von 105.120,-- DM, auf den die Beklagte bereits 80.000,-- DM geleistet hat und von dem desweiteren das von der Stadt Düsseldorf gezahlte Pflegegeld von 24.589,-- DM abzuziehen ist, so daß noch ein Betrag von 531,-- DM von der Beklagten geschuldet wird (statt 26.811,-- DM wie vom Landgericht zuerkannt).
305) Soweit sich die Beklagte gegen die vom Landgericht zuerkannte Entschädigung für die von der Mutter des Klägers geleistete Pflege von Fuß- und Fingernägeln (1.872,-- DM) wendet, gehen ihre Angriffe fehl. Die Entschädigung betrifft den Zeitraum von 1988 bis 1993 und kann deshalb nicht von dem oben unter Ziffer 4) abgehandelten Pflegemehraufwand als mit abgegolten angesehen werden. Der Stundensatz von 12,-- DM ist gemessen am Einkommensniveau in dem genannten Zeitraum nicht überhöht.
316) Der Zeitaufwand für die Begleitung des Klägers zum therapeutischen Reiten ist ab Mitte 1982 nicht mehr entschädigungspflichtig, weil die Notwendigkeit nicht dargetan ist. Aus dem Gutachten von Prof. Gl. vom 13. Juni 1988 ergibt sich, daß der Kläger im Alter von 12 Jahren in der Lage war, selbständig öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Auf der Grundlage der im übrigen nicht zu beanstandenden Berechnung des Landgerichts ist somit ein Betrag von 3.360,-- DM abzuziehen (zwei Jahre x 42 Std. Reitunterricht x 4 Begleitstunden x 10,-- DM).
327) Im übrigen hält das angefochtene Urteil den Angriffen der Berufung stand. Das Landgericht hat den Betreuungsaufwand für die Begleitung des Klägers zur Vorschule zutreffend ermittelt, die Kostenschätzung für die Anschaffung von Hilfsmitteln zur Durchführung der gymnastischen Übungen hält sich im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessens (§ 287 ZPO). Gleiches gilt im Ergebnis für die Positionen ,Vereinsbeiträge" und ,Behindertenfahrkarten" sowie die Kostenpauschale von 177,- DM. Die Kosten für die krankengymnastische Behandlung in den Jahren 1989 und 1990 können ebenso erstattet verlangt werden wie der vom Kläger zu tragende Anteil an den Kosten des Aufenthaltes in der Rehabilitationsklinik Bad G.. Der Zusammenhang mit der Körperschädigung ist evident.
33Die Zinsentscheidung ist nicht selbständig angefochten.
34Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
35Wert der Beschwer: für den Kläger über, für die Beklagte unter 60.000,-- DM.
36Gegenstandswert des Berufungsverfahrens: insgesamt 315.489,14 DM.
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