Urteil vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (1. Senat) - 1 LB 137/11

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 18. März 2011 – 2 A 62/09 – wie folgt abgeändert:

1. Die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen des Beklagten gegen den Kläger vom 1. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2008, Az. 11-200-sch, wird aufgehoben.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung des Klägers wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Aufhebung der Anordnung seiner erkennungsdienstlichen Behandlung.

2

Mit Verfügung vom 1. April 2008 ordnete die Polizei erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen den Kläger gem. § 81 b 2. Alt. StPO an. Anlass dieser Anordnung war ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz (Az.: StA Nbdbg 711 Js 2751/08). Im Zuge dieses Strafverfahrens erfolgte auf Grund eines Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts eine Wohnungsdurchsuchung beim Kläger. Dem Kläger wurde vorgeworfen, gemeinsam mit einem Mittäter an einer Schlägerei vor einer Diskothek beteiligt gewesen zu sein. Er soll mit geballten Fäusten und einem Schlagring auf den Geschädigten eingeschlagen und mit beschuhten Füßen mehrfach auf den Körper eingetreten haben.

3

Am 7. April 2008 legte der Kläger Widerspruch gegen die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ein und stellte einen Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung. Im gerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren vor dem Verwaltungsgericht Greifswald (Az.: 2 B 831/08) stellte der Beklagte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her, nachdem der Kläger Akteneinsicht in die Telefonüberwachungsprotokolle beantragt hatte und der Beklagte dem nicht nachkommen wollte.

4

Mit Beschluss vom 24. Juni 2008 hob das Landgericht Neubrandenburg (Az.: 8 QS 117/08, 8 QS 135/08, 8 QS 136/08) auf die Beschwerde des Klägers den amtsgerichtlichen Durchsuchungsbeschluss im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Kläger auf und führte zur Begründung aus, es bestünde kein Anfangsverdacht gegen den Kläger. Es läge vielmehr ein bloßes Gerücht und vage Verdächtigungen vor, die auf einem Gespräch zweier Personen beruhten.

5

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen mit der Begründung zurück, der Kläger sei bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Hierzu listete der Beklagte Ermittlungsverfahren gegen den Kläger seit dem Jahr 2001 auf.

6

Nach Zustellung des Widerspruchsbescheides am 18. Dezember 2008 hat der Kläger am 14. Januar 2009 gegen den Anordnungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids Klage beim Verwaltungsgericht erhoben. Er ist der Ansicht, die Voraussetzungen für die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen gem. § 81 b 2. Alt. StPO lägen nicht vor. Im Verfahren zum Az.: 711 Js 2751/08 fehle bereits ein Anfangsverdacht. Hierzu verweist der Kläger auf das Verfahren beim Landgericht Neubrandenburg. Es sei zu erwarten, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger zeitnah nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werde. Die weiteren im Widerspruchsbescheid aufgeführten Verfahren dürften ebenfalls vollständig oder nahezu vollständig gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden seien. Es bestehe keinerlei öffentliches Interesse bzw. Grund oder Anlass die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung durchzuführen.

7

Das Strafverfahren gegen den Kläger (Az.: 711 Js 2751/08) wurde im Laufe des erstinstanzlichen Verwaltungsprozesses durch die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

8

Der Beklagte hat an der Begründung seines Widerspruchsbescheides festgehalten und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 18. März 2011 Erklärungen zu weiteren Ermittlungsverfahren gegen den Kläger aus den Jahren 2010 und 2011 abgegeben.

