Beschluss vom Oberlandesgericht Köln - 1 Ws 14/06
Tenor
Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wird dem Angeklagten auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung gewährt. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierin dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Die Revision des Angeklagten ist damit gegenstandslos.
1
G r ü n d e
2Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht am 27.01.2006 durch Urteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Nach Zustellung des Verwerfungsurteils an die Verteidigerin des Angeklagten am 01.02.2006 hat diese mit Schriftsatz vom 07.02.2006, bei Gericht eingegangen am selben Tag, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt sowie Revision eingelegt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags ist vorgetragen:
3"Mein Mandant war ohne Verschulden verhindert, zu der Hauptverhandlung vom 27.01.2006 zu erscheinen. Herr Z. hat sich am 27.01.2006 aufgrund akuter Beschwerden zu seinem Hausarzt begeben. …"
4In dem zur Glaubhaftmachung beigefügten ärztlichen Attest vom 07.02.2006 heißt es:
5"Der Patient Herr Z. befindet sich in meiner hausärztlichen Behandlung. Aufgrund einer akuten Erkrankung (Gastroenteritis) war der Patient am 27.01.2006 in unserer Praxis vorstellig und war an diesem Tat verhandlungsunfähig."
6Nachdem der Strafkammervorsitzende auf die Notwendigkeit einer Konkretisierung des ärztlichen Befundes hingewiesen hatte, überreichte die Verteidigerin des Angeklagten eine "Ärztliche Bescheinigung" der Hausärzte des Angeklagten vom 21.03.2006 mit folgendem Wortlaut:
7"Sehr geehrte Frau Rechtsanwältin X.,
8auf Ihre Bitte, das von uns erstellte Attest bezüglich des o.g. Patienten zu differenzieren, möchte ich folgendes hinzufügen:
9Herr … befand sich am 27.01.2006 wegen krampfartiger abdominellen Schmerzen mit begleitenden Durchfällen in unserer Behandlung. Klinisch konnte eine Blinddarmentzündung weitgehend ausgeschlossen werden. Fieber hatte er nicht. Leichter Druckschmerz im Mittelbauch sowie eine rege Perestaltik waren feststellbar. Neben der Empfehlung diätischer Maßnahmen wurde Perenterol rezeptiert.
10Am 07.07.2006 wurde auf Ersuchen des Patienten nach Durchsicht der Aktenlage bzw. der Dokumentation das Ihnen vorliegende Attest erstellt."
11Die Strafkammer hat das Wiedereinsetzungsgesuch des Angeklagten durch Beschluss vom 04.04.2006 als unzulässig verworfen. Der Angeklagte habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Wahrnehmung der Berufungshauptverhandlung für ihn krankheitsbedingt unzumutbar gewesen sei. Zur näheren Begründung ist u. a. ausgeführt:
12" … Hinsichtlich der regen Peristaltik hätte die Kammer dem Angeklagten leicht dadurch entgegen kommen können, dass sie die Hauptverhandlung jederzeit und ggf. mehrfach auf Wunsch des Angeklagten für kurze Zeit unterbricht, um dem Angeklagten den Gang zur Toilette zu ermöglichen (vgl. zur Möglichkeit der Unterbrechung der Hauptverhandlung bei Erkrankung des Angeklagten: OLG Köln, 1. Strafsenat, Beschluss vom 24.06.2005, 1 Ws 13/05). Der Flüssigkeitsverlust hätte während der Verhandlung dadurch ausgeglichen werden können, dass dem Angeklagten Wasser – notfalls vom Gericht – zur Verfügung gestellt wird.
13Darüber hinaus ist dem Angeklagten (lediglich !) das Medikament Perenterol verordnet worden. Dieses Medikament führt – wie die Kammer aus eigener Erfahrung weiß – zu einem deutlichen Abklingen der Beschwerden innerhalb ca. zwei Stunden."
14Gegen diesen Beschluss, der Verteidigerin zugestellt am 07.04.2006, richtet sich die am selben Tag eingegangene sofortige Beschwerde der Verteidigerin vom 11.04.2006.
15Die sofortige Beschwerde gegen die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags hat Erfolg. Der Wiedereinsetzungsantrag ist begründet. Der Angeklagte hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass es für ihn krankheitsbedingt unzumutbar war, zum Berufungshauptverhandlungstermin zu erscheinen.
