Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 7 B 1626/94
Tenor
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 4 K 11623/93 VG Düsseldorf der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung Nr. des Antragsgegners vom 18. Dezember 1992 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung Nr. vom 13. Mai 1994 und den Befreiungsbescheid des Antragsgegners Nr. vom 18. Dezember 1992 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens; die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Streitwert wird für beide Rechtszüge, für den ersten unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts, auf 7.500,-- DM festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach den §§ 80, 80 a VwGO zu Unrecht abgelehnt.
3Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung vom 18. Dezember 1992, die durch die Nachtragsgenehmigung vom 13. Mai 1994 lediglich hinsichtlich solcher Details der Bauausführung modifiziert wurde, die für die Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht von Bedeutung sind, ist wiederherzustellen, weil das Vorhaben zu Lasten der Antragstellerin gegen die nachbarschützenden Regelungen des § 6 BauO NW verstößt und damit im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung dem Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage der Vorrang gegenüber dem Interesse der Beigeladenen an der Ausnutzung der rechtswidrigen Baugenehmigung einzuräumen ist.
4Das Vorhaben der Beigeladenen wahrt gegenüber dem Grundstück Alt P (Flurstück ), das im Miteigentum der Antragstellerin steht, nicht die Abstandflächen, die sich aus einer Berechnung nach § 6 Abs. 4 und 5 BauO NW ergeben. Die hiernach erforderliche Abstandfläche reicht vielmehr mit einer dreieckförmigen Fläche um mehr als 1,5 m in das Grundstück der Antragstellerin hinein.
5Dieser Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NW folgt eindeutig aus den genehmigten Bauvorlagen, nämlich den im genehmigten Schnitt B-B (Bl. 439 der Beiakte Heft 2b bzw. Bl. 129 der Beiakte Heft 1) festgelegten Maßen des Baukörpers und den sich aus dem genehmigten Lageplan (Bl. 430 der Beiakte Heft 2b) ergebenden Abständen. Er steht zwischen den Beteiligten außer Streit und ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
6Im Baugenehmigungsverfahren ist schon der Antragsgegner selbst (vgl. Vermerk vom 27.11.1991, Bl. 374 f der Beiakte Heft 2b) zutreffend davon ausgegangen, daß eine Anwendung von § 6 Abs. 14 BauO NW mit der Folge, daß eine geringere Tiefe der Abstandfläche gestattet werden kann, im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt. Die Gestaltung des Straßenbildes ist durch die nähere Ausgestaltung der Rückfront des Gebäudes, die allein die Dimensionen der hier in Rede stehenden Abstandfläche bestimmt, nicht berührt.
7Vgl. auch: OVG NW, Beschluß vom 25. August 1989 - 7 B 2260/89 -.
8Die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 68 Abs. 3 BauO NW, deren Ausspruch im Befreiungsbescheid vom 18. Dezember 1992 im übrigen nicht näher begründet worden ist, liegen ebensowenig vor.
9Die Annahme, daß Gründe des Wohls der Allgemeinheit im Sinne von § 68 Abs. 3 Buchstabe a) BauO NW die Befreiung erfordern, scheidet offensichtlich aus. Es ist insbesondere nicht etwa aus städtebaulichen Gründen vernünftigerweise geboten und damit "erforderlich",
10- vgl.: OVG NW, Beschluß vom 21. Mai 1993 - 7 B.588/93 -
11daß das Haus der Beigeladenen mit der hier in Rede stehenden, den Verstoß gegen das Abstandrecht mitverursachenden Gesamthöhe errichtet wird. Nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen weisen die dem Haus der Beigeladenen unmittelbar benachbarten Häuser Alt P bzw. M.-straße maximale Höhen von 55,58 bzw. 55,88 m über NN auf. Demgegenüber ist das Haus der Beigeladenen im Bereich des hier interessierenden Schnitts B-B mit einem Flachdach von max. 56,80 m über NN, mithin deutlich höher, genehmigt worden. Daß eine Re.duzierung dieser, die Nachbarbebauung noch deutlich überschreitenden Höhe städtebaulich nicht vertretbar wäre, wie seitens der Behörden im Verwaltungsverfahren angenommen wurde, ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt erkennbar und daher abwegig.
12Eine Befreiung nach § 68 Abs. 3 Buchstabe b) BauO NW kommt gleichfalls nicht in Betracht. Es liegen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für die im Ermessen der Behörde stehende Möglichkeit der Befreiung nicht vor. Die Einhaltung der zwingenden Regelungen des § 6 BauO NW würde im vorliegenden Fall nicht zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen.
