Beschluss vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 2 VAs 60/18

Tenor

1. Auf den Antrag des Verurteilten B auf gerichtliche Entscheidung vom 19. Oktober 2018 werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Karlsruhe vom 29. August 2018 - 807 VRs 160 Js 17494/12 - und der Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 9. Oktober 2018 - 7 Zs 1675/18 KA - aufgehoben.

2. Die Staatsanwaltschaft wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.

3. Der weitergehende Antrag wird als unbegründet verworfen.

4. Das Verfahren ist gebührenfrei. Dem Antragsteller sind zwei Drittel seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten aus der Staatskasse zu erstatten.

5. Der Geschäftswert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

6. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird nicht zugelassen.

Gründe

 
I.
Der Antragsteller erstrebt eine von der Vollstreckungsbehörde abgelehnte Änderung der Vollstreckungsreihenfolge, hilfsweise deren Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats. Hierdurch soll zu einem früheren Zeitpunkt die Möglichkeit der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 BtMG eröffnet werden.
Soweit für das vorliegende Verfahren relevant, sind gegen den Antragsteller nachfolgende rechtskräftige Verurteilungen ergangen.
1. Ausgangsentscheidung der gegenwärtigen Vollstreckungslage ist ein Urteil des Amtsgerichts Br vom 18.12.2017 - 6 Ls 160 Js 20687/17 - in Verbindung mit dem nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss dieses Gerichts vom 03.05.2018. Er wurde wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten verurteilt. Ausweislich der Urteilsgründe ist diese Vollstreckung zurückstellungsfähig. Die Strafe wurde zunächst vom 30.11.2017 bis zum 30.04.2018 vollstreckt; seither ist die Vollstreckung unterbrochen. Demzufolge stehen noch mehr als zwei Jahre zur Vollstreckung an. Die restliche Strafe soll ab dem 04.02.2020 vollstreckt werden. Zweidritteltermin ist der 29.05.2021; als Strafende ist der 20.05.2022 vorgemerkt.
2. Die vorgenannte Unterbrechung nach dem 30.04.2018 erfolgte vor dem Hintergrund nachfolgender Entscheidungen:
a) Durch Urteil des Amtsgerichts Br vom 08.05.2008 - 6 Ls 650 Js 39794/07 - wurde der Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Vollstreckung des Restes der Strafe wurde zurückgestellt und die restliche Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Nach dem Widerruf der Strafaussetzung erfolgte schließlich eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung; die Reststrafe beträgt 337 Tage (zum erneuten Widerruf vgl. nachfolgend Ziffer 2 e).
b) Durch Urteil des Amtsgerichts H vom 28.03.2011 - 41 Ds 24 Js 1453/11 - wurde er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war. Die Strafe war nicht zurückstellungsfähig. Nach dem Widerruf der Strafaussetzung erfolgte schließlich eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung; die - zwischenzeitlich vom 01.05.2018 bis zum 20.06.2018 vollstreckte - Reststrafe betrug 51 Tage (zum erneuten Widerruf vgl. nachfolgend Ziffer 2 e).
c) Durch Urteil des Amtsgerichts P vom 09.01.2012 - 7 Ds 81 Js 10872/11 - in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts K - Auswärtige Strafkammer P - vom 19.12.2012 - 18 Ns 81 Js 10872/11 - wurde er wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs u.a. unter Einbeziehung einer weiteren Strafe zu einer Gesamtfreiheitstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt. Die Vollstreckung ist zurückstellungsfähig. Die restliche Strafe wurde zunächst zur Bewährung ausgesetzt; die Reststrafe beträgt 174 Tage (zum Widerruf vgl. nachfolgend Ziffer 2 e).
