Beschluss vom Oberlandesgericht Köln - Ss 537/00 (B) 223 B
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen.
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G r ü n d e :
2Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß § 37 Abs. 2 StVO zu einer Geldbuße von 250,00 DM verurteilt und für die Dauer eines Monats ein Fahrverbot angeordnet. Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
3"Der Betroffene befuhr am 21.12.1999 um 17.28 Uhr in Köln-Lindentahl die H.-S.-Straße in Richtung stadteinwärts. An der Kreuzung zur B. Straße befolgte er nicht der Lichtzeichenanlage. Die Rotphase dauerte bereits länger als eine Sekunde. Der Betroffene war dabei unterwegs mit dem Fahrzeug BMW, amtliches Kennzeichen xx-xx xxx."
4Das Amtsgericht hat seine Feststellungen auf die Aussagen der Polizeibeamten W. und T. gestützt, die zur Tatzeit eine gezielte Rotlichtkontrolle durchgeführt haben. Die Aussagen dieser beiden Zeugen werden im Urteil wie folgt wiedergegeben:
5"Es sei zutreffend, dass ein Fahrzeug vor dem Betroffenen die fragliche Ampel passiert habe, und zwar auch schon bei Rot. Sie hätten erst dieses eine Fahrzeug anhalten wollen, bei dessen Überquerung der Haltelinie die Rotphase ungefähr eine Sekunde angedauert habe. Dann hätten sie jedoch festgestellt, dass der Betroffene anschließend ebenfalls noch bei Rot über die Haltelinie gefahren sei, und zwar ein deutliches Stück -hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug. Da sie nicht beide Fahrzeuge hätten anhalten können, hätten sie sich für das nachfolgende Fahrzeug, nämlich das des Betroffenen entschieden, da dies der gravierendere Rotlichtverstoß gewesen sei. Der Zeuge W. hat weiterhin erklärt, der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen sei etwa eine Wagenlänge gewesen. Das erste Fahrzeug sei ein Grenzfall gewesen, von einer Sekunde bzw. knapp etwas darüber. Der Betroffene sei jedoch definitiv über die Haltelinie gefahren, als die Ampel länger als eine Sekunde Rot gehabt habe."
6Mit der Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird Verletzung materiellen Rechts gerügt.
7Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ist materiell-rechtlich unvollständig und ermöglicht dem Rechtsbeschwerdegericht nicht die Überprüfung, ob das Amtsgericht rechtsfehlerfrei von einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 StVG) ausgegangen ist. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe kann entnommen werden, dass das Amtsgericht den Tatbestand der laufenden Nr. 34.2 der BKatV angenommen hat, also einen Rotlichtverstoß "bei schon länger als einer Sekunde andauernden Rotphase eines Wechsellichtzeichens" seinem Rechtsfolgenausspruch zugrundegelegt hat. Bei diesem Tatbestand sieht die BKatV eine Regelbuße von 250,00 DM und ein Regelfahrverbot von einem Monat vor, so dass nach § 2 Abs. 1 Satz 1 BKatV eine grobe Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG indiziert wird.
8In der Rechtsprechung ist inzwischen allgemein anerkannt, dass für die Berechnung der Rotlichtdauer grundsätzlich der Zeitpunkt maßgebend ist, in dem das Fahrzeug des Betroffenen die Haltelinie überfährt (BayObLG NZV 1994, 200; OLG Düsseldorf VRS 95, 133; 98, 225, 228; OLG Hamm DAR 1999, 226; Senatsentscheidungen NZV 1995, 327 = VRS 89, 470; NZV 1998, 297 = VRS 95, 136; NZV 1998, 472 = VRS 95, 424; VRS 98, 389). Es bedarf daher der Feststellung, wie lange das Rotlicht beim Überfahren der Haltelinie schon andauerte (Senatsentscheidungen NZV 1998, 472 = VRS 95, 424; VRS 98, 389). Für die Feststellung der Rotlichtdauer gilt das gleiche, was für alle Feststellungen gilt, die Grundlage einer Verurteilung geworden sind: Der Tatrichter muss für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbar darlegen, dass seine Überzeugung auf tragfähigen tatrichterlichen Erwägungen beruht (Senatsentscheidung VRS 80, 34); er verfehlt seine Beweiswürdigungsaufgabe, wenn er eine rechtserhebliche Feststellung nicht aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu legitimieren versucht (Senatsentscheidung VRS 82, 358). Es muss erkennbar sein, dass das Ergebnis der Bewertung nicht nur eine
9bloße Vermutung ist (BGH NStZ 1986, 373). Schlussfolgerungen dürfen sich nicht so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sie letztlich nicht mehr als einen schweren Verdacht begründen (BGH NStZ 1987, 473, 474; 1990, 501; Senatsentscheidung VRS 82, 358).
10Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere auch die Feststellung, dass das Rotlicht länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus dem Beweisergebnis hergeleitet werden (Senatsentscheidung NZV 1995, 327 = VRS 89, 470; Senatsentscheidung vom 12.02.1999 - Ss 613/98). Es bedarf der Darlegung, aufgrund welcher tatsächlichen Gegebenheiten und Berechnungen der Tatrichter zu dem Schluss gelangt ist, dass das Rotlicht im maßgeblichen Zeitpunkt bereits länger als eine Sekunde angedauert hat (KG DAR 1996, 503). Um die Zuverlässigkeit der Zeitermittlung eines Zeugen überprüfen zu können, bedarf es der Angabe, auf welchen Grundlagen sie beruht: nämlich ob er im Sekundentakt gezählt, ob er die Zeit aufgrund der Ampelphasen geschätzt oder aufgrund welcher sonstigen Umstände er sie ermittelt hat (OLG Düsseldorf VRS 96, 386; 97, 67). So rechtfertigt die Angabe des kontrollierenden Polizeibeamten, die Verkehrsampel habe "bereits ca. 2 Sekunden" oder "bereits ziemlich lange" Rotlicht gezeigt, nicht die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes, da die Annahme nahe liegt, dass solche Zeitangaben bloße Schätzungen sind (OLG Düsseldorf VRS 94, 369; vgl. auch OLG Düsseldorf VRS 95, 433) und bloße Schätzungen wegen zahlreicher Fehlermöglichkeiten zu ungenau sind, als dass hieran erschwerte Sanktionen geknüpft werden könnten (OLG Celle NZV 1994, 40). Die gefühlsmäßig geschätzte Zeitangabe eines Polizeibeamten ist daher nicht ausreichend (KG DAR 1996, 503). In Fällen der vorliegenden Art bedarf es grundsätzlich einer Darlegung tatsächlicher Anhaltspunkte, die eine Überprüfung der Schätzung auf ihre Zuverlässigkeit zulassen - z.B. der Geschwindigkeit des Betroffenen und seine Entfernung von der Ampelanlage bei Lichtwechsel auf Rot - oder zumindest der Beschreibung eines während der Rotlichtdauer abgelaufenen, zeitlich eingrenzbaren Vorgangs, an dem sich der Zeuge bei seiner Schätzung orientiert hat (OLG Düsseldorf VRS 95, 439; vgl. auch KG DAR 1996, 503).
11Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Fall nicht nachvollziehbar, wie das Amtsgericht zu seiner Überzeugung gelangt ist, der Betroffene habe bei schon länger als einer Sekunde andauernden Rotphase die Haltelinie überfahren. Dass die Polizeibeamten die Dauer der Rotphase gemessen (vgl. OLG Düsseldorf DAR 2000, 579 = VRS 99, 294) oder durch Mitzählen ("21, 22, 23" - vgl. hierzu OLG Brandenburg DAR 1999, 512; OLG Düsseldorf VRS 93, 462; NZV 2000, 134 = VRS 98, 225; Senatsentscheidung vom 08.05.1998 - Ss 155/98 B) ermittelt haben, wird nicht mitgeteilt. Offenbar sind die Polizeibeamten zu dem Schluss, der Betroffene sei über die Haltelinie gefahren, als die Ampel länger als eine Sekunde Rot gehabt habe, aufgrund des Umstands gelangt, dass zuvor schon ein anderes Fahrzeug bei Rot über die Haltelinie gefahren ist.
12Von einem qualifizierten Rotlichtverstoß wäre zwar ohne weiteres auszugehen, wenn rechtsfehlerfrei festgestellt wäre, dass das vorausfahrende Fahrzeug die Haltelinie überfuhr, als die Rotphase schon länger als eine Sekunde andauerte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Nach den mitgeteilten Zeugenaussagen, betrug die Dauer der Rotlichtphase in diesem Augenblick "ungefähr eine Sekunde" oder "eine Sekunde bzw. knapp etwas darüber". Damit steht noch nicht einmal fest, dass das Rotlicht in diesem Zeitpunkt schon länger als eine Sekunde andauerte. Außerdem bleibt unklar, wie die Polizeibeamten die Zeit ermittelt haben. Da bisher insoweit sichere Feststellungen fehlen, kann zugunsten des Betroffenen nicht ausgeschlossen werden, dass das vorausfahrende Fahrzeug die Haltelinie mit den Vorderrädern überfuhr, als die Rotphase gerade erst einsetzte. Bei einer solchen Sachlage steht aber angesichts der übrigen bis jetzt getroffenen Feststellungen nicht sicher fest, dass die Rotphase beim Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen mehr als eine Sekunde betrug. Wenn nämlich das vorausfahrende Fahrzeug die Haltelinie mit den Vorderrädern bei Beginn der Rotphase überfuhr, war der Betroffene in diesem Zeitpunkt noch etwa 8 bis 10 m (Länge des vorausfahrenden Fahrzeugs zuzüglich des Abstands von einer Wagenlänge zwischen den beiden Fahrzeugen) von der Haltelinie entfernt. Wenn der Betroffene 50 km/h fuhr - auch insoweit fehlt es bisher an Feststellungen für eine sichere Berechnung - brauchte er für die Strecke von 8 bis 10 m eine Zeit von 0,58 bis 0,72 Sekunden, das heißt er überfuhr die Haltelinie zu einem Zeitpunkt, in dem die Rotphase die Dauer von einer Sekunde noch nicht überschritt.
13Wenngleich aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen davon auszugehen ist, dass der Betroffene jedenfalls gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO verstoßen hat, muss das Urteil insgesamt aufgehoben werden, da die Frage, ob es sich um einen qualifizierten Rotlichtverstoß oder nur um einen einfachen Rotlichtverstoß handelt, den Schuldumfang betrifft und die hierzu zu treffenden Feststellungen untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft sind (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1999, 94 = VRS 95, 439; Senatsentscheidungen VRS 92, 228 und VRS 98, 389).
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