Beschluss vom Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 LA 103/14
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 5. Juni 2014 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
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Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Befreiung für einen Anbau an dessen Wohnhaus innerhalb des Grenzabstandes.
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Der Kläger und der Beigeladene sind Eigentümer zweier benachbarter, südlich an die Alte Dorfstraße in E. angrenzender Hofgrundstücke. An der zum Kläger hin gelegenen westlichen Grundstücksgrenze des Beigeladenengrundstücks ist im Norden ein 28 m langer, ca. 5 Meter tiefer Schweinestall vorhanden, dem auf der Seite des Beigeladenengrundstücks eine ebenfalls grenzständige Maschinenhalle und sodann – mit 5 - 7 Metern Grenzabstand, das Wohngebäude gegenüberliegt. Südlich schließt sich auf der Seite des Beigeladenen eine ca. 6,75 m tiefe quadratische Garage mit dem südöstlich daran angrenzenden, vom Klägergrundstück also „hinter“ der Garage gelegenen Wohnhaus an; südlich der Garage und des Wohnhauses ist keine Bebauung vorhanden. Auf dem Klägergrundstück beginnt mit der Nordwestecke der Garage eine 19,50 m entlang der Grenze verlaufende, 4,73 m tiefe und an der Grenze 3,10 m hohe „Remise“ mit Pultdach, die zur Lagerung diverser Materialien und Gerätschaften genutzt wird. Südlich schließt sich ein giebelständig auf einer Tiefe von 12 m an die Grundstücksgrenze gebautes, als Scheune genehmigtes, inzwischen als Werkstatt genutztes Gebäude mit einer Firsthöhe von 9,80 m und einer Traufhöhe von 4,80 m sowie einem südlichen, über 8 m an der Grundstücksgrenze verlaufenden Anbau mit Pultdach an. Auf dem Süddach der Scheune und des Anbaus sind Photovoltaikanlagen angebracht.
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Der Beigeladene plant, sein Garagengebäude durch einen für Wohn- und Büroraum genutzten Anbau an sein Wohnhaus zu ersetzen. Der Anbau soll bis an die Grundstücksgrenze reichen. Das 3,60 m hohe Erdgeschoss soll mit einer Tiefe von 19 m gegenüber der „Remise“ liegen. Das nördlich und südlich zurückgesetzte, mithin nur 10,80 m tiefe Obergeschoss soll eine Traufhöhe von 5,60 bzw. 6,20 und eine Firsthöhe von 7,90 m aufweisen. Für dieses Vorhaben erteilte ihm der Beklagte nach Anhörung des Klägers unter dem 22.3.2013 den hier angegriffenen Befreiungsbescheid. Der Kläger erhob Widerspruch mit der Begründung, die Voraussetzungen einer Befreiung lägen nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.6.2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
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Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5.6.2014 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, ob die Voraussetzungen einer Befreiung vorlägen, könne offenbleiben. Derjenige, der selbst den Bauwich in Anspruch nehme, könne eine entsprechende Bebauung des Nachbargrundstücks im Bauwich unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung nicht abwehren; bei der Beurteilung der „Entsprechung“ sei eine wertende, nicht zentimetergenaue Betrachtung anzustellen. Der Kläger habe selbst auf der Grundstücksgrenze ungenehmigte bauliche Anlagen errichtet. Die ursprünglich für die Scheune erteilte Baugenehmigung sei erloschen, da eine Umnutzung in eine Werkstatt erfolgt sei. Die beabsichtigte Wohnnutzung des Beigeladenen entspreche bei wertender Betrachtung der vorhandenen Grenzbebauung. Es sei zwar davon auszugehen, dass eine Wohnnutzung regelmäßig dauerhafter sei als die Nutzungen auf dem klägerischen Grundstück; deren bisherige lange Lebensdauer und die neu angebrachten Photovoltaikanlagen ließen jedoch keine Abgängigkeit in absehbarer Zeit erwarten. Qualitativ stehe die Nutzung als Werkstatt zumindest auf gleicher Stufe wie die beabsichtigte Wohnnutzung. In ihren Ausmaßen bleibe der Anbau des Beigeladenen deutlich hinter der Grenzbebauung des Klägers, insbesondere der Scheune, zurück.
II.
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Der gegen das Urteil gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
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Ernstliche Zweifel im Sinne dieser Norm sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, zumindest einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der Vorinstanz mit plausiblen Gegenargumenten derart in Zweifel zu ziehen, dass sich am Ergebnis der Entscheidung etwas ändern würde. Das ist dem Kläger nicht gelungen.
