Beschluss vom Oberlandesgericht Koblenz (2. Strafsenat) - 2 Ws 88/18

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten W. wird die Verfügung des Vorsitzenden der 12. Strafkammer - Staatsschutzkammer - vom 14. Dezember 2017 aufgehoben, soweit darin die Fertigstellung des Protokolls für die vom 20. August 2012 bis zum 5. April 2017 andauernde Hauptverhandlung abgelehnt wurde.

Das Protokoll dieser Hauptverhandlung ist gemäß § 271 StPO fertigzustellen. Anschließend ist den Verfahrensbeteiligten, soweit sie dies beantragen, Akteneinsicht zu gewähren.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Angeklagten W. insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

1.

1

Am 14. Juni 2012 erhob die Staatsanwaltschaft gegen die Angeklagten L., W., [...] und neun weitere Beschuldigte, gegen die das Verfahren bereits abgeschlossen ist, Anklage zur 12. großen Strafkammer - Staatsschutzkammer - des Landgerichts Koblenz. Den Angeklagten werden Gründung einer bzw. mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB sowie weitere Straftaten zur Last gelegt. Durch Beschluss vom 6. August 2012 hat die Strafkammer die Anklage im Wesentlichen zugelassen und das Hauptverfahren gegen die Angeklagten eröffnet.

2

Eine erste Hauptverhandlung begann am 20. August 2012 und dauerte bis zum 5. April 2017 an, wobei an 337 Tagen verhandelt wurde. Gegen vier geständige, nach Jugendstrafrecht zu beurteilende Angeklagte wurde das Verfahren abgetrennt und durch Urteil vom 21. November 2013 abgeschlossen. Gegen fünf weitere Angeklagte stellte die Kammer das Verfahren im Zeitraum von Februar 2014 bis Oktober 2016 auf Antrag bzw. mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft nach strafprozessualen Ermessensvorschriften ein.

3

Am 2. Mai 2017 setzte die Kammer die Hauptverhandlung gemäß § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO im Hinblick auf das mit Ablauf des Monats Juni 2017 bevorstehende Ausscheiden des Vorsitzenden Richters wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze aus. Mit Beschluss vom 29. Mai 2017 stellte die Strafkammer das Verfahren gemäß § 206a StPO wegen überlanger Verfahrensdauer ein. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat der Senat die Verfahrenseinstellung aufgehoben und angeordnet, dass das Verfahren fortzusetzen und eine neue Hauptverhandlung durchzuführen ist (Beschl. 2 Ws 406 - 419/17 v. 04.12.2017).

2.

4

Das Protokoll für die bis zum 5. April 2017 durchgeführte Hauptverhandlung ist nicht fertig gestellt. Bislang liegen für die einzelnen Sitzungstage lediglich von den jeweiligen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle hergestellte, zum Teil unterzeichnete Entwürfe vor, die - mit Ausnahme einiger Tagesprotokolle - noch nicht von dem hierfür zuständigen Richter unterzeichnet sind. Folglich ist auch der Tag der Fertigstellung nicht angegeben.

5

Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2017 haben die Verteidiger des Angeklagten W. beantragt, „ein ordnungsgemäßes Hauptverhandlungsprotokoll mit Urkundsqualität zu erstellen“ und im Wege der Akteneinsicht zugänglich zu machen. Der Vorsitzende der Strafkammer hat am 14. Dezember 2017 mitgeteilt, dass eine Notwendigkeit zur Fertigstellung des Protokolls nach Aussetzung der Hauptverhandlung nicht mehr bestehe, und den Antrag abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte W. mit seiner Beschwerde vom 21. Dezember 2017.

6

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.

II.

7

Das Rechtsmittel ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

1.

8

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist der Angeklagte durch die Versagung der beantragten Fertigstellung des Protokolls beschwert. Die vor der Fertigstellung des Gesamtprotokolls hergestellten Protokollteile und sonstigen Aufzeichnungen haben lediglich Entwurfscharakter und werden erst mit der Fertigstellung Bestandteil der Akten mit der Folge, dass sich das Einsichtsrecht des Verteidigers gemäß § 147 Abs. 1 StPO darauf erstreckt (vgl. BGHR StPO § 271 Abs. 1 Fertigstellung 1 ; BGHSt 29, 394; bei Dallinger, MDR 1975, 725; MüKo-StPO/Valerius, § 271 Rn. 33). Da vorher ein Anspruch auf Akteneinsicht in das Hauptverhandlungsprotokoll nicht besteht, werden die Rechte des Angeklagten durch eine Unterlassung der Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls unmittelbar berührt und beeinträchtigt.

