Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (7. Zivilsenat) - 7 U 152/15

Tenor

I. Die Beklagte wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass ihre Berufung vom 18. November 2015 gegen das angefochtene Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 21. Oktober 2015 offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.

III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf bis zu 30.000 € (25.000 € ausgeurteiltes weiteres Schmerzensgeld + 5.000 € Feststellungsantrag für künftige immaterielle Schäden) festzusetzen.

Gründe

1

Die Berufung der Beklagten hat im Sinne von § 522 Abs. 2 ZPO offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung wird Bezug genommen. Die Ausführungen der Beklagten aus der Berufungsbegründung vom 25. Januar 2016 rechtfertigen keine andere Entscheidung. Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:

2

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts befand sich die Klägerin zum Unfallzeitpunkt (23. Januar 2008) noch innerhalb ihres Pkw Renault Twingo, als mindestens noch ein weiteres Fahrzeug, nämlich der Pkw Mercedes der Unfallbeteiligten T, auf das klägerische Fahrzeug auffuhr. Die Beweiswürdigung des Landgerichts (Seite 7 und 8 des Urteils) ist gemäß § 286 ZPO nicht zu beanstanden. Mängel in der Beweiswürdigung sind nicht erkennbar. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Grundsätze grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (Zöller-Greger, ZPO, 31. Auflage, § 286 Rn. 13 m. w. N.). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Die Beweiswürdigung stützt sich insbesondere auf die glaubhaften Bekundungen des Zeugen S. Dieser hat erklärt, dass die Klägerin zunächst noch versucht habe, durch die Dachluke aus ihrem Fahrzeug zu gelangen, dies sei ihr jedoch vor der Kollision des von hinten herannahenden Mercedes nicht mehr gelungen. Geringfügige Abweichungen zwischen dem Vortrag der Klägerin und den Bekundungen des Zeugen S vermögen die Glaubhaftigkeit dieser Zeugenbekundungen nicht zu erschüttern. Schließlich hatte sich der Unfall zum Zeitpunkt der Zeugenvernehmung bereits vor fünf Jahren ereignet. Die Bekundungen des Zeugen B sind hingegen unergiebig. Hinsichtlich der Bekundungen des Zeugen B ist zu berücksichtigen, dass er selbst an dem Unfall beteiligt war und es sich bei seinen Bekundungen im Wesentlichen nur um Schlussfolgerungen gehandelt hat.

3

Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme nicht mehr im reinen Ermessen des Gerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (Zöller-Heßler, ZPO, 31. Auflage, Rn. 4). Solche konkreten Anhaltspunkte werden mit der Berufung jedoch nicht vorgetragen.

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2. Das Landgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als Folge des Unfallgeschehens eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erlitten hat. Dies haben die beiden gerichtlichen Sachverständigen Dr. B und Dr. L (Obergutachten) übereinstimmend bestätigt. Nach Einschätzung des gerichtlichen Obergutachters Dr. L kann sogar die streitige Tatsache, ob sich die Klägerin noch zum Zeitpunkt des nachfolgenden Zusammenstoßes im Fahrzeug befunden hat, für die Diagnose einer unfallbedingten PTBS dahingestellt bleiben. Allein die Erwartung dessen, dass - wie hier bei Dunkelheit und nasser Fahrbahn auf einer Bundesautobahn - Folgeverkehr in das klägerische Fahrzeug auffährt, kann zu Todesangst und Entsetzen führen. Der Obergutachter Dr. L ist nach Auswertung sämtlicher Vorbefunde zu dem Ergebnis gelangt, dass alle Kriterien (A-, B- und C-Kriterien) nach DSM IV und ICD X für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung bei der Klägerin vollständig erfüllt sind. Hinweise auf eine Simulation der Erkrankung oder Aggravationstendenzen haben beide Gerichtssachverständige nicht feststellen können. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch insoweit nicht zu beanstanden. Nach Vorlage des schriftlichen, psychiatrischen Gutachtens Dr. B vom 8. Oktober 2013 (Bl. 305-314 GA) und Einholung eines weiteren Ergänzungsgutachtens vom 18. März 2014 ist der Sachverständige Dr. B gemäß § 411 Abs. 3 ZPO im Termin am 6. Juni 2014 (Bl. 423-432 GA) unter Vorhalt der Einwendungen aus dem Privatgutachten Prof. Dr. S ausführlich ergänzend angehört worden. Dem Privatgutachter Prof. Dr. S wurde sogar die Möglichkeit eingeräumt, den gerichtlichen Gutachter Dr. B direkt zu befragen. Auf den Inhalt des Protokolls vom 6. Juni 2014 (Bd. II Bl. 423-432 GA) wird vollumfänglich Bezug genommen.

