Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 Ws 338/15

Tenor

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Tübingen wird der Beschluss des Landgerichts - 1. Große Strafkammer - Tübingen vom 31. August 2015

aufgehoben

und die Sache an das Landgericht - 1. Große Strafkammer - Tübingen

zurückverwiesen.

Gründe

 
I.
Mit Anklageschrift vom 26. Februar 2009 erhob die Staatsanwaltschaft Tübingen gegen die Angeschuldigten B und A sowie die weiteren vier Angeschuldigten C, D, E und F Anklage zum Landgericht - 2. Große Strafkammer - Tübingen wegen des Vorwurfs des gewerbsmäßigen Bandenbetruges, versuchten gewerbsmäßigen Bandenbetruges und gemeinschaftlichen Betruges in wechselnder Beteiligung. Den Angeschuldigten B und A wurden 18 Fälle des gewerbsmäßigen Betruges (Ziff. 1-16, 18, 19) und zwei Fälle des versuchten gewerbsmäßigen Betruges (Ziff. 17 und 20) vorgeworfen.
Im Folgenden ließ das Landgericht die erhobene Anklage jeweils nur teilweise zu und eröffnete nur insoweit das Hauptverfahren. Im Umfang der jeweiligen Zulassung und Eröffnung erfolgten Verurteilungen aller Angeklagten wegen der Taten Ziff. 18 und 19 durch Urteile vom 30. April 2009 (C und D), 20. Juli 2009 (B und E), 10. August 2009 (F) und 21. Mai 2010 (A) sowie des Angeklagten F wegen der Taten Ziff. 3, 10, 11, 14, 15 durch Urteil vom 12. Januar 2012 und des Angeklagten B wegen der Tat Ziff. 1 und des Angeklagten E wegen der Taten Ziff. 2, 9, 15 durch Urteil vom 9. Februar 2012. Bzgl. der Tat 17 erfolgte eine verfahrenseinstellende Entscheidung gem. § 154 Abs. 2 StPO. Im Übrigen erfolgte noch keine Entscheidung über die Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens.
Nachdem der Angeschuldigte B die gegen ihn im Urteil vom 20. Juli 2009 ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten zur Hälfte verbüßt hatte und nach am 31. Januar 2010 erfolgter Reststrafaussetzung zur Bewährung auf freien Fuße kam, erließ das Landgericht am 4. Oktober 2010 gegen B wegen des dringenden Verdachts im Hinblick auf die Tat Ziff. 1 einen Haftbefehl, was den Angeschuldigten dazu veranlasste, sich am 27. Oktober 2010 dem Landgericht Tübingen in den dortigen Räumlichkeiten selbst zu stellen, woraufhin der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wurde.
Am 7. Dezember 2012 regte der Vorsitzende der 2. Großen Strafkammer gegenüber der Staatsanwaltschaft wegen der noch nicht eröffneten Anklageteile die Rücknahme der Anklage an. Am 19. Dezember 2013 erhob die Staatsanwaltschaft Tübingen Anklage gegen B und A wegen der Taten Ziff. 2 - 16 (B) bzw. 1 - 16 (A) unter gleichzeitiger Rücknahme der Anklage vom 26. Februar 2009 bzgl. derjenigen Anklagevorwürfe, bzgl. derer über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht entschieden worden war.
Mit Beschluss vom 31. August 2015 hat das Landgericht - 1. Große Strafkammer - Tübingen sich für örtlich unzuständig erklärt.
Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft Tübingen am 9. September 2015 Beschwerde eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Das Landgericht - 1. Große Strafkammer - Tübingen ist im dort aufgrund der Anklage vom 19. Dezember 2013 anhängig gewordenen Verfahren wegen Straftaten des B als Gericht des Ergreifungsortes (§ 9 StPO) und wegen Straftaten des A als Gericht des Zusammenhangs (§ 13 Abs. 1 StPO) örtlich zuständig.
1.
