Urteil vom Oberlandesgericht Köln - Ss 687/95 - 1 -
Tenor
1
G r ü n d e
2A.
3Das Amtsgericht - (erweitertes) Schöffengericht - Schleiden hat aufgrund der dort zugelassenen Anklage vom 24. Juni 1994 die Angeklagte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung zum Nachteil des 6-jährigen Schulkindes M.J. (geboren am 20. Juni 1987), dessen Eltern als Nebenkläger zugelassen worden sind, durch das am 13. Februar 1995 verkündete Urteil freigesprochen. Dagegen haben die Nebenkläger durch Schriftsatz ihrer Anwälte vom 20. Februar 1995, der am selben Tag beim Amtsgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt. Die 3. kleine Ferienstrafkammer des Landgerichts Aachen hat die Berufung der Nebenkläger durch Urteil vom 2. August 1995 verworfen. Sie hat im wesentlichen festgestellt:
4Am 19. November 1993 gegen 11.50 Uhr erreichte die Angeklagte als Fahrerin des Omnibusses Typ DB 307, der als Schulbus eingesetzt war, von einem Schulzentrum kommend auf ihrer üblichen Fahrtroute die Haltestelle H.-B., wo einige Schüler aussteigen bzw. in einen dort wartenden anderen Bus umsteigen mußten. Das Fahrzeug der Angeklagten war mit Schülern verschiedener Altersstufen (6-17 Jahre besetzt; es herrschte ein hoher Lärmpegel. Die Angeklagte brachte ihr Fahrzeug links neben dem Umsteigebus - etwa 1,5 m bis 2m nach vorn versetzt - zum Stehen. Der Seitenabstand zwischen beiden Bussen betrug ebenfalls 1,5 m bis 2 m. Anschließend öffnete sie per Knopfdruck die an der rechten Fahrzeugseite gelegenen beiden Türen. Mehrere Schüler stiegen aus, darunter der 6-jährige M.J., der die Vordertür benutzte. Diese befindet sich in Höhe des Fahrersitzes. Die Fensteröffnungen der Türflügel enden ca. 1,19 m über dem Boden. Vom Mittelgang des Busses gelangt man über 3 Stufen nach draußen. M.J. stieg die Stufen hinunter und wollte nach hinten zum Umsteigebus gehen. Beim Aussteigen blieb er auf Höhe der zweiten Stufe mit einer als Feststeller der Saumkordel seines Anoraks dienenden Kugel von 2 cm Durchmesser zwischen dem Drehstab der Tür und der Verkleidung hängen. Da auch am anderen Ende der Saumschnur eine solche Kugel befestigt war, saß der Junge mit dem Anorak fest. Als die Angeklagte im vorderen Türausschnitt niemanden mehr sah, wandte sie sich zur hinteren Tür um und blickte dann in den rechten Außenspiegel, der die Sicht auf die rechte Längsseite des Busses beginnend mit der Vorderachse freigibt mit Ausnahme eines Bereichs von ca. 1 m Breite zwischen Vordertür und -achse. Da sie im rechtem Außenspiegel niemanden mehr wahrnahm, kontrollierte sie im linken Außenspiegel die Verkehrslage und fuhr langsam an. Dabei warf sie über den rechten Außenspiegel einen kurzen Blick auf den vorher im "toten Winkel" gelegenen Straßenbereich. Die im Bus der Angeklagten verbliebenen 20 bis 30 Schüler verursachten noch immer beträchtlichen Lärm. In diesem Augenblick bemerkte der Führer des Umsteigebusses, der Zeuge B., von seinem Fahrersitz aus, wie M.J. an der Anorakkordel zerrte und dann etwa 2 bis 3 Sekunden neben dem anfahrenden Bus in leicht gebückter Haltung herlief. B. hupte zweimal, um die Angeklagte auf die Situation aufmerksam zu machen. Auch die im Bus der Angeklagten rechts am Fenster sitzende Zeugin H. bemerkte den nebenherlaufenden Jungen und rief: "B., halt an!" Wegen des Lärms in ihrem Bus hörte die Angeklagte jedoch weder das Hupen noch den Zuruf. Als der Bus ausgangs des Wendehammers eine leichte Rechtskurve fuhr, stolperte M.J., geriet erst unter das rechte Vorderrad, wurde sodann von den hinteren Rädern überrollt und war auf der Stelle tot. Die Angeklagte bemerkte, daß sie etwas überfahren hatte, und hielt an. Der Bus kam ca. 25 m hinter der Endlage des Kindes zum Stehen.
