Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - Ausl 301 AR 54/17

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts ... vom 16. August 2016 wird für derzeit unzulässig erklärt.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Verfolgten fallen der Staatskasse zur Last.

3. Eine Entschädigung für die erlittene Auslieferungshaft wird nicht bewilligt.

4. Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 06. April 2017 wird aufgehoben.

Die sofortige Freilassung des Verfolgten wird angeordnet.

Gründe

 
I.
Gegen den am 18.04.2017 aufgrund Auslieferungshaftbefehls des Senats vom 06.04.2017 festgenommenen Verfolgten besteht ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts ... vom 16.08.2016, aus welchem sich ergibt, dass gegen diesen ein nationaler Haftbefehl der Bezirksstaatsanwaltschaft ... vom 11.08.2016 auch unter dem mit einer Höchststrafe von acht Jahren strafbewehrten Vorwurf des Betruges besteht. Die dem Verfolgten zur Last liegenden Straftaten werden im Europäischen Haftbefehl nebst rechtlicher Bewertung wie folgt umschrieben:
Wird ausgeführt
Der Verfolgte hat bei seiner richterlichen Anhörung vom 18.04.2017 vor dem Amtsgericht Heidelberg einer vereinfachten Auslieferung nicht zugestimmt und - auch über seinen Rechtsbeistand - Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Auslieferung erhoben. Er hat die Tat in Abrede gestellt und über seinen Rechtsbeistand zu den Haftverhältnissen in Ungarn wie folgt ausgeführt:
Wird ausgeführt:
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 20.04.2017 beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären; zugleich hat sie entschieden, dass nicht beabsichtigt sei, Bewilligungshindernisse geltend zu machen.
Mit Beschluss vom 26.04.2017 hat der Senat aufgrund der von dem Verfolgten vorgebrachten Einwendungen eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für notwendig angesehen und die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe um Einholung entsprechender Erklärungen bei den ungarischen Justizbehörden zu folgenden Fragen gebeten, wobei für die Beibringung eine Frist bis 24.05.2017 gesetzt wurde (§ 30 Abs.1 Satz 2 IRG):
a. namentliche Benennung der Haftanstalt, in die der Verfolgte nach erfolgter Auslieferung aufgenommen und in der er während der Dauer der der Untersuchungshaft und der Strafhaft inhaftiert sein würde;
b. Zusicherung, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen in diesen Haftanstalten während der Untersuchhaft und einer sich ggf. anschließenden Strafhaft den Europäischen Mindeststandards entsprechen und dem Verfolgten dort keine unmenschliche oder erniedrigende Strafhaft oder Behandlung i.S.v. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten droht;
c. Beschreibung der Haftbedingungen in den namentlich benannten Haftanstalten, insbesondere im Hinblick auf Zahl der Haftplätze, Gesamtzahl der Gefangenen, Anzahl, Größe und Ausstattung der Hafträume, sanitäre Einrichtungen und Verpflegungsbedingungen;
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d. Mitteilung, ob es möglich ist, dass der Verfolgte während seiner Haftzeit in Ungarn, insbesondere im Falle einer Strafhaft, in eine andere Haftanstalt verlegt wird; in diesem Fall wird um Abgabe einer Zusicherung gebeten, dass auch diese Haftanstalt bezüglich der Haftbedingungen den Europäischen Mindeststandards entsprechen wird.
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Am 17.05.2017 hat die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe dem Senat sodann ein vom diesem Tage datierendes Schreiben des ungarischen Justizministeriums vorgelegt, dass wortgleich mit einer Auskunft in einem anderen vom Senat bei den ungarischen Justizbehörden betriebenen, beim Senat anhängigen Auslieferungsverfahren wie folgt lautet:
II.
12 
Die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts ... vom 16.08.2016 ist derzeit nicht zulässig.
13 
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die ungarischen Justizbehörden die detaillierten Anfragen des Senats in seinem Beschluss vom 26.04.2017 nicht beantwortet haben und auch mit einer diesbezüglichen zeitnahen Erklärung nicht zu rechnen ist. Dies führt vorliegend zur zumindest derzeitigen Unzulässigkeit der Auslieferung, da ohne die erbetenen Erklärungen und Zusicherungen über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht entschieden werden kann (vgl. hierzu Schomburg/Lagodny/Gless/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Straf-sachen, 5. Auflage 2012, § 30 IRG Rn. 8).
14 
Insoweit merkt der Senat lediglich ergänzend an, dass dem Schreiben des ungarischen Justizministeriums vom 17.05.2017 bezüglich der vom Senat aufgeworfenen Fragen lediglich allgemein zu entnehmen ist, dass in Ungarn neben einer Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen bezüglich Rechtsmittel von Gefangenen gegen ihre Haftbedingungen die Renovierung und Erweiterung sowie der Bau neuer Gefängnisse im Gang gesetzt wurden und schon über 1000 Haftplätze für Gefangene geschaffen worden sind, so dass die Überbelegung von Haftanstalten reduziert werden konnte. Dass die Mängel der Haftbedingungen in den ungarischen Haftanstalten jedoch insgesamt beseitig sind, ist der Erklärung jedoch ebensowenig zu entnehmen wie die erbetene Zusicherung, dass jedenfalls der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung Haftbedingungen erhalten werde, welche den Europäischen Mindeststandards genügen und er deshalb in seiner Person keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