13Eine unbeabsichtigte Härte liegt nur dann vor, wenn eine Situation gegeben ist, die sich gemessen am Regelungszweck der jeweiligen Norm, von der befreit werden soll, als atypisch und deshalb in ihren bei Anwendung der Norm eintretenden Folgen als von der Norm nicht beabsichtigt darstellt.
14Vgl.: OVG NW, Urteil vom 3. April 1991 - 7 A 2187/90 - m.w.N..
15Dabei ist hinsichtlich der Abstandflächenregelungen des § 6 BauO NW in der Regel davon auszugehen, daß eine mit der Einhaltung der Abdtandflächen verbundene mindere Ausnutzbarkeit eines Grundstücks zur Erreichung der mit den Abstandflächenregelungen verfolgten Ziele beabsichtigt ist.
16Vgl.: OVG NW, Beschluß vom 13. März 1991 - 10 A 506/89 -.
17Selbst der Umstand, daß ein Grundstück nach seinem Zuschnitt oder wegen seiner unzureichenden Grundstücksgröße bei Einhaltung der Vorschriften nicht bebaut werden kann, stellt regelmäßig keine unbeabsichtigte Härte dar. Der Gesetzgeber hat vielmehr in Kauf genommen, daß Grundstücke, die bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zur Bebauung nicht geeignet sind, auch nicht bebaut werden können.
18Vgl.: OVG NW, Urteile vom 22. Juni 1988 - 7 A 2121/85 -, vom 26. Oktober 1989 - 7 A 428/88 - und vom 3. April 1991 - 7 A 2187/90 -.
19Gemessen an diesen Voraussetzungen liegt im vorliegenden Fall keine atypische Situation vor, die die mindere Ausnutzbarkeit des Grundstücks der Beigeladenen, die zwangsläufig Folge der Einhaltung des abstandrechtlichen Erfordernisse ist, als vom Gesetzgeber unbeabsichtigt erscheinen läßt. Eine solche atypische Situation ist insbesondere nicht etwa deshalb gegeben, weil - wie seitens des Antragsgegners in dem bereits erwähnten Vermerk vom 27. November 1991 erörtert wurde und im Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidenten Düsseldorf vom 13. Oktober 1993 näher ausgeführt ist - eine Reduzierung der Höhenentwicklung des Gebäudes städtebaulich nicht vertretbar wäre und die Reduzierung der Bautiefe im Hinblick auf die Umgebungsbebauung eine nicht beabsichtigte Härte bedeuten würde.
20Schon das erstgenannte Argument liegt, wie oben dargestellt, in der gegebenen Situation offensichtlich neben der Sache und erhält auch unter dem hier gegebenen Aspekt kein anderes Gewicht. Des weiteren vermag auch das zweite Argument als solches, nämlich die Bautiefe der obersten Geschosse könne im Interesse der Beigeladenen nicht weiter reduziert werden, keine unbeabsichtigte Härte zu begründen. Die Beigeladene unterliegt insoweit, wie alle Bürger, lediglich einem in der Landesbauordnung niedergelegten Reglement, in dem sich der Gesetzgeber in voller Kenntnis des Umstandes, daß hiermit den Bürger wirtschaftlich beschränkende Begrenzungen für die bauliche Ausnutzung des Eigentums verbunden sind, für einen exakt umrissenen Kompromiß zwischen den Interessen des Bauherrn und seiner Nachbarn entschieden hat. Im Rahmen dessen ist es "normale" Folge des Gesetzes, daß die Beigeladene bei der hier gewählten Höhe des Gebäudes die obersten Geschosse ihres Neubaus allenfalls mit einer nur geringen Bautiefe - im Dachbereich u.U. sogar überhaupt nicht mit Aufenthaltsräumen - versehen kann. Die sich hieraus ergebende Folge, daß die Beigeladene ihr in äußerst attraktiver Lage gelegenes Grundstück bei gesetzeskonformer Bebauung nicht so intensiv baulich ausnutzen und auch in den beiden Dachgeschossen 6 bis 7 m tiefe Räume mit lichten Höhen von 2,70 bzw. 3,20 m anlegen kann, wie es hier geplant wurde, ist im Sinne des Gesetzes "beabsichtigt".
21Ein nachbarliches Abwehrrecht der Antragstellerin gegenüber der hiernach eindeutig rechtswidrigen Baugenehmigung scheidet auch nicht deshalb aus, weil die Antragstellerin durch die Verletzung der Erfordernisse des Abstandrechts nicht tatsächlich beeinträchtigt wäre.