5Die Strafkammer hat angenommen, es sei nicht auszuschließen und in der gegebenen Situation sogar naheliegend, daß die Angeklagte entsprechend ihrer Einlassung die akustischen Warnsignale und den Warnruf nicht wahrgenommen habe. Nach dem Beweisergebnis, insbesondere der Darstellung des Sachverständigen, sei ebensowenig ausgeschlossen, daß sich die Vorgänge außerhalb des Sichtfeldes der Angeklagten abgespielt haben. Die durch das Zusammenschieben des Saumes beim Weggehen hervorgetretene Anorakkordel sei so lang und so weit unter dem Dreharm der Tür verklemmt gewesen, daß die Angeklagte nach dem Aussteigen des Kindes möglicherweise weder dieses selbst noch die festhängende Kordel von ihrem Sitz aus durch die geöffnete Tür habe sehen können, weil M. sich gegebenenfalls gerade im Bereich des "toten Winkels" aufgehalten habe. Auch durch den Kontrollblick beim Anfahren habe sie den Jungen nicht bemerken können, weil er in gebückter Haltung mitgelaufen sei, dadurch den "toten Winkel" nicht verlassen habe und zudem wegen seiner geringen Körpergröße durch die Scheiben der Vordertür nicht sichtbar gewesen sei.
6Nach Auffassung der Strafkammer ist der Angeklagten unter diesen Umständen keine Verletzung der Sorgfaltspflicht anzulasten. Sie habe als Fahrerin eines Schulbusses selbst bei Anlegung strenger Maßstäbe alles getan, was erforderlich und zumutbar gewesen sei, um die ihr anvertrauten Schulkinder vor den mit dem Bustransport verbundenen besonderen Gefahren, namentlich an Haltestellen, zu schützen. Dagegen sei die Angeklagte nicht verpflichtet gewesen, von ihrem Sitz aufzustehen und durchs Seitenfenster den Bereich einzusehen, der im "toten Winkel" lag. Das könne zwar verlangt werden, wenn der Bereich vor dem Bus nicht eingesehen werden könne (vgl. BayObLG VRS 37, 269) oder spielende Kinder sich in unmittelbarer Nähe des Busses aufhielten (OLG Oldenburg VRS 56, 442), nicht aber in einer Situation, die weitaus weniger Risikopotential enthalte und nur durch die Verkettung außerordentlich unglücklicher Umstände zu dem Unfall geführt habe.
7Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision der Nebenkläger mit der Sachrüge. Sie beanstanden die Rechtsauffassung des Landgerichts und machen geltend, die Angeklagte hätte sich durch das Beobachten des Ausstiegsvorgangs der Kinder vergewissern müssen, daß sich niemand mehr im Gefahrenbereich des "toten Winkels" befinde. Sie müsse die Kinder, die vorn aussteigen, so lange im Auge behalten, bis sie aus dem "toten Winkel" wieder hervorkämen. Daß sie dies unterlassen habe, stelle ihre Sorgfaltspflichtverletzung dar.
8Demgegenüber haben sowohl die Angeklagte als auch die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision der Nebenkläger als unbegründet zu verwerfen. Sie halten das Berufungsurteil für rechtsfehlerfrei.
9B.
10Das Rechtsmittel der Nebenkläger ist begründet. Es führt aufgrund der Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Verweisung der Sache an den Strafrichter beim Amtsgericht Schleiden (§§ 353, 355 StPO).
11I.