9

Mit Urteil vom 18. März 2011 hat das Verwaltungsgericht Greifswald – 2 A 62/09 – die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zu präventiv-polizeilichen Zwecken ihre Rechtsgrundlage in § 81 b 2. Alt. StPO finde. Nach dieser Vorschrift dürften Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten angefertigt werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig sei. Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Erlasses des streitbefangenen Bescheides Beschuldigter eines Strafverfahrens und damit zulässiger Adressat der angefochtenen Maßnahme gewesen. Der spätere Wegfall der Beschuldigteneigenschaft infolge der Beendigung des Strafverfahrens durch Einstellung, Verurteilung oder Freispruch lasse die Rechtmäßigkeit der angeordneten Maßnahmen unberührt. Anlass für die Anordnung des Beklagten sei das gegen den Kläger wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz eingeleitete Ermittlungsverfahren aus dem Jahr 2008 gewesen, das gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei. Vorliegend sei der Tatverdacht gegen den Kläger – soweit die Anlasstat betroffen gewesen sei – ausweislich der staatsanwaltschaftlichen Abschlussverfügung vom 18. Juli 2008 nicht vollständig entfallen. Ein „Restverdacht“ bleibe bestehen. Es seien – so gehe es aus der bezeichneten Verfügung hervor – keine weiteren Ermittlungsansätze ersichtlich, wie die Beschuldigten der Tat noch überführt werden könnten. Der Geschädigte könne keine weiteren Angaben zu den Tätern machen. Zeugen seien nicht bekannt. Dies bedeute nicht, dass der Kläger nach Ansicht der Staatsanwaltschaft unschuldig sei. Zwar habe das Landgericht Neubrandenburg durch Beschluss vom 24. Juni 2008 die gegen die Wohnungsdurchsuchung gerichteten Beschwerden für begründet gehalten und den Anfangsverdacht verneint, weil keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Straftat vorgelegen hätten. Die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81 b 2. Alt. StPO setze jedoch mit der Bezugnahme auf den Begriff des „Beschuldigten“ lediglich die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach § 152 Abs. 2 StPO voraus. Die erkennungsdienstliche Behandlung sei vorliegend für die Zwecke des Erkennungsdienstes auch notwendig. Für die Beurteilung der Notwendigkeit komme es nicht nur auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme dieser Maßnahme an. Maßgeblich sei deshalb die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Bei der Prognose, ob eine Wiederholungsgefahr vorliege, könne ein Tatvorwurf auch hinsichtlich der Anlasstat – selbst dann berücksichtigt werden, wenn das Ermittlungsverfahren nach § 153 ff. StPO oder § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei. Denn dieser Umstand stehe einer Bewertung des zugrundeliegenden „Anfangsverdachtes“ sowie des Ermittlungsergebnisses nach den Maßstäben kriminalistischer Erfahrungen nicht entgegen. Vielmehr sei unter Würdigung der gesamten Umstände des Falls die Frage zu beantworten, ob mit der Einstellung des Strafverfahrens der Tatverdacht gegen den Beteiligten vollständig entfallen sei oder ob ein „Restverdacht“ gegeben sei. Weshalb begründete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Beteiligte auch in Zukunft Anlass zu polizeilichen Ermittlungen geben könne. Ein solcher Restverdacht bestehe. Die weiteren gegen den Kläger geführten Ermittlungsverfahren seien durch den Beklagten einbezogen worden. Diese Vorgänge bekräftigen die Annahme der polizeilichen Einschätzung, dass aus kriminalpolizeilicher Sicht damit zu rechnen sei, dass auch in Zukunft strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger geführt werden müssten.

10

Nach Zustellung des Urteils am 23. März 2011 hat der Kläger am 19. April 2011 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, den er am 19. Mai 2011 begründet hat.

11

Mit Beschluss vom 8. März 2017 hat der Senat die Berufung des Klägers zugelassen. Nach Zustellung des Beschlusses am 3. April 2017 hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 2. Mai 2017 und vom 6. Juni 2017 die Berufung rechtzeitig begründet.

12

Der Kläger hält an seinem erstinstanzlichen Vortrag fest und hebt insbesondere hervor, dass zwar grundsätzlich frühere und später hinzugekommene Strafverfahren in die Prognose der Wiederholungsgefahr mit einbezogen werden dürften, jedoch ersetzten diese nicht die Prüfung und Feststellung, dass die Wiederholungsgefahr sich zumindest auch aus dem Anlassverfahren ergeben müssten.