15 
Allein der im Schreiben der ungarischen Justizministeriums vom 17.05.2017 enthaltene Hinweis auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung führt nicht zur Beseitigung des sich vorliegend aus § 73 Satz 2 IRG i.V.m. Art.3 EMRK zumindest derzeit bestehenden Auslieferungshindernisses. Im Anschluss an die obergerichtliche Rechtsprechung geht auch der Senat davon aus, dass derzeit zureichend objektive und zuverlässige Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bestehen (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 12.09.2016, 1 Ausl A 3/15 - abgedruckt bei juris; dass. NStZ-RR 2015, 322; OLG Dresden, Beschluss vom 13.07.2015, OLG Ausl 98/15 - abgedruckt bei juris; OLG Hamm, Beschluss vom 01.12.2015, III-2 Ausl 131/15 - abgedruckt bei juris). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 10.03.2015 Ungarn wegen der Überfüllung seiner Gefängnisse verurteilt (EGMR, Urteil vom 10.03.2015 Application nos. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 Varga u.a./Ungarn). Auch aus dem Bericht des Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarates vom 30.04.2013 (CPT/inf (2014) 13) ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen, denen der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung nach Ungarn ausgesetzt wäre, nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprechen. Bei einer solchen Ausgangslage hat der Europäische Gerichtshof in seiner auch Ungarn betreffenden Entscheidung vom 05.04.2016 - C 404/15 und C 659/15 - (NJW 2016, 1709) anerkannt, dass der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl verankerte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens bei außergewöhnlichen Umständen eine Beschränkung erfahre, insbesondere könne das in Art. 4 der EU-Grundrechtecharta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung verletzt sein. Aus diesem Grunde habe - so der EuGH - die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen, ob objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben vorliegen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen. Sodann sei in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein würde. Dazu könnten – wie vorliegend erfolgt - nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses Nachfragen an die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats gestellt werden. Werden die Informationen erteilt und stellt das Gericht im Vollstreckungsstaat fest, dass eine echte Gefahr im oben genannten Sinn besteht, sei die Vollstreckung des Haftbefehls zunächst aufzuschieben. Könne aber letztlich das Vorliegen einer echten Gefahr nicht ausgeschlossen werden, müsse die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden sei. Hiervon ist vorliegend auszugehen, da die ungarischen Justizbehörden die vom Senat festgestellte Gefahrenlage nicht ausgeräumt haben.
16 
Hinzu kommt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2016, 1149) der Anwendungsvorrang des Unionsrechts seine Grenze in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen des Grundgesetzes findet, wozu namentlich die Grundsätze des Art. 1 GG einschließlich des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips im Strafrecht gehören. Danach ist die Gewährleistung dieser Grundsätze auch bei der Anwendung des Rechts der Europäischen Union oder unionsrechtlich determinierter Vorschriften durch die deutsche öffentliche Gewalt im Einzelfall sicherzustellen, weshalb der grundsätzliche Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur soweit reicht, wie das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlaubt. Auch nach dieser Rechtsprechung wird der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens dann erschüttert, wenn - wie vorliegend - tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Falle einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden, wozu auch die Einhaltung der Mindeststandards für Haftbedingungen gehören (vgl. hierzu Böhm NStZ 2017, 77 m.w.N.).
17 
Der Senat hat diesen Vorgaben dadurch Rechnung getragen, dass er die Auslieferung des Verfolgten nach Ungarn für derzeit unzulässig erklärt hat. Dies ermöglicht im Verfahren nach § 33 IRG dann eine erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung, wenn die Generalsstaatsanwaltschaft Karlsruhe entweder verlässliche Informationen über die generelle Einhaltung der Europäischen Mindeststandards an Haftbedingungen in Ungarn vorlegt oder Ungarn die vom Senat erbetenen einzelfallbezogenen Erklärungen abgibt.
III.
18 
Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 06.04.2017 war danach aufzuheben und die sofortige Freilassung des Verfolgten anzuordnen.
IV.
19 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 IRG i.V.m. § 467 Abs.1 StPO.
20 
Dagegen scheidet eine Entschädigungspflicht nach dem Gesetz über die Entschädigung in Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) für die vollzogene Auslieferungshaft aus, weil eine entsprechende Anwendung dieses Gesetzes auf die Auslieferungshaft grundsätzlich ausgeschlossen ist und ein Fall, in welchem Behörden der Bundesrepublik Deutschland die nach deutschem Recht unberechtigte Verfolgung zu vertreten hätten, nicht vorliegt.

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