Beschluss vom Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (9. Senat) - 9 LA 107/20

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 19. Mai 2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg – Einzelrichter der 15. Kammer – wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

1

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg zuzulassen, mit dem dieses seine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf die Gewährung subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote gerichtete Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

2

Der von dem Kläger, einem arabischen Volkszugehörigen sunnitischen Glaubens aus Mossul, allein geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist nicht hinreichend dargelegt worden bzw. liegt nicht vor.

3

Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder – soweit es eine Tatsachenfrage betrifft – obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

4

Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt dementsprechend, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage bezeichnet und erläutert wird, weshalb sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und – im Fall einer Tatsachenfrage – welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur die Senatsbeschlüsse vom 4.3.2019 – 9 LA 189/19 –; vom 31.1.2019 – 9 LA 126/19 –; vom 15.1.2019 – 9 LA 107/19 –; vom 8.1.2019 – 9 LA 97/19 – m. w. N.). Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus. Es reicht nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (hierzu Senatsbeschluss vom 3.1.2018 – 9 LA 163/17 –).

5

Gemessen hieran ist die Berufung nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

6

Der Kläger hält zum einen folgende Frage für klärungsbedürftig:

7

„Ist die Gefahr für irakische Staatsangehörige mit sunnitischem Glauben einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich gestützte Rechtsgüter derartig vorhanden, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, so dass für diese eine Gruppenverfolgung angenommen werden kann?“

8

Das Verwaltungsgericht hat sich für die Begründung seiner Auffassung, der Kläger sei im Irak als Sunnit keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt, auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Januar 2018 (– 20 ZB 17.30839 – juris Rn. 10) bezogen, wonach für die Annahme einer Gruppenverfolgung gegenüber den Sunniten im Irak „nicht annähernd ausreichende Hinweise“ sprächen. Erkenntnisse, die zu einer Neubewertung des Sachverhalts zwingen könnten, hat der Kläger nicht benannt. Er bezieht sich zur Darlegung eines Zulassungsgrundes auf den Überfall des sog. IS auf Mossul im Jahr 2014, auf Berichte des UNHCR aus Mai und November 2016 sowie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. November 2017 (– 25 K 3.17 A – juris) und somit allein auf Erkenntnisquellen, die bei Erlass des von dem Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bereits vorlagen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung unterbleibt zudem. Den vorstehend wiedergegebenen Vorgaben des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügt der Kläger damit nicht.

9

Im Übrigen teilt der Senat die Einschätzung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, dass irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens aktuell im Irak nicht mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit einer (Gruppen-)Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG rechnen müssen (Senatsbeschluss vom 11.9.2020 – 9 LA 447/19 –). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat hierzu in seinem Beschluss vom 29. April 2020 (– 5 ZB 20.30994 – juris Rn. 4 und 5) Folgendes ausgeführt:

10

„Die Frage ist – auch wenn sich nach Berichten von internationalen Organisationen und Medien die Verhältnisse im Irak insbesondere durch das Zurückdrängen des sog. „IS“ auch mit Hilfe schiitischer Milizen und durch die „Verfolgung“ von IS-Kämpfern und IS-Anhängern oder auch entsprechender Verdachtspersonen geändert haben – nach wie vor zu verneinen (vgl. auch VGH BW, U. v. 5.3.2020 – A 10 S 1272/17 – juris Rn. 24 ff. zu einem sunnitischen Kurden). Insbesondere weisen die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf. Auch kann der Versuch, (ehemalige) IS-Kämpfer und IS-Anhänger aufzuspüren und ihrer habhaft zu werden, nicht ohne weiteres mit einer Verfolgung von Sunniten wegen ihres Glaubens gleichgesetzt werden, auch wenn diese in der Regel sunnitische Glaubensangehörige sind.

11

Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAS 2009, 173; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVwerGE 126, 243). Auch unter Berücksichtigung der von den Klägern in der Zulassungsbegründung geschilderten Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe im Irak ausgesetzt ist, und der dort genannten Zahlen von zum Tode verurteilten und getöteten Sunniten ist eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte von Sunniten im Irak nicht zu erkennen. Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Das gilt auch, wenn man nur die Zahl der arabischen (unter Ausschluss der kurdischen) Sunniten betrachtet. Die irakische Bevölkerung setzt sich zu 60 bis 65 Prozent aus arabischen Schiiten, zu 17 bis 22 Prozent aus arabischen Sunniten und zu 15 bis 20 Prozent aus (überwiegend sunnitischen) Kurden zusammen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 12.1.2019, S. 6; vgl. auch Lagebericht vom 2.3.2020 S. 7 f.). Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 38 Mio. Einwohnern (vgl. www.auswaertiges-amt.de – Länderinfos Stand Mai 2019) würde das bedeuten, dass über 6 bis 8 Mio. arabische Sunniten im Irak im oben geschilderten Sinn als Gruppe verfolgt würden. Für eine solche Annahme gibt es trotz der Bekämpfung des „IS“ und trotz der teilweise erhebliche Spannungen entlang der Konfessionslinien innerhalb der irakischen Bevölkerung, die in Einzelfällen auch zu Bedrohungen, Verletzungen und Todesfällen allein aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit, insbesondere der zum sunnitischen Islam, geführt haben, keine ausreichenden Hinweise. Ein flächendeckendes Vorgehen gegen Sunniten ist nicht erkennbar.“