12Die Revision muß schon deshalb (vorläufigen) Erfolg haben, weil das Schöffengericht Schleiden seine sachliche Zuständigkeit zu Unrecht, und zwar (objektiv) willkürlich, bejaht hat. Insoweit ist auf die zur Veröffentlichung vorgesehene Senatsentscheidung vom 1. Dezember 1995 - Ss 482/95 - und die dort zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH NJW 1994, 2369 = NStZ 1994, 377 = StV 1994, 414) und anderer Oberlandesgerichte (vgl. OLG Düsseldorf StV 1995, 238; JMBlNW 1996, 47; NStZ-RR 1996, 41; OLG Oldenburg MDR 1994, 1139; OLG Hamm StV 1995, 182) zu verweisen. Danach gilt: Die fehlende sachliche Zuständigkeit ist als Prozeßhindernis unabhängig davon, ob eine entsprechende Verfahrensrüge erhoben wurde, in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten. Das Revisionsgericht hat daher von Amts wegen zu prüfen, ob die Gerichte der vorangehenden Rechtszüge zuständig waren. Diese Prüfung muß also trotz des zwischenzeitlich ergangenen Berufungsurteils die sachliche Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts einbeziehen. Zwar darf sich nach § 269 StPO ein Gericht nicht für unzuständig erklären, weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehört. Das gilt jedoch dann nicht, wenn das Gericht höherer Ordnung seine Zuständigkeit (objektiv) willkürlich annimmt. Dann verstößt es gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und entzieht den Angeklagten seinem gesetzlichen Richter. Es ist offenkundig, daß das Schöffengericht für die im vorliegenden Fall erhobene Anklage sachlich nicht zuständig war. Strafrichter und Schöffengericht sind Gerichte verschiedener Ordnung. Das Schöffengericht ist nur zuständig, wenn nicht die Zuständigkeit des Strafrichters nach § 25 GVG gegeben ist. § 25 Nr. 2 GVG n.F. (BGBl. von 1993 I S. 50) bestimmt ohne Einschränkung, daß der Richter beim Amtsgerichts als Strafrichter bei Vergehen entscheidet, wenn eine höhere Strafe als Freiheitsstrafe von zwei Jahren nicht zu erwarten ist. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage, bei der die Zuständigkeit des Strafrichters ferner davon abhing, ob die Staatsanwaltschaft die Sache als eine solche von minderer Bedeutung ansah (vgl. BVerfGE 22, 254), kommt es hierauf nun nicht mehr an. Vielmehr bestimmt sich die Zuständigkeit des Strafrichters fortan allein nach der Straferwartung (vgl. auch: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl., § 25 GVG Rn. 3). Deshalb liegt es hier ohne weiteres auf der Hand, daß eine sachliche Zuständigkeit des (erweiterten) Schöffengerichts für die erhobene Anklage nicht gegeben war. Selbst wenn man davon ausgeht, daß eine zur Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung hinreichende Sorgfaltspflichtverletzung gegeben ist, bewegt sich angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles die konkrete Straferwartung bei der nicht vorbelasteten Angeklagten im Bereich einer Geldstrafe oder äußerstenfalls einer geringen Freiheitsstrafe von deutlich weniger als einem Jahr und damit ohne jeden Zweifel unterhalt der Grenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe. Soweit das Schöffengericht gleichwohl und entgegen § 25 Nr. 2 GVG n.F. seine Zuständigkeit bejaht hat, handelte es (objektiv) willkürlich. Objektive Willkür liegt nämlich vor, wenn die Entscheidung auf Erwägungen beruht, die sich von den gesetzlichen Maßstäben völlig entfernen und unter keinem Gesichtspunkt mehr vertretbar erscheinen. Davon ist hier auszugehen. Als es seine Zuständigkeit bejahte, ist das Schöffengericht nicht nur einem die (objektive) Willkür ausschließenden Irrtum in Bezug auf die konkrete Straferwartung erlegen, der nur nachvollziehbar wäre, wenn sich die Straferwartung zumindest deutlich in dem Bereich von Freiheitsstrafe zwischen einem Jahr und zwei Jahren bewegen würde (vgl. SenE vom 23.02.1996 - Ss 74/96 -), sondern es hat sich über den eindeutigen Willen des Gesetzgebers, Fälle kleinerer und mittlerer Kriminalität dem Strafrichter zuzuweisen, hinweggesetzt. Das von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernis der sachlichen Unzuständigkeit des (erweiterten) Schöffengerichts hat zur Folge, daß das Verfahren unter Aufhebung des angefochtenen Urteils geäß § 355 StPO an das zuständige Gericht zu verweisen ist. Das ist hier der Strafrichter beim Amtsgericht Schleiden.
13II.
14Abgesehen davon ist das Berufungsurteil nicht frei von Rechtsfehlern. Soweit die Strafkammer davon ausgeht, die Angeklagte habe ihren Sorgfaltspflichten in jeder Hinsicht genügt, hält die Entscheidung der materiell-rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
15Nach § 222 StGB macht sich strafbar, wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht.
16Indem die Angeklagte mit dem Bus anfuhr, obwohl M.J. mit der Kordel seines Anoraks im Türgestänge festsaß, hat sie den tatbestandsmäßigen Erfolg - den Tod des Jungen - mitverursacht. Ohne das Anfahren des Busses hätte das Kind nicht nebenherlaufen müssen, wäre nicht zu Fall gekommen und hätte nicht überrollt werden können.