9

Es handelt sich bei der angegriffenen Verfügung auch nicht um eine der Urteilsfällung vorausgehende, dem Beschwerderecht entzogene Entscheidung des Gerichts im Sinne von § 305 Satz 1 StPO. Der Ausschluss der Beschwerde gilt entsprechend dem Gesetzeszweck nur, wenn das Urteil selbst anfechtbar ist und auch nur für solche Entscheidungen, die in einem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 60. Aufl. § 305 Rn. 1 mwN.). Die hier offensichtlich von verfahrensökonomischen Erwägungen getragene, von § 271 Abs. 1 StPO nicht gedeckte Unterlassung dient ersichtlich nicht der Vorbereitung des noch zu fällenden Urteils. Sie entfaltet aus den nachfolgend dargestellten Gründen auch eine Verfahrenswirkung, die das Recht der Angeklagten auf eine effektive Verteidigung beeinträchtigt.

2.

10

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Verteidigung des Angeklagten W. hat Anspruch auf Akteneinsicht in ein gemäß den Vorschriften der Strafprozessordnung erstelltes und fertig gestelltes Protokoll der am 2. Mai 2017 ausgesetzten Hauptverhandlung.

11

a) Nach § 147 Abs. 1 StPO ist der Verteidiger befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen, einzusehen. Diese Befugnis soll dem Angeklagten eine wirksame Verteidigung ermöglichen, und zwar regelmäßig unabhängig vom Verfahrensstadium und davon, ob sich der Angeklagte auf freiem Fuß oder in Untersuchungshaft befindet. Sie erstreckt sich nach dem Wortlaut des Gesetzes auf alle dem Gericht vorliegenden Akten, gleichviel, ob diese dem Gericht mit der Anklageschrift übersandt oder - wie hier das Hauptverhandlungsprotokoll - von ihm selbst angelegt worden sind (vgl. BGHSt 37, 204 ). Durch das Akteneinsichtsrecht soll eine lückenlose Information über die im Verfahren angefallenen schriftlichen Unterlagen ermöglicht werden (BGH aaO. Rn. 7). Dabei obliegt die Auswahl der Vorgänge, die der Verteidigung zur Kenntnis gebracht werden, nicht dem Gerichtsvorsitzenden. Das Akteneinsichtsrecht umfasst vielmehr die Befugnis der Verteidigung, in eigener Verantwortung zu prüfen, welche Unterlagen verteidigungsrelevant sein können. Nur durch die Möglichkeit der Einsicht in alle den Angeklagten betreffenden und bei Gericht vorliegenden Unterlagen wird eine lückenlose Information und damit die Möglichkeit wirksamer Verteidigung gewährleistet (BGH aaO. Rn. 8). Deshalb darf nichts, was Bestandteil der Akten geworden ist, der Einsicht durch den Verteidiger entzogen werden (vgl. OLG Koblenz NJW 1981, 570; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO. § 147 Rn. 14).

12

Demzufolge unterläuft die hier praktizierte Unterlassung der Fertigstellung des Protokolls das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung, da das Protokoll - wie dargestellt - erst mit seiner Fertigstellung Bestandteil der Akten wird und gemäß § 147 Abs. 1 StPO eingesehen werden kann. Die Verteidigung kann hier nicht auf die Möglichkeit der Einsicht in die vorliegenden Protokollentwürfe verwiesen werden, da diese nicht in gleichem Maße wie eine gemäß § 271 Abs. 1 StPO fertiggestellte Protokollurkunde eine Richtigkeitsgewähr für die in ihm festgehaltenen Vorgänge bieten.