12

Der Kläger wirft darüber hinaus folgende aus seiner Sicht grundsätzlich bedeutsame tatsächliche Frage auf:

13

„Hat sich die aktuelle Sicherheitslage im Irak nach der Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani bei einem US-Luftangriff in Bagdad am 03.01.2020 und iranischer Angriffe auf mehrere Militärstützpunkte in Zentral-Irak und Erbil derartig verschärft, dass im Irak für die dort lebenden Menschen – und so auch dem Kläger – eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen anzunehmen ist?“

14

Mit dieser Frage und den Darlegungen zu ihrer Begründung wendet sich der Kläger allein gegen die erstinstanzlichen Ausführungen, wonach die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vorlägen, weil für den Mossul-Distrikt, der Herkunftsregion des Klägers, ein internationaler oder innerstaatlicher Konflikt nicht anzunehmen sei (S. 28 des Urteilsabdrucks).

15

Soweit der Kläger zur Begründung seiner aufgeworfenen Frage hiergegen einwendet, der Irak drohe im Konflikt zwischen den USA und dem Iran zwischen die Fronten zu geraten, der Tötung General Soleimanis seien mehrere Auseinandersetzungen zwischen US-Truppen und schiitischen Gruppierungen sowie ein gewaltsamer Protest vor der US-Botschaft in Bagdad vorausgegangen, die Bundesregierung prüfe nach den iranischen Angriffen auf US-Stützpunkte im Irak einen Teilrückzug der im nordirakischen Erbil stationierten Bundeswehrsoldaten und es habe am 8. Januar 2020 in der hochgesicherten sog. grünen Zone in Bagdad erneut Raketenangriffe gegeben, fehlt es bereits an dem für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Bezug auf die über 400 km nördlich von Bagdad gelegene Heimatregion des Klägers in Mossul. Der Kläger legt auch nicht dar, welche Auswirkungen die geschilderten Vorfälle auf das vom Verwaltungsgericht verneinte Vorliegen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts haben sollen und warum sich deshalb die Sicherheitslage in einer solchen Weise verschärft haben soll, dass eine andere Beurteilung erforderlich sei. Hierfür reicht es jedenfalls nicht aus, dass die Lage im Irak nach Auffassung des Klägers aufgrund der geschilderten Vorfälle sehr angespannt und keinesfalls als sicher zu bezeichnen sei.

16

Im Übrigen steht der Einschätzung des Klägers auch die aktuelle Rechtsprechung anderer Gerichte zur Bewertung der Gefahrendichte für die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG entgegen. So hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Beschluss vom 11. März 2020 ausgeführt (– 9 A 278/18.A – juris Rn. 16), dass mit Blick auf die jüngsten politischen Spannungen nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA am 3. Januar 2020 in Bezug auf die Beurteilung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Situation in Bagdad nach dem dortigen grundlegenden Urteil vom 28. August 2019 (– 9 A 4590/18a – juris) kein aktueller Klärungsbedarf bestehe. Die Entwicklung sei besorgniserregend und bedürfe weiterer Beobachtung. Bislang habe die dadurch ausgelöste Diskussion über den Abzug ausländischer Soldaten aus dem Irak aber nicht zu einem erneuten Erstarken des IS oder anderer militärischer Einheiten und damit einhergehend zu einem relevanten Anstieg willkürlicher Gewalt gegen unbeteiligte Zivilpersonen geführt. Die Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und dem Iran betreffe im Irak (bislang) ausschließlich militärische Stützpunkte. An dieser Auffassung hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 29. September 2020 (– 9 A 480/19.A – juris Rn. 26 ff.) festgehalten. Der Kläger benennt im Zulassungsverfahren keine Erkenntnismittel, aus denen sich hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben könnten, dass eine andere Beurteilung der tatsächlichen Lage für die Zivilbevölkerung in der Heimatregion des Klägers geboten wäre.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.

18

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

 


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