d) Durch nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Bt vom 27.08.2014 - 2 Ds 160 Js 17494/12 - wurden die Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Bt vom 08.10.2013 - 2 Ds 160 Js 17494/12 - und dem Strafbefehl des Amtsgerichts Ö vom 19.04.2013 - 3 Cs 11 Js 19283/12 - auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten zurückgeführt. Die erstgenannte Verurteilung erfolgte wegen gefährlicher Körperverletzung, die zweite wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte u.a.. Ob die Strafe zurückstellungsfähig ist, bedarf derzeit keiner abschließenden Entscheidung durch den Senat. Der Strafrest wurde zur Bewährung ausgesetzt; die - zwischenzeitlich vom 21.06.2018 bis zum 10.09.2018 vollstreckte - Reststrafe betrug 82 Tage (zum Widerruf vgl. nachfolgend Ziffer 2 e).
e) Mit Beschluss des Landgerichts O - Strafvollstreckungskammer - vom 16.02.2018 - 7 StVK 550-553/14 -, rechtskräftig seit 06.03.2018, wurden die Strafaussetzungen der restlichen Freiheitsstrafen aus den vorgenannten Straferkenntnissen Ziffer 2 a) bis d) im Hinblick auf die Verurteilung Ziffer 1 widerrufen.
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3. Die erfolgten Widerrufe der zur Bewährung ausgesetzten restlichen Freiheitsstrafen veranlassten die Staatsanwaltschaft Karlsruhe mit Verfügung vom 05.04.2018, die Vollstreckung aus dem Straferkenntnis Ziffer 1 mit Ablauf des 30.04.2018 gem. § 43 Abs. 4 StVollstrO zu unterbrechen und die vier widerrufenen Strafreste vorweg zu vollstrecken. Gegenwärtig wird seit dem 11.09.2018 noch bis zum 03.03.2019 die Strafe aus dem Straferkenntnis Ziffer 2 c) vollstreckt; anschließend soll bis zum 03.02.2020 diejenige aus dem Straferkenntnis Ziffer 2 a) erfolgen. Sodann ist - wie bereits ausgeführt - die Fortsetzung der Vollstreckung der Strafe aus dem Straferkenntnis Ziffer 1 vorgemerkt.
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4. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 04.07.2018 beantragte der Verurteilte, die Vollstreckungsreihenfolge gem. § 43 Abs. 4 StVollstrO „aus wichtigem Grund“ dahingehend abzuändern, dass im Anschluss an vollständige Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts H vom 28.03.2011 die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Br vom 18.12.2017 vollstreckt wird. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die verbleibenden Strafen nach §§ 35, 36 BtMG zurückstellungsfähig seien und der Verurteilte nach Verbüßung bis zur Zweijahresgrenze aus dem Urteil des Amtsgerichts Br vom 18.12.2017 die Möglichkeit habe, eine Drogenentwöhnungstherapie zu durchlaufen. Zugleich wurde eine Bescheinigung vorgelegt, wonach der Verurteilte in regelmäßigem Kontakt zur externen Suchtberatungsstelle innerhalb der Justizvollzugsanstalt Br stehe, insbesondere an Einzelgesprächen und einer Motivations- und Vorbereitungsgruppe teilnehme. Ferner sei ein Antrag auf eine stationäre Rehabilitation bei der Deutschen Rentenversicherung gestellt worden. Bewilligende Bescheide erfolgten sodann unter dem 22.06.2018 (insgesamt 40 Wochen medizinische Rehabilitation im Therapiezentrum B in Bu). Mit Bescheiden vom 23.07.2018 wurde die Rehabilitationseinrichtung dahin geändert, dass die Behandlung in der Fachklinik „V“ in F erfolgen soll.
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Mit Verfügung vom 29.08.2018 lehnte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe den Antrag ab. Zur Begründung berief sie sich insbesondere auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.02.2012 - 5 AR (VS) 40/11 -, BGHSt 57, 155, wonach Strafreste regelmäßig der Vorwegvollstreckung überantwortet seien. Ergänzend wurden Ausführungen zu den bislang fehlgeschlagenen stationären und ambulanten Therapien gemacht.