17Die Annahme der Strafkammer, die Angeklagte habe beim Anfahren keine Sorgfaltspflichten verletzt, beruht auf lückenhaften Erwägungen. Das Maß der zu beachtenden Sorgfalt richtet sich nach den Anforderungen, die an einen einsichtigen und besonnenen Menschen in der konkreten Lage des Täters zu stellen sind (vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl., § 15 Rn. 16; § 222 Rn. 8; jeweils m.w.N.). Sicher ist, daß der Busfahrer vor der Abfahrt von einer Haltestelle kontrollieren muß, ob sich an der Türseite niemand mehr aufhält, der durch das Anfahren gefährdet werden könnte. Diese Verpflichtung folgt schon aus dem Erfahrungssatz, daß häufig Nachzügler den abfahrbereiten Bus noch im letzten Augenblick erreichen wollen und dabei nahe an das Fahrzeug herantreten, um sich bemerkbar zu machen und den Fahrer zum erneuten Öffnen der Tür zu bewegen. Außerdem sind die an einer Haltestelle Wartenden nach aller Erfahrung weniger auf Verkehrsvorgänge konzentriert und neigen oft dazu, sich dem haltenden Verkehrsmittel derart zu nähern, daß sie durch seine plötzliche Abfahrt gefährdet werden können. Läßt sich die Türseite des Busses insgesamt durch Spiegel überblicken, so genügt der Busfahrer seiner Kontrollpflicht, wenn er sich unmittelbar vor der Abfahrt vergewissert, daß dort niemandem Gefahr droht. Deckt jedoch - wie hier - der rechte Außenspiegel nicht den ganzen Bereich ab, sondern bleibt ein "toter Winkel" übrig, d.h. eine Stelle, die über den Spiegel nicht eingesehen werden kann, so obliegen dem Busfahrer nach Überzeugung des Senats weitergehende Sorgfaltspflichten, um die Kontrolle auf den im Spiegel nicht sichtbaren Bereich zu erstrecken. Die Strafkammer hat das verneint. Sie hält es für unzumutbar zu verlangen, daß sich der Busfahrer von seinem Sitz erheben, zur Türseite gehen und dort nachschauen solle, zumal sich die Lage bis zu seiner Rückkehr auf den Fahrersitz wieder geändert haben könne. Anders sei es im Anschluß an die Rechtsprechung (vgl. BayObLG; OLG Oldenburg a.a.O.) nur zu bewerten, wenn der zu durchfahrende Raum nicht überblickt werden könne oder wenn der Busfahrer mit der Anwesenheit spielender oder tobender Kinder an der Seite des Busses rechnen müsse, was hier nicht der Fall gewesen sei. Diese Erwägungen sind unvollständig. Das Maß der Sorgfalt muß nach den konkreten Gegebenheiten bestimmt werden. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Fahrgäste der Angeklagten im Alter von 6 bis 17 Jahren waren und daß im Bus den Feststellungen zufolge eine hoher Lärmpegel herrschte. Zwar braucht man bei Schulkindern nicht generell und von vornherein mit unbedachtem, unbesonnenen Verhalten zu rechnen (vgl. Jagusch/Hentschel, StVR, 33. Aufl., § 25 StVO Rn. 27 m.w.N.), muß sich jedoch stets bewußt sein, daß auch sie in ihrem Verhalten oft unberechenbar sind. Das gilt um so mehr, je jünger sie sind. Deshalb muß das verkehrsrelevante gerade der jüngeren Schulkinder, namentlich der Erstklässler, aufmerksam beobachtet werden. Dementsprechend ist anerkannt, daß gegenüber Kindern bis zu einem Alter von etwa 7 Jahren besondere Sorgfaltspflichten bestehen, weil bei ihnen stets mit unüberlegten Handlungen zu rechnen ist (vgl. BGH VRS 35, 113; 45, 356; Senat VRS 70, 373, 375 m.w.N.). Dies gilt nicht nur allgemein im Straßenverkehr, sondern auch für die Sorgfaltspflichten von Busfahrern gegenüber mitfahrenden Kindern und namentlich dann, wenn äußere Umstände (z.B. Lärm) den Fahrzeugführer unfähig machen, etwaige Warnsignale wahrzunehmen. Beim Bustransport hat sich die dem Busfahrer obliegende Beobachtungspflicht insbesondere auf die Ausstiegsphase, bei der es oft zu Drängeleien kommt, zu erstrecken. Wird das Gehör des Busfahrers zudem durch erheblichen Lärm, den die Schüler im Fahrzeug veranstalten, derart beeinträchtigt, daß er für akustische Warnsignale, die ihm den Eintritt einer Gefahrenlage anzeigen könnten, nicht mehr erreichbar ist und kann er dem Lärm nicht mit zumutbaren Maßnahmen begegnen, so erhöht sich seine Sorgfaltspflicht bei der Beobachtung des Aussteigevorgangs. Angesichts