16Es ist allgemein anerkannt, dass eine Erkrankung des Angeklagten einen Entschuldigungsgrund im Sinne des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO darstellt (SenE v. 17.03.1987 – Ss 118/87 B = VRS 72, 442). Dies gilt schon dann, wenn das Erscheinen vor Gericht wegen der Erkrankung unzumutbar ist. Der Begriff "genügende Entschuldigung" darf nicht eng ausgelegt werden. § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO enthält eine Ausnahme von der Regelung, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf, und birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Deshalb ist bei der Prüfung der vorgebrachten oder vorliegenden Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht. Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. zu allem: BayObLG NJW 2001, 1438 = VRS 100, 351; SenE v. 15.11.1996 – Ss 554/96 = NStZ-RR 1997, 208; vom 11.04.2006 – 83 Ss 26/06). Eine krankheitsbedingte Verhinderung liegt nicht etwa erst dann vor, wenn Verhandlungsunfähigkeit begründet ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat VRS 96, 451; VRS 98, 150; zuletzt SenE v. 11.04.2006 – 83 Ss 26/06; OLG Hamm VRS 107, 206). Zur Glaubhaftmachung der Krankheit genügt in der Regel die Vorlage eines privat-ärztlichen Attestes (OLG Düsseldorf VRS 71, 292; SenE VRS 72, 442).
17Diese allgemeinen Grundsätze hat das Landgericht nicht verkannt. Wenn es gleichwohl zu dem Ergebnis gelangt, die Teilnahme an der Hauptverhandlung sei für den Angeklagten zumutbar gewesen, so stellt es zu hohe Anforderungen an den Entschuldigungsgrund.
18Eine Durchfallerkrankung macht wegen der damit verbundenen körperlichen Auswirkungen nach der Lebenserfahrung eine Terminswahrnehmung unzumutbar, sofern nicht eine besonders leichte Form der Erkrankung vorliegt (SenE v. 20.09.1996 – Ss 447/96 Z; vgl. auch BayObLG a.a.O.). Letzteres ist hier nicht der Fall. Der Angeklagte litt ausweislich der ärztlichen Bescheinigung an krampfartigen Bauchschmerzen mit begleitenden Durchfällen, die aus der Sicht des Arztes so schwerwiegend waren, dass er die Verschreibung eines Medikaments für erforderlich hielt. Da erfahrungsgemäß Medikamente nicht bei jedem Patienten zu dem gewünschten Erfolg führen, konnte der Angeklagte nicht sicher davon ausgehen, in der Hauptverhandlung von Durchfällen verschont zu bleiben. Auf das Risiko von Durchfällen in der Hauptverhandlung musste er sich aber wegen der dann eintretenden Folgen nicht einlassen, zumal abzusehen war, dass der auf den 27.01.2006 anberaumte Termin möglicherweise mehrere Stunden dauern würde - der Angeklagte ist nicht geständig, der gegen ihn erhobenen Vorwurf wiegt schwer, es waren mehrere Zeugen und ein Sachverständiger geladen. Im Übrigen liegt es auf der Hand, dass eine Durchfallerkrankung der diagnostizierten Art die Konzentration eines Angeklagten auf seine Verteidigung nachhaltig beeinträchtigen kann. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte war es dem Angeklagten auch nicht zumutbar, eine Teilnahme an der Hauptverhandlung im Hinblick auf möglicherweise gewährte Unterbrechungen für zumutbar zu halten, zumal eine Durchfallerkrankung eben nicht in jedem Fall in zeitlicher Hinsicht steuerbar ist.
19Nach allem hat der Angeklagte die Unzumutbarkeit einer Teilnahme an der Hauptverhandlung glaubhaft gemacht.
20Der von der Strafkammer zitierten Senatsentscheidung (Beschluss v. 24.06.2005 – 82 Ss 5/05 – 1 Ws 13/05) liegt eine nicht vergleichbare Sachverhaltsgestaltung zugrunde. In jener Sache hatte die ärztliche Untersuchung des über Herzbeschwerden klagenden Angeklagten keinen Anhaltspunkt für einen (objektiven) akuten krankhaften Befund ergeben. Es stand auch nicht zu befürchten, dass am Verhandlungstag eine instabile Situation eintreten könnte. Nur deshalb wurde es als für den – über ein Notfallmedikament verfügenden - Angeklagten zumutbar angesehen, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Unterbrechung im Falle des nicht zu erwartenden Eintritts einer akuten Erkrankung.
21Die Kostenentscheidung zur Wiedereinsetzung folgt aus § 473 Abs. 7 StPO.
22Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf einer entsprechende Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (Franke in KK-StPO, 5. Auflage, § 473 Rn 5).
23Durch die Gewährung der Wiedereinsetzung, über die gemäß § 342 Abs. 2 Satz 2 StPO vorab zu befinden war, ist das Verwerfungsurteil vom 27.01.2006 beseitigt und die Revision gegenstandslos.
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