13 
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe gab der Beschwerde des Verurteilten mit Bescheid vom 09.10.2018 - 7 Zs 1675/18 KA -, der dem Verteidiger am 19.10.2018 zugestellt wurde, keine Folge. Zur Begründung führte sie Folgendes aus:
14 
Eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge in dem vorliegenden Vollstreckungsverfahren scheidet bereits deshalb aus, da die zu vollstreckende Reststrafe, für die die bereits begonnene Vollstreckung der Gesamtstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Br 6 Ls 160 Js 20687/17 i.V.m. mit dem Gesamtstrafenbeschluss vom 03.05.2018 unterbrochen wurde, zwischenzeitlich vollständig vollstreckt ist. Der widerrufene Strafrest vom 82 Tagen im vorliegenden Vollstreckungsverfahren war mit Ablauf des 10.09.2018 vollständig verbüßt. Ein rückwirkender Eingriff in die Vollstreckungsreihenfolge kommt nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 454b Abs. 1 Satz 3 StPO in Betracht, oder um Benachteiligungen bei der Anwendung der §§ 57, 57a StGB durch Fehler oder Versäumnisse der Vollstreckungsbehörde zu beseitigen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. September 1992 - 1 Ws 450 - 457/92 -, juris). Dies ist vorliegend nicht der Fall, da vorliegend keine Unterbrechung der begonnenen Vollstreckung der Gesamtstrafe aus dem Beschluss des Amtsgerichts Br vom 03.05.2018 zur Ermöglichung eines gemeinsamen Zwei-Drittel-Prüfungs-Termins nach § 57 Abs. 1 StGB unterblieb, sondern eine Unterbrechung der laufenden Vollstreckung aus dem Gesamtstrafenbeschluss zum Zwischenvollzug eines widerrufenen Strafrests erfolgt ist.
15 
Die Staatsanwaltschaft hat zu Recht diese Unterbrechung zum Zwischenvollzug des widerrufenen Rests der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Bt vom 04.10.2013 angeordnet und die beantragte Änderung der Vollstreckungsreihenfolge im Wege der Rücknahme dieser Unterbrechung abgelehnt. Gemäß § 43 Abs. 4 StVollstrO bildet insbesondere das Hinzutreten von Strafresten nach Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung einen wichtigen Grund, die Reihenfolge der zu vollstreckenden Strafen zu ändern. Dies deckt sich mit der Wertung des Gesetzgebers in § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO, wonach widerrufene Strafreste an der Unterbrechungsregelung des § 454b Abs. 1 StPO nicht teilnehmen. Sie sind deshalb regelmäßig der Vorwegvollstreckung überantwortet (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 5 AR (VS) 40/11 -, BGHSt 57, 155-159). Hierauf beruht die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Änderung der Reihenfolge der Vollstreckung. Ein Ausnahmetatbestand von dieser Regel, welcher vorliegend die Wiederherstellung der Vollstreckungsreihenfolge vor der Unterbrechung zum Zwischenvollzug des widerrufenen Strafrests rechtfertigen könnte, ist vorliegend nicht zu bejahen. Ein solcher ergibt sich auch nicht aus dem beabsichtigten Antrag auf Zurückstellung nach § 35 BtMG. Das Gesetz sieht in § 454b Abs. 3 StPO eine Abänderung der gesetzlich vorgesehenen Vollstreckungsreihenfolge im Hinblick auf einen beabsichtigten Antrag gemäß § 35 BtMG nur für eine weitere zu vollstreckende Freiheitsstrafe und nur für den Fall vor, dass ein nicht zurückstellungsfähiger Strafrest entgegen der Unterbrechungsregelung des § 454b Abs. 2 StPO zu Ende vollstreckt werden kann, um die Sperrwirkung des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu beseitigen. Diese Voraussetzungen liegen vorliegend nicht vor, da durch die begehrte Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge nicht die Voraussetzungen des § 35 BtMG für eine weitere zu vollstreckende Freiheitsstrafe geschaffen werden sollen, sondern für die dann weiter vollstreckte Strafe selbst.