der festgestellten Umstände kann die Sorgfaltspflichtverletzung der Angeklagten gerade darin gesehen werden, daß sie sich nicht durch Beobachtung von ihrem Sitz aus über den rechten Außenspiegel davon überzeugt hat, daß alle Personen, die an der Vordertür ausgestiegen waren (der Bereich der hinteren Tür hat keinen "toten Winkel" und ist lückenlos einzusehen), sich auch nach hinten, wo der Umsteigebus wartete, von ihrem Fahrzeug entfernt hatten. Dafür wäre das vom Landgericht für unzumutbar gehaltene Aufstehen vom Fahrersitz nicht erforderlich gewesen, es hätte nur der kontinuierlichen Beobachtung der an der Vordertür Aussteigenden bis zu ihrem Heraustreten aus dem "toten Winkel" bedurft. Diese Absicherung wäre notwendig und zumutbar gewesen. Gerade bei jüngeren Schulkindern kommt es erfahrungsgemäß nicht selten vor, daß sie beim Aussteigen irgendwelche Gegenstände in der Hand halten, die ihnen, weil ihre Bewegungen noch nicht genügend koordiniert sind, herabfallen und dabei unter den Bus geraten können. In dem Bestreben, das verlorene Teil wiederzuerlangen, achten Kinder im Alter des getöteten M.J. in der Regel nicht auf die ihnen beim Anfahren des Busses drohenden Gefahren, weil das Denken in Ursachenzusammenhängen noch nicht hinreichend ausgeprägt ist, wie das Beispiel des Kindes, das hinter seinen Ball her auf die Fahrbahn läuft, zeigt. Busfahrer, die Schulkinder aller Altersstufen transportieren, müssen mit solchen Fehlreaktionen rechnen und sind daher regelmäßig gehalten, durch entsprechenden Beobachtungsaufwand sicherzustellen, daß aussteigende jüngere Kinder den Gefahrenbereich des "toten Winkels" an der Türseite des Busses passiert haben und nicht dort verblieben sind.
18Die Strafkammer hat hiernach eine Sorgfaltspflichtverletzung mit unzutreffenden Erwägungen verneint. Ob der tödliche Unfall vermieden worden wäre, wenn die Angeklagte diese Sorgfaltsanforderungen beachtet hätte, muß der Tatrichter entscheiden. Insoweit enthält das angefochtene Urteil keine Feststellungen, weil es nach der Rechtsauffassung des Landgerichts, auf diese Frage nicht ankam.
19Selbst wenn man - wie das Landgericht - davon ausgehen wollte, die Angeklagte habe beim Anfahren keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen, ist das Urteil unvollständig. Ihre Auffassung, im Unterlassen des sofortigen Anhaltens nach den Hupsignalen des Zeugen B. liege keine Pflichtverletzung der Angeklagten, stützt die Strafkammer darauf, bei dem von den Schülern verursachten Lärm im Bus habe sie die Signale ebensowenig vernehmen können wie den Warnruf der Zeugin H.. Es fehlen indes nachprüfbare Angaben dazu, wie die Strafkammer zu dieser Überzeugung gelangt ist. Weshalb es naheliegen soll, daß sogar die Hupsignale eines den Feststellungen zufolge nur einige Meter entfernten Busses nicht in der Lage gewesen seien, den Lärm zu übertönen, ist nicht nachvollziehbar. Daß sich die Strafkammer in diesem Punkt der Hilfe eines Sachverständigen bedient hat, der den Schallpegel der Hupe hätte ermitteln und gegebenenfalls Vergleiche mit der anderen Lärmquelle hätte anstellen können, geht aus dem Urteil nicht hervor. Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe die Hupsignale nicht hören können, beruht daher allein auf Vermutungen. Sollte sich herausstellen, daß die Angeklagte die Hupsignale hätte hören können und müssen, wäre sie unter den gegebenen Umständen verpflichtet gewesen, auch die Möglichkeit in ihre Überlegungen einzubeziehen, daß die Gefahr, auf die das Hupen möglicherweise hindeutete, von ihrem Bus ausgehen könnte. Deswegen hätte sie vorsorglich abbremsen müssen. Ein vorwerfbares Fehlverhalten könnte deshalb darin liegen, daß die Angeklagte mangels der gebotenen Aufmerksamkeit das Hupen ihres Kollegen nicht wahrgenommen und nicht entsprechend reagiert hat. Ob durch eine sofortige Reaktion der Unfall zu vermeiden gewesen wäre, muß, sofern es auf diesen Gesichtspunkt ankommen sollte, ebenfalls in der neuen Hauptverhandlung geklärt werden.
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