13

Der Kläger beantragt,

14

das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald, Az.: 2 A 62/09, vom 18. März 2011 zu ändern und die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen des Beklagten vom 1. April 2008 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2008 aufzuheben.

15

Der Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Der Beklagte ist der Ansicht, es bestehe trotz der Einstellung der Anlasstat nach § 170 Abs. 2 StPO ein Restverdacht. Der Kläger sei anhand von Beweismitteln, hier Zeugenaussagen etc., zunächst ernsthaft als Täter in Betracht gekommen. Aufgrund der unzureichenden Tatbeschreibung des Geschädigten hinsichtlich Tatvorgang etc. sei das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Darüber hinaus führt der Beklagte weiter zu den nach der Anordnung der erkennungsdienstlichen Maßnahme erhobenen Tatvorwürfen aus. Insbesondere in dem gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Verfahren zum Nachteil des Geschädigten H... habe der Tatverdacht nicht ausgeräumt werden können (StA Nbdbg. 749 Js 8556/09 Nötigung § 240 StGB und Bedrohung § 241 StGB). Zudem listet der Beklagte eine Vielzahl weiterer noch offener strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gegen den Kläger auf.

18

Der Berichterstatter hatte mit Schreiben vom 9. März 2016 bei der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg die Strafakte z. Az.: 711 Js 2751/08 angefordert. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg mit Schreiben vom 16. März 2016 mitgeteilt, dass die Akten dieses Verfahren bereits vernichtet worden sei.

19

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und übersandten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

20

Die vom Senat zugelassene Berufung ist zulässig; insbesondere rechtzeitig begründet worden.

II.

21

Die Berufung ist auch begründet. Die Anfechtungsklage des Klägers ist zulässig und begründet. Die angefochtene Anordnung zur erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers gemäß § 81b 2. Alt. StPO vom 1. April 2008 (084300/000011/03/07) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2008 (11-200-sch) ist rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Bescheide und das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts waren deshalb aufzuheben.

22

§ 81b StPO lautet:

23

Soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden.

24

Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm liegen nicht vor.

25

1. Zum Zeitpunkt der Anordnung – und zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides – war der Kläger zwar noch Beschuldigter der sog. Anlasstat. Das deshalb geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren (StA Nbdbg. Az.: 711 Js 2751/08) wurde erst im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Klagverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

26

Dass der Betroffene im strafrechtlichen Verfahren freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde, lässt die Anordnung der Maßnahme nicht rechtswidrig werden. Die Beschuldigteneigenschaft muss nicht bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung fortbestehen. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern reicht es aus, wenn die Beschuldigteneigenschaft des von der Anordnung Betroffenen zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme bestanden hat (OVG M-V, Urt. v. 25.11.2015 – 3 L 146/13 –, juris Rn. 51), sie muss insbesondere nicht auch noch zum Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vorhanden gewesen sein.

27

2. Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen war jedoch nicht notwendig.

28

Die Notwendigkeit im Sinne von § 81b StPO bestimmt sich danach, ob der Sachverhalt, der anlässlich des gegen den Beschuldigten gerichteten Strafverfahrens festgestellt wurde, nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Beschuldigte in den Kreis Verdächtiger einer noch aufzuklärenden anderen strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen fördern könnten. Den Ermittlungsbehörden kommt bei diesem Wahrscheinlichkeitsurteil über das künftige Verhalten des Betroffenen ein Beurteilungsspielraum zu (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 31.08.2010 – 11 ME 288/10 –, juris Rn. 5; OVG Magdeburg, Urt. v. 18.08.2010 – 3 L 372/09 –, juris Rn. 46). Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich insoweit darauf, ob die Prognose auf zutreffender Tatsachengrundlage beruht und ob sie nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage unter Einbeziehung des kriminalistischen Erfahrungswissens sachgerecht und vertretbar ist (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 20.04.2016 – 3 A 187/15 –, juris Rn. 22).