13

b) Aus § 271 Abs. 1 StPO ergibt sich nichts anderes. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist über die Hauptverhandlung ein Protokoll aufzunehmen und von dem Vorsitzenden und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, soweit dieser in der Hauptverhandlung anwesend war, zu unterschreiben. Die Möglichkeit, dass unter bestimmten Voraussetzungen von der Fertigstellung des Protokolls abgesehen werden kann, sieht die Strafprozessordnung nicht vor. Das Hauptverhandlungsprotokoll muss deshalb immer fertig gestellt werden, auch wenn das Verfahren nach Eröffnung wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt (§§ 206a Abs. 1, 260 Abs. 3 StPO) oder gegen ein in der Hauptverhandlung verkündetes Urteil ein Rechtsmittel nicht eingelegt wird.

14

Nichts anderes kann für den hier zu entscheidenden Fall einer ausgesetzten Hauptverhandlung gelten. Zwar wird der Zweck der Fertigstellung des Protokolls - neben der Funktion als Voraussetzung der Urteilszustellung (§ 273 Abs. 4 StPO) - hauptsächlich darin gesehen, es dem Revisionsgericht zu ermöglichen, den ordnungsgemäßen Ablauf der Hauptverhandlung zu überprüfen und über die Begründetheit von Verfahrensrügen zu entscheiden (vgl. MüKo-StPO/Valerius, § 271 Rn. 2 mwN.), was vorliegend in Bezug auf die ausgesetzte Hauptverhandlung nicht mehr von Belang ist, weil aufgrund dieser ein Urteil nicht ergangen ist.

15

Gleichwohl kann in Bezug auf den weiteren Gang des Verfahrens nicht offen bleiben, ob bestimmte Ereignisse in der Hauptverhandlung stattgefunden haben oder nicht. Denn gemäß § 274 StPO kann die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Die Verteidigung muss sich daher darüber vergewissern können, ob Verfahrenshandlungen stattgefunden haben, die auch für eine neue Hauptverhandlung von Bedeutung sind. Dies betrifft etwa zu erteilende rechtliche Hinweise gemäß § 265 Abs. 1 StPO, welche grundsätzlich für das gesamte weitere Verfahren fortwirken (vgl. LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl. § 265 Rn. 13, 67; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO. § 265 Rn. 25), ebenso wie ein gegen eine Beweisverwertung erhobener Widerspruch, der in der neuen Hauptverhandlung nicht wiederholt zu werden braucht (vgl. OLG Stuttgart, StV 2001, 388; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO. § 136 Rn. 23). Gleiches gilt für die Frage, ob die vorgeschriebene qualifizierte Belehrung eines Zeugen erfolgt ist oder nicht, weil die Belehrungen von Zeugen und die dazu von ihnen abgegebenen Erklärungen im Protokoll beurkundet werden müssen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO. § 52 Rn. 30). Für das weitere Verfahren können auch gemäß § 273 Abs. 3 StPO zu protokollierende Vorgänge in der Hauptverhandlung oder der Wortlaut von Aussagen oder Äußerungen, auf deren Feststellung es ankommt, von Bedeutung sein, etwa wenn sie Anlass zu Beweisanträgen oder weiterer Sachaufklärung bieten oder wenn sie für die Beweiswürdigung von besonderer Bedeutung sind (Meyer-Goßner/Schmitt, aaO. § 273 Rn. 22).

3.

16

Das Protokoll der ausgesetzten Hauptverhandlung ist folglich fertigzustellen. Es ist gemäß § 271 Abs. 1 Satz 1 StPO von den dort genannten Personen zu unterschreiben und der Tag der Fertigstellung ist darin anzugeben. Da der vormalige Strafkammervorsitzende wegen Ausscheidens aus dem Dienst verhindert ist (vgl. MüKo-StPO/Valerius, aaO. § 271 Rn. 26), hat für ihn der älteste beisitzende Richter zu unterschreiben (§ 271 Abs. 2 S. 1 StPO).

17

Der Senat weist darauf hin, dass der Angeklagte oder seine Verteidiger die Erteilung von Protokollabschriften des Hauptverhandlungsprotokolls nicht beanspruchen können. Der Anspruch auf Erteilung von Abschriften nach § 35 Abs. 1 Satz 2 StPO bezieht sich allein auf Entscheidungen und nicht auf andere Aktenbestandteile (vgl. KG Berlin, 3 AR 96/95 v. 04.06.1997 - Rn. 4 n. juris).

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