16 
5. Mit Schriftsatz des Verteidigers vom 29.10.2018, beim Oberlandesgericht Karlsruhe eingegangen am 31.10.2018, stellte der Verurteilte Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er beantragt, die Staatsanwaltschaft entsprechend seinem ursprünglichen Antrag - nunmehr rückwirkend - zu verpflichten, die Vollstreckungsreihenfolge entsprechend abzuändern, hilfsweise, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu verbescheiden. In dem Antrag wird die Ansicht vertreten, der angefochtene Bescheid sei ermessensfehlerhaft. Insbesondere könne nicht darauf abgestellt werden, dass bisherige Therapien keinen Erfolg gehabt hätten. Ergänzend wurde ein Schreiben der Fachklinik „V“ vom 24.10.2018 beigefügt, wonach der Antragsteller 11.12.2018 grundsätzlich am 11.12.2018 zur stationären Drogenentwöhnungstherapie aufgenommen werden könne.
17 
Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat mit Zuschrift vom 23.11.2018 auf Verwerfung des Antrages als unbegründet angetragen. Mit Schriftsatz vom 05.12.2018 erwiderte der Verteidiger hierauf.
II.
18 
Der Antrag hat mit dem Hilfsantrag - jedenfalls vorläufigen - Erfolg.
19 
1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist statthaft (§ 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG) und auch im Übrigen zulässig (§§ 24 Abs. 2, 26 Abs. 1 EGGVG).
20 
2. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, die Vollstreckung nicht gemäß § 43 Abs. 3 StVollstrO fortzusetzen und stattdessen nach § 43 Abs. 4 StVollstrO zu verfahren, unterliegt nicht in vollem Umfang der Überprüfung durch den Senat. Der Antragsteller hat lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Überprüfung seines Begehrens (§ 28 Abs. 3 EGGVG); hinsichtlich der Annahme eines wichtigen Grundes steht der Vollstreckungsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu (Senat, Beschlüsse vom 20.12.2016 - 2 VAs 139/16 - [n.v.] und StV 2003, 287).
21 
Die Bescheide sind aufzuheben, da in dem - maßgeblichen - Beschwerdebescheid das Ansinnen des Antragstellers nicht ausreichend erfasst wird. Dabei dürften bereits zu hohe Anforderungen an das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO gestellt worden sein; jedenfalls werden die Ermessenserwägungen den umfassenden Anforderungen der vorliegenden besonderen Fallkonstellation nicht hinreichend gerecht.
22 
Die Unterbrechung der Vollstreckung der Strafe aus dem nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Br vom 03.05.2018, deren Vollstreckung bereits begonnen hatte (§ 43 Abs. 3 StVollstrO), entsprach zunächst - eine gesetzliche Normierung ist nicht vorhanden - grundsätzlich der Regelung des § 43 Abs. 4 StVollstrO; danach kann die Vollstreckungsbehörde aus wichtigem Grund, insbesondere dem Hinzutreten von Strafresten nach Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, eine von § 43 Abs. 3 StVollstrO abweichende Reihenfolge der Vollstreckung bestimmen. Diese Regelung, eine bloße Verwaltungsvorschrift, welche die Gerichte nicht bindet (vgl. hierzu nachdrücklich Groß, jurisPR-StrafR 7/2012 Anm. 4), entspricht der Auffassung des Bundesgerichtshofes (BGHSt 57, 155 mit Anm. Laubenthal/Nestler NStZ 2012, 467 und krit. Anm. Groß aaO) und auch derjenigen des Senats (Beschluss vom 20.05.2011 - 2 VAs 2/11 [BeckRS 2011, 14497]), dessen Entscheidung dem Beschluss des Bundesgerichtshofs zugrunde liegt. Durch die ab dem 01.10.2017 erfolgte Ergänzung des § 43 Abs. 4 StVollstrO - es wurde der Widerruf eines Strafrestes als konkretes Beispiel für einen wichtigen Grund eingefügt - lässt sich auch ein erhöhtes Vollstreckungsinteresse ableiten (BeckOK StVollstrO/Weide, 2. Edition 15.06.2018, § 36 Rn. 20; BeckOK StVollstrO/Wittmann, 2. Edition 15.06.2018, § 43 Rn. 10).