22Unterschreitungen der nach § 6 BauO NW einzuhaltenden Abstandflächen lösen regelmäßig nachbarliche Abwehransprüche aus. Der Landesgesetzgeber hat in § 6 BauO NW für die Frage, welche Mindestabstände zur Grundstücksgrenze bei Gebäuden zu wahren sind, in Abkehr von den Regelungen in der Landesbauordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Januar 1970 (GV NW S. 96) feste und durch Messung überprüfbare Maße bestimmt. Dies erfolgte in dem Bewußtsein, daß ein in Grenznähe stehender Baukörper zwar immer, also auch wenn die nach § 6 BauO NW verlangte Abstandfläche gewahrt wird, eine Beeinträchtigung der Nachbarn zur Folge haben wird, daß dem Nachbarn aber im Hinblick auf sein Betroffensein nur dann Abwehrrechte eingeräumt werden sollen, wenn die in § 6 BauO NW verlangten Abstandmaße unterschritten werden. Bei dieser Regelung unterstellt der Gesetzgeber somit nicht, daß eine Beeinträchtigung der Nachbarn bei einem die Abstandflächenregelungen nicht vollständig ausnutzenden Bauwerk völlig fehlt und erst dann abrupt einsetzt, wenn die Abstandwerte unterschritten werden. Es wurde lediglich gesetzlich verankert, daß das Heranrücken eines Bauwerks und die damit verbundene Beeinträchtigung des Nachbarn erst dann rechtlich mit der Folge des Entstehens eines nachbarlichen Abwehranspruchs relevant wird, wenn die gesetzlich festgelegten Abstandwerte unterschritten werden.
23Vgl.: OVG NW, Urteil vom 14. Januar 1994 - 7 A 2002/92 -.
24Dies bedeutet im vorliegenden Fall, daß die tatsächliche, faktisch spürbare Beeinträchtigung der Antragstellerin bei einer nicht sehr großen Unterschreitung der einzuhaltenden Abstand-maße nicht etwa gegen Null tendiert und erst dann reale Dimensionen annimmt, wenn die Unterschreitung der Abstandfläche in deutlich sichtbaren Größenordnungen erfolgt. Fehlt es - wie hier - auch nur teilweise an der notwendigen Abstandfläche, so werden die Beeinträchtigungen, die bei Wahrung der Abstandmaße gesetzlich als zumutbar festgeschrieben sind, zu nach den Maßstäben des Gesetzes nicht hinzunehmenden Beeinträchtigungen, so daß die Antragstellerin ein auf § 6 BauO NW beruhendes Abwehrrecht mit Erfolg geltend machen kann.
25Auch aus einem anderen Gesichtspunkt kann nicht davon ausgegangen werden, daß bei einer kleineren Unterschreitung der rechnerisch notwendigen Tiefe der Abstandflächen die damit verbundene Beeinträchtigung des benachbarten Grundstücks im Vergleich zu dem Fall eines die Regelungen in § 6 BauO NW respektierenden Gebäudes nicht spürbar sei. Bei einem fehlenden Nachweis der gesamten Abstandfläche auf dem Baugrundstück kann nämlich der von der Unterschreitung der Abstandfläche betroffene Nachbar fortan nicht mehr sein eigenes Grundstück baulich in den ihm bis zur Realisierung des Bauvorhabens gegebenen Möglichkeiten ausnutzen. Liegt ein Teil der Abstandflächen eines Gebäudes auf dem Nachbargrundstück, ohne daß, was die Einwilligung des benachbarten Grundstückeigentümers voraussetzt, die Übernahme der Abstandfläche auf dieses Grundstück öffentlich-rechtlich gesichert wäre, hat der Nachbar aufgrund der Regelung in § 6 Abs. 3 BauO NW, nach der Abstandflächen sich nicht überdecken dürfen, nicht mehr die Gelegenheit, diesem Gebäude gegenüber ein eigenes Gebäude auf seinem Flurstück so grenznah wie möglich, d.h. günstigenfalls in einem Abstand von 3 m zur Grenze, zu errichten. Er wäre auf Grund des von ihm nicht genehmigten Verhaltens des Bauherrn gehalten, die teilweise auf seiner Parzelle liegende Abstandfläche des Nachbargebäudes zu respektieren und selbst mit einem eigenen Vorhaben einen größeren Abstand zur Grenze einzuhalten als dies ohne den (rechtswidrigen) Bau auf der benachbarten Parzelle erforderlich wäre.
26Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Bei der auf den §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 3, 25 Abs. 1 Satz 3 GKG beruhenden Streitwertfestsetzung hat der Senat für das Hauptsacheverfahren einen Streitwert zugrunde gelegt, der im mittleren Bereich des nach ständiger Rechtsprechung aller Bausenate des beschließenden Gerichts für baurechtliche Nachbarklagen maßgeblichen Rahmens von 3.000,-- bis 30.000,-- DM liegt, und im vorliegenden Verfahren die Hälfte dieses Werts von 15.000,-- DM, mithin 7.500,-- DM festgesetzt.
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