Zu Recht hat die 1. Große Strafkammer im angefochtenen Beschluss zunächst darauf abgestellt, dass sich für die mit bislang nicht zugelassener Anklage vom 19. Dezember 2013 angeklagten Straftaten der Angeschuldigten B und A keine Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen aufgrund eines Wohnsitzes der Angeschuldigten im Landgerichtsbezirk ergibt. Auch liegt bzgl. dieser Straftaten keine tatörtliche Zuständigkeit beim Landgericht Tübingen. Wegen der Straftaten Ziff. 18 und 19 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 ist das Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen. Die ursprünglich gemäß § 13 Abs. 1 StPO über diese Straftaten vermittelte örtliche Zuständigkeit des Landgericht Tübingen für die mit diesen Straftaten im Zusammenhang (§ 3 StPO) stehenden weiteren Straftaten ist damit vor Eröffnung des Hauptverfahren entfallen (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 13 Rn. 1; OLG Zweibrücken, MDR 1979, 517; BGH NStZ 2004, 100).
2.
Das Landgericht Tübingen ist jedoch als Gericht des Ergreifungsortes des Angeschuldigten B örtlich zuständig (§ 9 StPO).
a)
10 
Der Angeschuldigte B hat sich am 27. Oktober 2010 dem Landgericht Tübingen selbst gestellt. Die Selbstgestellung erfolgte, nachdem die mit der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 angeklagten Taten Ziff. 18 und 19 gegen ihn bereits mit Urteil des Landgerichts Tübingen vom 20. Juli 2009 rechtskräftig abgeurteilt waren, bzgl. der übrigen angeklagten Taten das Hauptverfahren noch nicht eröffnet war und wegen der Tat Ziff. 1 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 das Landgericht Tübingen am 4. Oktober 2010 einen Haftbefehl erlassen hatte.
11 
Es ist anerkannt, dass auch eine Selbstgestellung ein „Ergreifen“ i.S.d. § 9 StPO darstellt (Scheuten in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, § 9 Rn. 2). Die Ergreifung setzt nicht den Erlass eines Haftbefehls voraus und beschränkt sich daher nicht auf eine in einem Haftbefehl genannte Tat (BGH, NJW 1999, 1412). Sie bezieht sich auch auf Taten, die nicht Gegenstand eines Haftbefehls waren, aber vor dem Ergreifen begangen wurden (BGH, NStZ-RR 2007, 114). Dies gilt auch für eine in einem Haftbefehl noch nicht enthaltene Tat einer nachfolgenden Anklage (BGH, aaO) und muss daher umso mehr gelten, wenn die vorangegangenen Taten bereits Gegenstand des durch Anklageerhebung bei Gericht anhängigen Strafverfahrens sind, in dessen Verlauf sich der Angeschuldigte stellt. So liegt es hier. Die Ergreifung des Angeschuldigten B erfolgte im zum Zeitpunkt seiner Selbstgestellung anhängigen Verfahren und bezog sich daher auf alle ihm in diesem Verfahren zur Last gelegten Taten.
12 
Insoweit fehl geht die Annahme der 1. Großen Strafkammer, die Ergreifung sei nur im Hinblick auf die im Haftbefehl vom 4. Oktober 2010 aufgeführte Tat (entsprechend Ziff. 1 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009) erfolgt, weshalb die Zuständigkeit des Ergreifungsortes nach rechtkräftiger Aburteilung des Angeschuldigten B wegen dieser Tat durch Urteil vom 9. Februar 2012 erledigt sei und deshalb weder originär noch über den Zusammengang gemäß § 13 Abs. 1 StPO eine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen begründen könne.
13 
Nur für Taten, die nach dem Ergreifen begangen - nicht: angeklagt - wurden, begründet § 9 StPO keine örtliche Zuständigkeit mehr. Für solche Taten kann sich im Falle einer Nachtragsanklage dann (nur) noch über den Zusammenhang gemäß § 13 Abs. 1 StPO eine Zuständigkeit ergeben, wenn die Zuständigkeit des Ergreifungsortes noch nicht erledigt ist (insoweit zutreffend: Erb in Leipziger Kommentar zur StPO, 26. Auflage, § 9 Rn. 9).