23 
Ungeachtet dieses grundsätzlich gebotenen „Zwischenvorwegvollzugs von Strafresten“ hat die Vollstreckungsbehörde ein Ermessen auszuüben, wenn im konkreten Fall gewichtige Umstände in Betracht kommen, die eine andere Vollstreckungsreihenfolge gebieten können; vorliegend entsprach die zunächst begonnene Vollstreckung ohnehin bereits § 43 Abs. 3 StVollstrO. Daher muss die Vollstreckungsbehörde auch hier immer eine konkrete Prüfung des Einzelfalls vornehmen. Ein Absehen von der Unterbrechung zum Zwecke des Vollzugs eines widerrufenen Strafrestes kann insbesondere dann angebracht sein, wenn konkrete Umstände vorliegen, hinter denen auch das erhöhte Vollstreckungsinteresse zurückzustehen hat (BeckOK StVollstrO/Wittmann aaO § 43 Rn. 10).
24 
Durch die Unterbrechung des „Erstvollzugs“ wird dem Antragsteller mangels noch nicht erreichter Restvollstreckungszeit von höchstens zwei Jahren letztlich aller Voraussicht nach erst nach der am 04.02.2020 beginnenden weiteren ergänzenden Vollstreckung bis zur Zweijahresgrenze ermöglicht, eine Zurückstellung der Strafvollstreckung - falls die weiteren Voraussetzungen gegeben sind - in Anspruch nehmen zu können. Soweit es die Strafreste betrifft, stünde jene Strafe demzufolge zuvor einer Zurückstellung der Strafvollstreckung entgegen (§ 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG).
25 
Der vom Antragsteller beantragten Änderung der Vollstreckungsreihenfolge steht zunächst - sowohl die Auffassung in dem Beschwerdebescheid - die Regelung des § 454b Abs. 3 StPO n.F. nicht entgegen. Die Vorschrift wurde durch Art. 3 Nr. 36 Buchst. a des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017 (BGBl. I S. 3202), in Kraft getreten am 24.08.2017, eingeführt. Hierdurch sollte (lediglich) nunmehr eine gesetzliche Möglichkeit geschaffen werden, von der Unterbrechung der Strafvollstreckung zum Halbstrafen- beziehungsweise Zweidrittelstrafzeitpunkt abzusehen, wenn weitere, im Unterschied zur zunächst vollstreckten Strafe nach § 35 BtMG zurückstellungsfähige, Strafen zu vollstrecken sind (BT-Drs. 18/11272 S. 34). Zuvor wurde in der Praxis Abhilfe durch eine Anwendung des § 43 Abs. 4 StVollstrO gesucht, bei der nicht zurückstellungsfähige Strafen vorweg vollstreckt wurden (Senat, NStZ-RR 2006, 287; BeckOK StPO/Coen, 31. Edition 15.10.2018, § 454b Rn. 8.1). Demgegenüber hat der Fall, dass alle Strafen (gegebenenfalls einschließlich widerrufener Reststrafen) zurückstellungsfähig sind, weiterhin keine gesetzliche Regelung erfahren. Ebenso wenig ist das Ansinnen des Antragstellers mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 09.02.2012 (BGHSt 57, 155) unvereinbar. Abgesehen davon, dass gemäß § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO auch nach dessen Auffassung Strafreste (nur) jedenfalls grundsätzlich [Hervorhebung durch den Senat] der Vorwegvollstreckung überantwortet werden (aaO Rn. 9), lässt auch jene Entscheidung ein Abweichen hiervon bei besonderen Umständen ausdrücklich zu (aaO Rn. 11). Schließlich war im dortigen Verfahren die Frage einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG ohne Belang, sodass es auch aus diesem Grund an einer unmittelbaren Vergleichbarkeit mit der vorliegenden Konstellation fehlt. Auch in der Literatur ist das ausnahmsweise Absehen von einer Unterbrechung trotz zu vollstreckender Strafreste einhellig anerkannt; dies kann der Fall sein, wenn Anhaltspunkte für eine (erneute) Aussetzung sprechen und durch den Zwischenvollzug des Strafrestes die Resozialisierung vereitelt oder unangemessen gefährdet würde (BeckOK StVollstrO/Wittmann aaO § 43 Rn. 10 a.E.; LK-StPO/Graalmann-Scheerer, 26. Aufl. 2010, § 454b Rn. 33 a.E.; SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2013, § 454b Rn. 12; HK-StPO/Pollähne, 6. Aufl. 2019, § 454b Rn. 5; Groß, jurisPR-StrafR aaO).