29

Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat dazu bereits entschieden, dass ein bloßer Verweis auf die (nicht mehr bestehende) Beschuldigteneigenschaft nicht ausreicht, um die Notwendigkeit der Maßnahmen zu begründen. Vielmehr muss die Behörde ihre Erwägungen darauf abstellen, ob trotz der Einstellung des Strafverfahrens oder des Freispruchs die Maßnahmen (weiterhin) anzuordnen sind, weil ein Restverdacht geblieben ist. Der Betroffene darf nicht bereits deshalb als potenzieller Rechtsbrecher behandelt werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder angezeigt worden ist. Die Behörde hat ihrer Entscheidung den festgestellten Sachverhalt aus dem Strafverfahren zugrunde zu legen. Hat das Strafgericht beispielsweise den Beschuldigten freigesprochen, weil (positiv) festgestellt worden ist, dass er sich nicht am Tatort aufgehalten hat, darf sie sich nicht auf die Beschuldigteneigenschaft zurückziehen. In einem solchen Fall fehlt es an einem Verdacht der Begehung einer Straftat. Aber auch wenn es an solchen (positiven) Feststellungen im Strafurteil fehlt, darf die Behörde nicht allein an die frühere Beschuldigteneigenschaft anknüpfen, sondern muss ihren Restverdacht konkret auf den jeweiligen Einzelfall bezogen begründen. Diese Begründung darf weder schematisch noch formelhaft oder unspezifisch sein. Es hängt von einer Würdigung der gesamten Umstände des einzelnen Falles ab, ob wegen der Einstellung von Strafverfahren, die gegen den Betroffenen gerichtet waren, die Anfertigung oder Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Unterlagen nicht mehr notwendig ist (OVG Greifswald, Urt. v. 25.11.2015 – 3 L 146/13 –, juris Rn. 53 m.w.N.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Für die Bejahung der Notwendigkeit der Maßnahmen muss die Behörde eine vertretbare Prognose getroffen haben, dass eine „Wiederholungsgefahr“ im Sinne einer Negativprognose besteht. Dabei sind alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seine Persönlichkeit und der Zeitraum, seitdem er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist.

30

Nach diesen Maßstäben fehlt es im vorliegenden Fall an einem solchen Restverdacht. Denn ein solcher muss sich zumindest auch aus der Anlasstat ableiten lassen (BVerwG, Urt. v. 23.11.2005 – 6 C 2/05 –, juris Rn. 20), weil in diesem Verfahren die Anordnung getroffen worden ist. Dieser verbleibende Rest des Verdachtes bildet die Basis und den Ausgangspunkt für die Prognose, die in dem konkreten (Anlass)verfahren gestellt worden ist und die auch nach dem Freispruch des Beschuldigten oder der Einstellung des gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens weiterhin aufrecht erhalten bleiben soll. Lediglich ergänzend können zur Begründung einer Wiederholungsgefahr weitere – ältere und neuere – Ermittlungsverfahren und strafgerichtliche Verurteilungen des Betroffenen herangezogen werden (OVG Lüneburg, Urt. v. 20.11.2014 – 11 LC 232/13 –, NordÖR 2015, 90, 91; siehe auch OVG Magdeburg, Beschl. v. 29.08.2014 – 3 O 322/14 –, juris Rn. 11). Ohne das Erfordernis, an einen solchen Restverdacht anzuknüpfen, könnte die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung eines Beschuldigten in irgendeinem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren angeordnet, die Begründung jedoch (insgesamt) auf andere – zeitlich frühere oder spätere – Ermittlungsverfahren gestützt werden. Das erscheint dem Senat als zu weitgehend.

31

Ist das Ermittlungsverfahren wegen der Anlasstat – wie hier – eingestellt worden, ist zu prüfen, ob gleichwohl noch Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen (OVG Lüneburg, Urt. v. 20.11.2014 – 11 LC 232/13 –, NordÖR 2015, 90, 92). Ein Restverdacht aus der Anlasstat besteht im vorliegenden Fall jedoch nicht.