b)
14 
Die bzgl. des Angeschuldigten B begründete Zuständigkeit des Ergreifungsortes des Landgerichts Tübingen gilt bis heute. Sie bleibt solange bestehen, wie das Verfahren, wegen der Straftat(en), wegen der der Angeschuldigte ergriffen wurde, noch nicht erledigt ist (Scheuten in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage, § 9 Rn. 2; Stöckel in KMR, 50. EL (Juni 2008), § 9 Rn. 6).
15 
Eine Erledigung durch rechtskräftige, das Strafverfahren beendende Entscheidungen liegt bzgl. des Angeschuldigten B in Gestalt der Urteile des Landgerichts Tübingen vom 20. Juli 2009 und 9. Februar 2012 nur wegen der Taten Ziff. 1, 18 und 19 der Anklageschrift vom 26. Februar 2009 vor. Wegen der Taten Ziff. 2 bis 16 liegt - auch durch die Anklageerhebung vom 19. Dezember 2013 mit teilweiser Rücknahme der Anklage vom 26. Februar 2009 - noch keine Erledigung vor.
16 
Zwar ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der Anklageschrift vom 19. Dezember 2013 nicht nur um eine „korrigierende Fassung“ der Anklage vom 26. Februar 2009 handelt. Die gegenteilige Ansicht der Staatsanwaltschaft wird ihrer tatsächlichen Prozesshandlung nicht gerecht. So hat sie in ihrer Anklageschrift vom 19. Dezember 2013 ausdrücklich „die Anklage vom 26. Februar 2009 bzgl. derjenigen Anklagevorwürfe zurückgenommen, bzgl. derer über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht entschieden wurde“. Eine von ihr möglicherweise nur beabsichtigte Nachbesserung, wie sie im Vermerk des staatsanwaltschaftlichen Sachbearbeiters vom 13. November 2013 gegenüber dem Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft anklingt, ist damit tatsächlich nicht erfolgt und wäre auch auf eine Anregung des Vorsitzenden des Landgerichts schon deshalb nicht (mehr) zulässig, weil die Anklage vom 26. Februar 2009 bereits gemäß § 201 StPO mitgeteilt war (OLG Frankfurt, NStZ-RR 2003, 146; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2011, 251). Dementsprechend hatte der Vorsitzende mit seiner Mitteilung an die Staatsanwaltschaft am 7. Dezember 2012 auch nicht angeregt, die Anklage nachzubessern, sondern sie zurückzunehmen.
17 
Mit der wirksamen Anklagerücknahme war das Verfahren der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen zwar dort „erledigt“ in dem Sinne, dass die Anklage dort nicht mehr anhängig war. Auf die Beendigung der gerichtlichen Anhängigkeit kommt es aber nicht an. Vielmehr ist entscheidend, ob das Strafverfahren insgesamt erledigt ist. Denn der Staatsanwaltschaft muss es möglich sein, bis zum Abschluss des Strafverfahrens - etwa nach Anklagerücknahme vor Eröffnung des Hauptverfahrens - von der ihr zustehenden Wahlmöglichkeit der Gerichtsstände Gebrauch machen zu können.
18 
Eine abschließende „erledigende“ Entscheidung des mit der Rücknahme der Anklage wieder auf die Staatsanwaltschaft zurückfallenden Strafverfahrens liegt in diesem Moment nicht vor. Der Staatsanwaltschaft oblag es, das Strafverfahren nach Anklagerücknahme weiter zu betreiben. Hierzu stand ihr bei - vorliegend in logischer Sekunde zugleich erfolgter - Neuerhebung der Anklage der Gerichtsstand des Ergreifungsortes für die angeklagten Taten (Ziff. 2 bis 16) nach wie vor originär zur Verfügung.
19 