26 
3. Im Allgemeinen ist die Bestimmung einer Vollstreckungsreihenfolge für mehrere Freiheitsstrafen für den Verurteilten ohne Relevanz. Sie erweist sich dann aber als mehr als nur eine Formalität, wenn sie sich auf die Rechtsmöglichkeiten des Verurteilten auswirkt, sei auf § 57 StGB oder - wie vorliegend - auf § 35 BtMG. So ist die Vollstreckungsbehörde beispielsweise bei einer Anschlussvollstreckung bereits dann verpflichtet, die weitere Vollstreckung zum Halbstraftermin zu unterbrechen, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine bedingte Entlassung besteht, wobei ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (Senat, Beschluss vom 15.08.2018 - 2 VAs 37/18 -, juris).
27 
Die Erwägungen der Vollstreckungsbehörde werden vor dem Hintergrund der aufgezeigten differenzierten Sach- und Rechtslage den Anforderungen nicht umfassend gerecht. Das Anliegen, dem Verurteilten wenigstens zu einem späteren Zeitpunkt die Teilnahme an einer Therapie zu ermöglichen, stellt regelmäßig einen wichtigen Grund für eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dar (MüKoStGB/Kornprobst, 3. Aufl. 2018, § 35 BtMG Rn. 128 [zu § 43 Abs. 4 StVollstrO]; vgl. auch Senat, StV 2003, 287). Die gesetzgeberische Entscheidung, § 454b Abs. 3 StPO (n.F.) einzuführen, zeigt darüber hinaus, dass auch im Rahmen der Vollstreckungsreihenfolge der in § 35 BtMG zum Ausdruck kommende Grundsatz „Therapie vor Strafe“ Anerkennung gefunden hat (zur Ausübung des Ermessens vgl. Graf/Coen, StPO, 3. Aufl. 2018, § 454b Rn. 9f). Auch ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung beim Zusammentreffen von Maßregelvollzug und zu vollstreckender Strafreste anerkannt, dass der Maßregeltherapie grundsätzlich der Vorrang gebührt; die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 09.02.2012 (BGHSt 57, 155) steht hierzu nicht entgegen (OLG Dresden NStZ 2013, 173; SaarlOLG StV 2015, 375). Letztere Vollstreckungssituation weist eine unmittelbare Vergleichbarkeit zum vorliegenden Fall auf.
28 
Nach vorläufiger Würdigung dürften sowohl die Strafe der Ausgangsvollstreckung (Ziffer I.1.) - nach Erreichen der Zweijahresgrenze - als auch - mit einer noch nicht abschließend geklärten Ausnahme - die weiteren Reststrafen außer derjenigen aus dem Urteil des Amtsgerichts H (Ziffer I.2.b), was in dem Antrag berücksichtigt wurde, zurückstellungsfähig sein. Wenngleich das undifferenzierte Heranziehen von „Alkoholmissbrauch oder Betäubungsmittelabhängigkeit“ nicht unbedenklich erscheint, wurde in dem Urteil des Amtsgerichts Br vom 18.12.2017 „eine Zurückstellung der Strafvollstreckung für eine der Rehabilitation dienende Behandlung im Sinne des § 35 BtMG seitens des Gerichts ausdrücklich begrüßt“. Unter dem 13.07.2018 und dem 20.07.2018 teilten die jeweiligen Vollstreckungsrechtspflegerinnen mit, dass die Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Br vom 08.05.2008 (Ziffer I.2.a) - insoweit war ohnehin bereits einmal eine Zurückstellung nach § 35 BtMG erfolgt gewesen - und dem Urteil des Amtsgerichts P vom 09.01.2012 (Ziffer I.2.c) zurückstellungsfähig seien. Wie es sich mit der Strafe aus dem nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Bt vom 27.08.2014 (Ziffer I.2.d) verhält, wird die Vollstreckungsbehörde zunächst in eigener Zuständigkeit zu entscheiden haben. Die dem Urteil des Amtsgerichts Bt vom 08.10.2013 zugrundeliegende Tat wurde in betrunkenem Zustand unter dem Einfluss von Cannabis begangen. § 17 Abs. 2 BZRG (in Verbindung mit § 260 Abs. 5 Satz 2 StPO) wurde als angewendete Vorschrift allerdings nicht aufgenommen. Nach den Erfahrungen des Senats steht dies einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nicht zwingend entgegen, da die Vorschrift häufig unbekannt zu sein scheint; im Übrigen finden sich in der Entscheidung entgegen § 260 Abs. 5 Satz 1 StPO ohnehin überhaupt keine angewendeten Vorschriften.