5

Zu Recht hat das Landgericht sodann gemäß § 412 ZPO ein neues Gutachten durch den psychiatrischen Sachverständigen Dr. L eingeholt. Das Gericht kann auch bei Vorliegen einander widersprechender Gutachten - nach seinem Ermessen - ein Obergutachten in Auftrag geben (Zöller-Greger, ZPO, 31. Auflage, § 412 Rn. 1 m. w. N.). Der Begriff „ungenügendes Gutachten“ im Sinne von § 412 Abs. 1 ZPO ist insoweit durchaus mehrdeutig. Die Grundsätze der freien Beweiswürdigung im Sinne von § 286 ZPO sind nicht verletzt. Die Rechte der Beteiligten finden im Beweisverfahren ihre Grenzen in den §§ 412, 485 Abs. 3 ZPO. Die Entscheidung, ob ein neues Gutachten im Sinne von § 412 Abs. 1 ZPO angeordnet werden soll, unterliegt der freien Beweiswürdigung des Gerichts. Wenn das Gericht aus einem bereits vorliegenden Gerichtsgutachten trotz ergänzender Anhörung des Sachverständigen (noch) keine sichere Überzeugung gewinnen kann, kann es eine neue Begutachtung anordnen, wenn eine Partei substantiierte, nicht von vornherein widerlegbare Einwendungen gegen die Richtigkeit des Gutachtens erhebt oder wenn insbesondere schwierige Fragen zu lösen sind (vgl. OLG Köln, Urteil vom 06.02.2014, Az.: 18 U 89/08, zitiert in juris, Rn. 103; mit Hinweis auf BGH; Urteil vom 29.11.1995, NJW 1996, 730). Diese Voraussetzungen lagen hier vor.

6

Das Landgericht hat sich auch hinreichend mit den Einwendungen des Privatgutachters Prof. Dr. S auseinandergesetzt. Schließlich hat auch der Obergutachter Dr. L in seinem psychiatrischen Gutachten vom 21. Dezember 2014 sowie in seinem mündlichen Ergänzungsgutachten vom 5. Juni 2015 (vgl. Bd. III Bl. 595-597 GA mit der im Termin am 5. Juni 2015 überreichten schriftlichen Stellungnahme, Bl. 600 ff. GA) die Feststellungen des Gerichts hinsichtlich der Annahme einer unfallbedingten PTBS bestätigt. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 5. Juni 2015 hat der Sachverständige Dr. L nochmals ausgeführt, dass grundsätzlich die Beschwerdeschilderung eines Geschädigten nicht unkritisch übernommen werde und Simulation und Aggravationstendenzen selbstverständlich gutachterlich zu berücksichtigen seien (vgl. S.4. der schriftlichen Stellungnahme, Bl. 600 ff. GA). Der Einsatz testpsychologischer Verfahren sei im Rahmen der PTBS-Begutachtung zur Objektivierung der Symptomatik jedoch weder möglich noch sinnvoll. Gegen Simulation und Aggravation sprechen -so der Sachverständige Dr. L - hier insbesondere die kongruenten Schilderungen der Klägerin im zeitlichen Verlauf, die Symptome einer PTBS seien nachvollziehbar berichtet und von unterschiedlichen Behandlern dokumentiert worden. Das schriftliche Gutachten Dr. L vom 21. Dezember 2014 weist - auch nach Auffassung des Senats - weder methodische noch fachliche Mängel auf. Mit ihrer Berufung wiederholt die Beklagte im Wesentlichen nur ihre Einwendungen gegen die Aussagen und Feststellungen der beiden gerichtlichen Gutachter Dr. B und Dr. L. Beide gerichtlichen Gutachter sind übereinstimmend - wie im Übrigen auch die behandelnden ambulanten Therapeuten - zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin aufgrund des Unfalls vom 23. Januar 2008 unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Zweifel an der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen bestehen nicht. Die Beklagte setzt lediglich ihre eigene Bewertung an die Stelle der Beweiswürdigung des Landgerichts. Das Landgericht hat eine umfassende Würdigung vorgenommen und ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass die von der Klägerin behaupteten psychischen Beeinträchtigungen eine Folge des erlittenen Verkehrsunfalls sind.