32

Da die Staatsanwaltschaft die Akte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bereits vernichtet hat, sind nur Bruchstücke des Tatgeschehens und der polizeilichen Ermittlungen hierzu bekannt. Eine Zeugenaussage des Geschädigten liegt in den Akten nicht vor. Angaben zum Sachverhalt finden sich im Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 24. Juni 2008 – StA Nbdbg. 711 Js 2751/08; 8 Qs 117/08, 8 Qs 135/08, 8 Qs 136/08 –. Darin heißt es:

33

„Gegen die Beschuldigten A. sowie den Beschuldigten B. wurde wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz und der gefährlichen Körperverletzung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ihnen wird vorgeworfen, am 04.02.2007 in einer unbekannten Diskothek in der Nähe von N... den Geschädigten D... mit einem Schlagring geschlagen zu haben, so dass dieser eine 4 cm lange Wunde an der Augenbraue erlitt, die im Krankenhaus genäht werden musste. Ferner soll der Geschädigte einen Nasenbeinbruch und eine Gehirnerschütterung erlitten haben.“

34

Der Beschluss erging im Beschwerdeverfahren gegen einen amtsgerichtlichen Wohnungsdurchsuchungsbeschluss gegen den Kläger, der erlassen wurde, weil zu vermuten sei, dass die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln, nämlich eines Schlagringes führen werde. Die Durchsuchung verlief jedoch ergebnislos. Das Landgericht hält eine (Mit-)Täterschaft des Klägers für „eher vage und nicht schlüssig zu begründen“. Weiter heißt es in dem o. g. Beschluss:

35

„Auch die Zeugenaussage des Geschädigten D... vermochte zu keiner näheren Aufklärung zu Täter, zu Tatort oder zu Tatzeit führen und stützt ebenfalls keinen Anfangsverdacht. (…)

36

Ein solcher auf ein bloßes Gerücht und vage Verdächtigungen der Ermittlungsbehörde gestützter Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen verstößt damit gegen Art. 13 Abs. 1 GG, so dass im Ergebnis der Prüfung durch die Kammer, da die Durchsuchung selbst stattgefunden hat, die Rechtswidrigkeit der Maßnahme festzustellen war.“

37

Es kann für den Senat dahinstehen, ob ursprünglich ein hinreichender Anfangsverdacht für die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bestanden hat, wie ihn das Amtsgericht wohl bejaht und das Landgericht verneint hat. Jedenfalls fehlt es für den nach Einstellung des Verfahrens erforderlichen Restverdacht an hinreichend konkreten Anknüpfungspunkten für die Täterschaft des Klägers. Es ist nicht einmal aus den Akten nachzuvollziehen, ob der Kläger überhaupt zur Tatzeit am Tatort war und ob er Kontakt zu dem Geschädigten hatte. Auch bleibt der dem Kläger vorgeworfene konkrete Tatbeitrag im Rahmen einer gefährlichen Körperverletzung i. S. v. § 224 StGB unklar. So ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen insbesondere nicht, ob der Kläger selbst den Schlagring getragen haben soll (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder auf welche konkreten Umstände eine gemeinschaftliche Handlung mit einem Mittäter (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) gestützt wird.

38

An solche aus der Telefonüberwachung in anderen strafrechtlichen Verfahren stammenden Gerüchte und vagen Verdächtigungen lässt sich jedenfalls im Rahmen der zu treffenden Prognose nicht (allein) anknüpfen.

39

Auf die weiteren vom Beklagten aufgelisteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Kläger – vor und nach der Anordnung – kommt es deshalb nicht mehr an. Darf das Anlassverfahren nicht herangezogen werden, ist es mit anderen Worten hinwegzudenken, wird der Prognoseprüfung nach dem oben Gesagten die Grundlage entzogen, ohne dass es auf etwaige weitere strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger ankommt (OVG Lüneburg, Urt. v. 20.11.2014 – 11 LC 232/13 –; NordÖR 2015, 90, 93).

III.

40

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

41

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.

42

Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionsgründe i. S. v. § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

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