29 
Nach derzeitiger Bewertung, worauf es allein ankommt, könnte beim Antragsteller eine ernsthafte (erneute) Therapiemotivation vorliegen. Ausweislich der vorgelegten Unterlagen nimmt er an Terminen der Suchtberatungsstelle teil und hat eine Kostenzusage der Deutschen Rentenversicherung erhalten; Letztere entfaltet allerdings für eine Entscheidung nach § 35 BtMG keine Bindungswirkung (OLG Koblenz NStZ-RR 2014, 375). Im Hinblick darauf wurde ihm ab dem 11.12.2018 ein stationärer Therapieplatz zur Verfügung gestellt.
30 
4. Bei der neuen Entscheidung wird die Vollstreckungsbehörde angesichts bislang gescheiterter Therapien zu berücksichtigen haben, dass hinsichtlich der Erfolgsprognose die Zurückstellung keine positive Feststellung voraussetzt, wonach ein Erfolg der Therapie zu erwarten ist, weshalb in der Regel von einer Prüfung der Erfolgsaussicht abzusehen ist (Senat, NStZ-RR 2008, 576; Beschluss vom 03.06.2015 - 2 VAs 8/15 -, juris; Weber, BtMG, 5. Aufl. 2017, § 35 Rn. 35 Rn. 158; MüKoStGB/Kornprobst aaO § 35 BtMG Rn. 140). Eine Zurückstellung kann allerdings dann nicht verantwortet werden, wenn im Einzelfall Erkenntnisse vorliegen, welche die Therapie von vornherein als völlig oder nahezu aussichtslos erscheinen lassen (Senat, NStZ-RR 2009, 122; Weber aaO § 35 Rn. 160; MüKoStGB/Kornprobst aaO § 35 BtMG Rn. 141). Ebenso wird in die Erwägungen einfließen müssen, dass der Weg aus der Sucht ein langes, prozesshaftes Geschehen darstellt, sodass zu einem Behandlungserfolg in der Regel zahlreiche Therapieversuche gehören; selbst mehrfache Therapieabbrüche vermögen daher nicht ohne weiteres zwangsläufig eine Therapiebereitschaft in Zweifel zu ziehen (Senat, StV 2002, 263; NStZ 1999, 253). Ebenso wenig dürfen weder Anzahl noch Höhe der noch zu vollstreckenden Strafen beziehungsweise Strafreste als eigenständige Gesichtspunkte in die Ermessensentscheidung einfließen, weil diese Erwägungen an das Ausmaß der Tatschuld anknüpfen und daher als Kriterium der Strafzumessung bei der Entscheidung nach § 35 Abs. 1 BtMG gerade nicht zu berücksichtigen sind (Senat, StV 2003, 287).
31 
Schließlich kommt hinzu, dass § 454b Abs. 2 Satz 2 StPO bei prognostischer Rechtfertigung einer erneuten Aussetzung widerrufener Strafreste gem. § 57 StGB - oder vorliegend gegebenenfalls gem. § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG - nicht entgegensteht (Senat, StV 2003, 348; OLG Celle NStZ-RR 2014, 61; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 57 Rn. 2 und 8; HK-StPO/Pollähne aaO § 454b Rn. 5).