Insofern greifen auch die Bedenken des Landgerichts nicht durch, eine zu weitgehende Auslegung von § 9 StPO würde dazu führen, dass pauschal für alle vor dem Ergreifen begangener (und möglicherweise noch unbekannter) Taten ein Gerichtsstand nach § 9 StPO begründet würde, nur weil der Beschuldigte irgendwann einmal im Bezirk des Gerichts ergriffen worden ist. Wenn das Strafverfahren gegen B wegen der Taten Ziff. 2 bis 16 durch eine abschließende Entscheidung beendet ist, hat die im vorliegenden Strafverfahren eröffnete Zuständigkeit des Ergreifungsortes - auch für (derzeit möglicherweise noch unbekannte) Taten, die vor der Ergreifung begangen wurden - keinen Bestand mehr.
c)
20 
Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Tübingen für die Straftaten des A vermitteln sich gemäß § 13 Abs. 1 StPO über den Zusammenhang zu den Straftaten des B.
2.
21 
Die erneute Erhebung einer Anklage an das Landgericht Tübingen erscheint nicht offenkundig ermessensmissbräuchlich.
22 
Die Gerichtsstände der StPO stehen gleichberechtigt nebeneinander und bieten der Staatsanwaltschaft die Wahl, an welches Gericht sie die Anklage erhebt. Hierbei kommt der Staatsanwaltschaft eine Einschätzungsprärogative zu, die es ihr erlaubt, sich für den von ihr als zweckmäßig erachteten Gerichtsstand zu entscheiden. Das ausgewählte Gericht, bei dem ein Gerichtsstand begründet ist, hat diese Entscheidung grundsätzlich hinzunehmen. Insbesondere obliegt es dem Gericht nicht, die Zweckmäßigkeit zu prüfen. Nur ein offenkundiger Ermessensmissbrauch, der die Wahl der Staatsanwaltschaft so weit von sachlichen Erwägungen entfernt erscheinen lässt, dass das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt ist, hat das Gericht nicht mehr hinzunehmen (OLG Hamm, NStZ-RR 1999, 16; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 13 Rn. 2).
23 
Eine solchermaßen missbräuchliche Auswahl der Staatsanwaltschaft ist vorliegend nicht gegeben. Zwar lag die Begründung der Zuständigkeit des Ergreifungsortes bzgl. des Angeschuldigten B bei Anklageerhebung vom 19. Dezember 2013 bereits ca. drei Jahre und zwei Monate zurück. Beide Angeschuldigten befinden sich nicht mehr am Ergreifungsort. Auch sind gegebenenfalls nach Eröffnung des Hauptverfahrens eine - überschaubare - Anzahl von acht Zeugen in die Hauptverhandlung aus Düsseldorf, Bergheim, Münster, Euskirchen und Rheinbach zu laden. Andererseits stehen gegebenenfalls zwei ermittelnde Polizeibeamte aus dem nicht fernen Reutlingen als Zeugen zur Verfügung. In Bezug auf den wohl in Polen im - möglicherweise derzeit wegen Krankheit unterbrochenen - Strafvollzug aufhältigen Angeschuldigten A ist gegebenenfalls ein Auslieferungsverfahren zu betreiben, wozu es unerheblich erscheint, ob dieses von Tübingen oder den übrigen möglichen Gerichtsständen der Tatorte aus erfolgt.
24 
Vor allem aber verfolgt die Staatsanwaltschaft mit ihrer Entscheidung zur Anklageerhebung an das Landgericht Tübingen ersichtlich die Absicht, die dort bereits vorhandene Kenntnis des Verfahrens und der Einzelheiten der Anklagevorwürfe für das Verfahren möglichst prozessökonomisch und beschleunigt zu nutzen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine Anklageerhebung vor einem anderen, tatörtlich zuständigen Gericht auch eine Abgabe an die dortige Staatsanwaltschaft bedingt, was durch die damit einhergehende Neueinarbeitung auch eine erneute Verfahrensverzögerung erwarten ließe.

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