7

Eine Gehörsverletzung liegt nicht vor. Die Beklagte hatte hinreichende Gelegenheit, zu den beiden gerichtlichen Gutachten Stellung zu nehmen. Der Berufung zugänglich ist lediglich eine falsche oder fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Landgericht. Die Ausführungen des Privatgutachters Prof. Dr. S sind nicht geeignet, die Beweisaufnahme im Sinne von §§ 529, 531 ZPO zu wiederholen oder zu ergänzen.

8

3. Gemäß § 253 Abs. 2 BGB steht der Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld zu. Wegen der bei dem Verkehrsunfall nachweislich erlittenen posttraumatischen Belastungsstörung steht ihr ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 40.000 € zu, mit der Folge, dass die Beklagte an die Klägerin - nach Abzug der bereits geleisteten 15.000 € - noch ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 € zu zahlen hat. Die Bemessung des Schmerzensgeldes ist Sache des Tatrichters. Das Berufungsgericht ist zwar nicht an die Schätzung des erstinstanzlichen Gerichts gebunden, es kann jedoch nur aufgrund einer berechtigten Rüge gemäß § 513 Abs. 1 ZPO das zuerkannte Schmerzensgeld ermäßigen. Insoweit liegen jedoch keine Berufungsgründe im Sinne von § 513 Abs. 1 ZPO vor. Das Landgericht hat auf den Seiten 9 und 10 des angefochtenen Urteils ausführlich dargelegt, anhand welcher Kriterien es zu der Schätzung gelangt ist. Aus dem mit der Berufungserwiderung vorgelegten Attest des Hausarztes Dr. K vom 02. September 2013 (Anlage BB 3, Bl. 906 GA) ergibt sich, dass die Klägerin als alleinerziehende Mutter vor dem Unfall eine lebensbejahende Frau war, die trotz ihrer anstrengenden Arbeit als Tierärztin und später in der Pharmaindustrie keine Anzeichen einer körperlichen oder mentalen Dekompensation aufwies. Erst nach dem Unfall sei es zu einem Verlust an Selbstvertrauen und zu einer akuten Verhaltensänderung bei der Klägerin gekommen.

9

Selbst mit der Berufungsbegründung vom 25. Januar 2016 hält die Beklagte im Übrigen noch an ihrer Behauptung fest, die gerichtlichen Sachverständigen hätten sich nicht objektivierend mit der Frage auseinandergesetzt, ob bei der Klägerin tatsächlich nicht eine Simulation oder Aggravation vorlag. Deshalb hat das Landgericht zu Recht auch das Regulierungs- und Prozessverhalten der Beklagten in diesem Zusammenhang bewertet. Die Schmerzensgeldhöhe ist nach alledem nicht zu beanstanden.

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4. Die Klägerin hat aufgrund der festgestellten posttraumatischen Belastungsstörung auch einen Anspruch auf Feststellung der Ersatzpflicht für künftige weitere immaterielle Schäden. Es besteht die Möglichkeit, dass auch künftig weitere, unfallbedingte und bisher noch nicht erkannte Leiden auftreten und sich der Gesundheitszustand der Geschädigten weiter verschlechtert. Deshalb besteht auch ein entsprechendes Feststellungsinteresse.

11

Nach alledem hat die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.


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