32 
5. Sollte die Vollstreckungsbehörde in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dem Antrag entsprechend auch bezüglich bereits vollständig vollstreckter Strafen (nach dem 20.06.2018) vornehmen, darf die zunächst getroffene, vom Senat aufgehobene Entscheidung dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereichen (BVerfG NStZ 1988, 474; LR-StPO/Graalmann-Scheerer aaO § 454b Rn. 25; SK-StPO/Paeffgen aaO § 454b Rn. 19 [jeweils betreffend Verstoß gegen § 454b Abs. 2 StPO]). Als Lösungswege werden das materiell-rechtliche „Anrechnungsmodell“ und das vollstreckungsrechtliche „Rückwirkungsmodell“ vertreten. Nach Ansicht des Senats dürfte jedenfalls bei vorliegender Vollstreckungslage das Rückwirkungsmodell zur Anwendung kommen, da bei bereits vollständiger Vollstreckung nur hierdurch dem Verurteilten kein Nachteil entstehen kann (so auch OLG Frankfurt NStZ 1990, 254; OLG Naumburg NStZ 1997, 56 [als Alternativmöglichkeit]; LR-StPO/Graalmann-Scheerer aaO § 454b Rn. 29; SK-StPO/Paeffgen aaO § 454b Rn. 22, 22a; KK-StPO/Appl, 7. Aufl. 2013, § 454b Rn. 8; vgl. allerdings OLG Karlsruhe - 3. Strafsenat - NStZ-RR 1996, 60 [keine vollständige Vollstreckung]; Pohlmann/Jabel/Wolf, StVollstrO, 9. Aufl. 2016, § 43 Rn. 33, weisen auf die fehlende Bedeutung des „sehr feinsinnigen“ Streits für die Praxis hin). Für diese Weise des Nachteilsausgleichs spricht insbesondere, dass der Gesetzgeber durch die Einführung von § 454b Abs. 2 Satz 3 StPO durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22.12.2006 ebenfalls dem Rückwirkungsmodell den Vorzug gegeben hat.
33 
Sollte es daher unter der Vorgabe, dass alle Strafreste als zurückstellungsfähig erachtet werden, zu einer Änderung der Vollstreckungsreihenfolge kommen, wäre bei Heranziehung des Rückwirkungsmodells der Vollstreckungszeitraum ab dem 21.06.2018 auf die Strafe aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Br vom 03.05.2018 nachträglich anzurechnen. Andernfalls schlösse sich zunächst erst noch die Vollstreckung eines nicht zurückstellungsfähigen Strafrestes an.
34 
6. Da es noch ergänzender Bewertungen der Vollstreckungsbehörde bedarf und im Übrigen auch eine Ermessensreduzierung auf null nicht zwingend vorliegen dürfte, ist die Sache noch nicht spruchreif (§ 28 Abs. 2 Satz 1 EGGVG); daher ist dem Senat eine abschließende Entscheidung verwehrt. Die Vollstreckungsbehörde hat den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden (§ 28 Abs. 2 Satz 2 EGGVG).
III.
35 
Eine Kostengrundentscheidung nach §§ 1 Abs. 2 Nr. 19, 22 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Teil 1 Hauptabschnitt 5, Abschnitt 3, Nr. 14300 bzw. 15301 KV GNotKG ist nicht veranlasst, da der Antrag weder zurückgenommen noch (insgesamt) zurückgewiesen wurde. Unter Berücksichtigung des Teilerfolges des Antrages wurde dieser bei der Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers mit zwei Drittel bemessen (§ 30 Satz 1 EGGVG).
36 
Die Bemessung des Geschäftswertes ergibt sich aus §§ 36 Abs. 3, 79 Abs. 1 Satz 1 GNotKG. Danach ist in Ermangelung genügender Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Wertes ein Geschäftswert von 5.000,- EUR anzusetzen (OLG Celle NStZ-RR 2014, 64).
37 
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht geboten, da die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Satz 1 EGGVG nicht vorliegen. Die Entscheidung lässt sich mit der Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGHSt 57, 155) in Einklang bringen. Ferner ist in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass die Ermöglichung einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG die Vollstreckungsreihenfolge als „wichtiger Grund“ im Sinne des § 43 Abs. 4 StVollstrO beeinflussen kann.

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