Beschluss vom Oberlandesgericht Koblenz (1. Strafsenat) - (1) 4420 BL - III - 23/06

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Koblenz vom 29. März 2006 (30 Gs 1235/06) wird aufgehoben.

Gründe

1

Der Angeklagte befindet sich aufgrund des auf Flucht- und Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Koblenz vom 29. März 2006 seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft.

2

Er ist aufgrund seines im Vorführungstermin vom 29. März 2006 abgelegten Geständnisses der ihm im Haftbefehl und in der Anklageschrift vom 19. April 2006 zur Last gelegten 4 Sexualdelikte zum Nachteil des am 26. Juli 2001 geborenen Christian F. dringend verdächtig. Obwohl auch der Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht werden kann (weshalb der vom Amtsgericht zusätzlich angeführte Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 2 StPO ausscheidet), muß der Haftbefehl aufgehoben werden, weil die besonderen Haftvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO offensichtlich nicht vorliegen.

3

Daß in der weder besonders umfangreichen noch besonders schwierigen Sache bisher kein Urteil ergangen ist, hat seinem Grund in vermeidbaren Verzögerungen, die nicht dem Angeklagten angelastet werden können:

4

Noch vor Anklageerhebung hatte die Staatsanwaltschaft beschlossen, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten über den einschlägig vorbestraften Angeklagten einzuholen und - nach Rücksprache mit dem Verteidiger - Dr. B. beauftragt. Mit Schriftsatz vom 20. April 2006 teilte der Verteidiger mit, er habe vor dem Hintergrund des Beschlusses des Bundesgerichtshofes vom 12. November 2004 (2 StR 367/04) Zweifel an der Qualifikation des Sachverständigen und kündigte zugleich an, sein Mandant werde gegenüber Dr. B. von seinem Schweigerecht Gebrauch machen.

5

Am 30. Mai 2006 beschloß die nach Anklageerhebung zuständige 4. Strafkammer des Landgerichts Koblenz, statt Dr. B. die von der Verteidigung als eine von 3 Sachverständigen vorgeschlagene Dr. J. mit der Begutachtung zu beauftragen (und die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bis zum Eingang des schriftlichen Gutachtens zurückzustellen). Mit Schreiben vom selben Tage bat der Vorsitzende die Sachverständige unter Hinweis auf die Untersuchungshaft „um beschleunigte Bearbeitung sowie Mitteilung, bis wann das Gutachten vorgelegt werden kann“. Außerdem verfügte er eine Wiedervorlagefrist von 2 Monaten. Eine Antwort der Sachverständigen erhielt er nicht; nach Aktenlage fragte er auch nicht nach.

6

Eine Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft an das Gericht vom 25. Juli 2006 blieb unbearbeitet. Auf Nachfrage der Vertreterin des Opfers vom 26. Juli 2006 teilte der Vorsitzende mit Schreiben vom 16. August 2006 mit, die Akten seien an eine Sachverständige versandt. Mit Schreiben vom selben Tage richtete er eine Sachstandsanfrage an Dr. J.. Diese antwortete mit Schreiben vom 30. August 2006 wie folgt:

7

… dass ich von Mitte Juli bis Ende September bis auf 6 Tage jeden Tag Hauptverhandlung bei Gericht habe. Bei der Annahme des Gutachtenauftrages … habe ich meine Kraftreserven wohl überschätzt. Ich werde Herrn T. erst in der 2. Septemberhälfte explorieren können, …“

8

Mit Verfügung vom 31. August 2006, die von der Geschäftsstelle nicht ausgeführt wurde, und vom 7. September 2006 forderte der Vorsitzende die Akten zurück, die bei der Sachverständigen aber offenbar zunächst nicht auffindbar waren und schließlich erst am 15. September 2006 zurück gelangten.

9

Mit Beschluß vom selben Tage hat das Gericht die Beauftragung von Dr. J. aufgehoben und einen anderen Facharzt beauftragt, der inzwischen mitgeteilt hat, er werde den Angeklagten am 16. Oktober 2006 explorieren und Anfang November 2006 ein schriftliches Gutachten vorlegen.

10

Ebenfalls am 15. September 2006 hat die Kammer unter Zulassung der Anklage vom 19. April 2006 das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer angeordnet. Termin zur Hauptverhandlung ist auf den 16. November 2006 bestimmt.

11

Bei dieser Sachlage kann ein „anderer wichtiger Grund“ im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO nicht bejaht werden. Auch die bei Einholung eines Sachverständigengutachtens eintretenden Verzögerungen können einer Haftfortdauer allenfalls dann nicht entgegenstehen, wenn sie dem Einflußbereich der Ermittlungsbehörden und des Gerichts gänzlich entzogen sind. Diese haben daher stets auf die zeitnahe Erstellung eines Gutachtens hinzuwirken. Deshalb sind in der Regel (vorherige) Terminsvereinbarungen und Terminskontrollen ebenso unerläßlich wie die Prüfung, ob eine zeitnähere Gutachtenerstellung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist (siehe Thüringer Oberlandesgericht, Beschl. v. 17.11.2004 - 1 HEs 39/04 in juris, siehe auch StV 04, 665; OLG Hamm StV 00, 629 m.w.N.; Senatsbeschl. v. 28.05.2002 - [1) 4420 Bl - III - 39/02). Mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist es keinesfalls zu vereinbaren, wenn - wie hier - 5 Monate nach der Mitteilung des Angeklagten, er werde bei dem zunächst beauftragten Sachverständigen schweigen, die Exploration immer noch aussteht.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen

This content does not contain any references.