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Soweit der Kläger geltend macht, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht maßgeblich auf die Baurechtswidrigkeit einzelner von ihm errichteter Gebäude abgestellt, fehlt einem daraus etwa resultierenden Fehler jedenfalls die Ergebnisrelevanz. Sollte das Verwaltungsgericht sich mit seinen Ausführungen zur formellen Rechtswidrigkeit der klägerischen Grenzbebauung implizit von dem Rechtssatz leiten lassen haben, nur formell und materiell rechtswidrige eigene Grenzabstandsüberschreitungen könnten eine Berufung auf das Abstandsrecht ausschließen, mag dies fehlerhaft sein (vgl. dagegen z.B. OVG Lüneburg, Urt. v. 12.9.1984 - 6 A 49/83 -, BRS 42 Nr. 196, S. 442; OVG Münster, Beschl. v. 12.2.2010 - 7 B 1840/09 -, juris Rn. 10). Ein solcher Fehler hätte sich jedoch allenfalls zugunsten des Klägers auswirken können. Hätte das Verwaltungsgericht die etwaige Rechtmäßigkeit klägerischer Bauten von vornherein unberücksichtigt gelassen und allein auf deren Übereinstimmung mit dem Grenzabstandsrecht abgestellt, so wäre seine Entscheidung für den Kläger nicht günstiger ausgefallen.
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Die Auffassung des Klägers, in die Prüfung eigener Grenzabstandsverletzungen sei lediglich die „Remise“, nicht aber das wesentlich größere Scheunengebäude nebst südlichem Anbau einzubeziehen, da dieses „fast vollständig außerhalb des für die Errichtung des Wohngebäudes relevanten Grenzabschnitts“ liege, ist unzutreffend. Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung greift nicht erst dann, wenn das unter Verletzung des Grenzabstands errichtete Gebäude dem hinzutretenden Vorhaben genau gegenüberliegt (OVG Lüneburg a.a.O.). Die in der Rechtsprechung teilweise verwendete Formulierung der „quasi spiegelbildlichen“ Beeinträchtigung (OVG Münster a.a.O.) mag vielleicht in die Irre führen, meint dies aber nicht. Zwar hat auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seiner zitierten Entscheidung vom 12.9.1984 (nur) die Berücksichtigung aller „in einer räumlichen Beziehung stehenden“ Umstände gefordert und diesen räumlichen Zusammenhang im damals zu entscheidenden Fall „schon deshalb“ bejaht, weil sich der Bauwich der verglichenen Gebäude teilweise überschnitt. Das bedeutet jedoch nicht im Umkehrschluss, dass Bauten, bei denen das nicht der Fall ist, grundsätzlich nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Der hier umstrittenen Ausnahme von dem Grundsatz, dass den Grenzabstandsregeln ein nachbarlicher Abwehranspruch korrespondiert, liegt der Gedanke zugrunde, dass dieser Abwehranspruch einer Störung des nachbarlichen Gleichgewichts gilt. Dieses Gleichgewicht ist grundsätzlich grundstücks- bzw. grenz- (vgl. Senatsurteil v. 21.10.1986 - 1 OVG A 180/85 -, Die Gemeinde 1987, 346 [351]), nicht aber grenzabschnittsbezogen. Liegen das vorhandene und das abzuwehrende geplante Vorhaben in unterschiedlichen Grundstücksbereichen, so kann dies im Einzelfall ein Gesichtspunkt sein, der bei der gebotenen wertenden Betrachtung zu berücksichtigen ist, beispielsweise, wenn die eine Grenzabstandsunterschreitung in einem stärker, die andere in einem schwächer schutzwürdigen Abschnitt des jeweiligen Nachbargrundstücks stattfindet bzw. stattfinden soll oder wenn bei großen Grundstücken die Abschnitte, in denen die wechselseitigen Grenzabstandsunterschreitungen zu finden sind, so weit voneinander entfernt liegen, dass sie quasi ein Eigenleben führen. Für eine solche wertende Berücksichtigung besteht hier, jedenfalls zu Lasten des Beigeladenen, jedoch kein Anlass. Das Vorhaben des Beigeladenen grenzt vielmehr an einen Bereich des Klägergrundstücks, der durch die angebaute Remise und auch mit Blick auf den dahinter gelegenen Hof eher als weniger schutzwürdig erscheint als die der klägerischen Scheune benachbarte Gartenfläche des Beigeladenen; auch grenzen das Vorhaben des Beigeladenen und die Scheune beinahe mit einer Ecke aneinander.
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Die Ausführungen in der Zulassungsantragsbegründung, die zum Ziel haben darzulegen, dass die Remise für sich betrachtet im Gewicht hinter dem Wohnhausanbau zurückbleibt, sind damit unerheblich. Sollte der Kläger mit seinem Einwand, der Beigeladene habe vor 62 Jahren der Errichtung der Scheune und des angrenzenden Teils der Remise zugestimmt, eine auch für die Gesamtbetrachtung der klägerischen Bauten greifende Rüge haben formulieren wollen, so wäre diese jedenfalls schon deshalb unbegründet, weil sich die Zustimmung des Klägers auf die damals geplante Scheune bezog; das Verwaltungsgericht hat indes überzeugend dargelegt, dass das Gebäude in seiner heutigen Form und Nutzung ein baurechtliches aliud darstellt; die Zulassungsantragsbegründung greift dies nicht an. Ebenso wenig legt sie dar, dass der Kläger auch der derzeitigen Nutzung des Gebäudes als reine Werkstatt zugestimmt oder diese zumindest in einem ggf. Verwirkung begründenden Zeitraum geduldet hätte. Ob eine Zustimmung oder ein Tolerieren der eigenen Grenzabstandsunterschreitung durch den Nachbarn dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht, muss daher nicht entschieden werden.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil ein Fall der notwendigen Beiladung vorliegt. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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