Beschluss vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - 17 B 1406/95
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,- DM festgesetzt.
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G r ü n d e :
2Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den vom Antragsteller mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag,
3die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 12. Januar 1995 wiederherzustellen bzw. anzuordnen,
4zu Recht abgelehnt.
5Die Begründung der Vollziehungsanordnung betreffend die Ausweisung genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, indem sie auf die Gefahr abstellt, daß der Antragsteller vor Eintritt der Bestandskraft der angefochtenen Ordnungsverfügung weitere Straftaten begehen könnte.
6Die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung der widerstreitenden Vollzugsinteressen fällt auch im Beschwerdeverfahren zuungunsten des Antragstellers aus. Maßgeblich hierfür ist, daß sich die angefochtene Ordnungsverfügung als rechtmäßig erweist und die begründete Besorgnis besteht, daß die von dem Antragsteller ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr sich schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens realisieren wird.
7Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das besondere Vollzugsinteresse bei einer Ausweisungsverfügung: BVerfG, Beschluß vom 12. September 1995 - 2 BvR 1179/95 -,NVwZ 1996, 58 (59) = InfAuslR 1995, 397 (401 f.).
8Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 47 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2, 48 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 AuslG.
9Der Antragsteller ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 1. September 1993 wegen gemeinschaftlich versuchter räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Die dem Antragsteller zuteil gewordene Aussetzung der Reststrafvollstreckung zur Bewährung steht der Anwendbarkeit von § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG nicht entgegen.
10Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 25. März 1994 - 1 B 30.94 -, InfAuslR 1994, 311 (312).
11Da der Antragsteller im Bundesgebiet geboren ist und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, genießt er besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG mit der Folge, daß er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann. Ein Ausweisungsgrund ist im Sinne von § 48 Abs. 1 AuslG schwerwiegend, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat.
12Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 10. Januar 1995 - 1 B 153.94 -, InfAuslR 1995, 194.
13Dies ist in spezialpräventiver Hinsicht der Fall, wenn dem Ausweisungsanlaß ein besonders Gewicht zukommt und Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht.
14Vgl.: BVerwG, Beschluß vom 10. Februar 1995 - 1 B 221.94 -, InfAuslR 1995, 273 (274).
15Nach diesen Kriterien sind schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die vom Antragsgegner u. a. selbständig spezialpräventiv begründete Ausweisung zu bejahen.
16Es steht außer Frage, daß die Verurteilung wegen gemeinschaftlicher versuchter räuberischer Erpressung ein besonders schwerwiegender Ausweisungsanlaß ist. Insbesondere hat auch das Landgericht Bielefeld in seinem Strafurteil vom 1. September 1993 das Vorliegen eines minderschweren Falles der versuchten räuberischen Erpressung gemäß §§ 255, 253, 249 Abs. 2 StGB wegen des Ausmaßes der Bedrohungen, der beträchtlichen Beuteerwartung und der Umstände, daß der Antragsteller bereits wegen eines ähnlichen Deliktes vorbestraft gewesen sei und die hier zur Aburteilung stehende Tat innerhalb der Bewährungszeit begangen habe, nicht als gegeben angesehen.
17Auch die für eine spezialpräventiv begründete Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr ist gegeben. Daß die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum durch Beschluß vom 4. April 1995 - StVK 418/95 - nach Verbüßung von 2/3 der Strafhaft die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt hat, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, daß die ordnungsrechtlich relevante Wiederholungsgefahr nicht mehr bestünde. Denn die Kriterien der im Rahmen von § 57 StGB vorzunehmenden Sozialprognose sind nicht identisch mit denjenigen, die für die Beurteilung der ordnungsrechtlichen Wiederholungsgefahr maßgeblich sind. Die Reststrafaussetzung erfolgt nämlich schon dann, wenn verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird; dies schließt die Möglichkeit eines Scheiterns der Erprobung nicht aus. Dies verdeutlicht auch die Begründung des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer, wonach die verschiedenen positiven Ansätze für eine Verhaltensänderung und soziale Festigung beim Antragsteller für die Strafvollstreckungskammer lediglich den Schluß rechtfertigen, daß unter Abwägung aller Umstände das Erprobungsrisiko gewagt werden könne.
18Auch wenn weiterhin zugrundegelegt wird, daß der erstmalige Freiheitsentzug den Antragsteller nachhaltig beeindruckt hat, rechtfertigt dies noch nicht die Annahme, seine Gefährlichkeit sei entfallen. Vielmehr läßt sein krimineller Werdegang die ernsthafte Gefahr erneuter Verfehlungen durch ihn derzeit noch bestehen. Insoweit ist von maßgeblicher Bedeutung, daß der Antragsteller aufgrund eines am 3. Juli 1989 verübten Tankstellenüberfalls mit der Verurteilung durch das Amtsgericht Minden vom 3. November 1989 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, wegen gemeinschaftlich schweren Raubes mit Waffen einschlägig vorbestraft ist. Dabei kann dahinstehen, ob die dreijährige Bewährungszeit bei der Begehung der Schutzgelderpressung am 17./18. März 1993 noch lief - so das Landgericht Bielefeld in seinem Strafurteil vom 1. September 1993 - oder (kurz zuvor) abgelaufen war - so die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum in ihrem Beschluß vom 4. April 1995 -. Trotz der im November 1989 erfolgten Verurteilung und der eindringlichen ausländerbehördlichen Verwarnung durch den Stadtdirektor der Stadt Minden im Juli 1991 reichte eine beim Antragsteller Anfang des Jahres 1993 bestehende wirtschaftlich ungünstige Lage mit einer Geldknappheit aus, ein Verbrechen zur Beschaffung von Geld zu begehen, das gekennzeichnet ist von einem hohen Maß an Rücksichtslosigkeit gegenüber Rechtsgütern Dritter. Auch wenn der Antragsteller in Zusammenarbeit mit einer Schuldnerberatung einen Plan zur Tilgung seiner Schulden von ca. 30.000 DM nach seiner Haftentlassung erstellt hat, vermag dies nicht ausreichend zu begründen, daß er bei sich zuspitzenden schwierigen finanziellen Verhältnissen nicht erneut wieder einschlägig straffällig wird.
19Schließlich wird die Wiederholungsgefahr nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Antragsteller nach seiner Haftentlassung Aufnahme bei seiner Mutter und seinen Geschwistern gefunden hat und neuerliche Verfehlungen nicht bekannt geworden sind. Abgesehen davon, daß der seither verstrichene Zeitraum nur relativ kurz ist, muß auch der verhaltenssteuernde Druck des laufenden Ausweisungsverfahren berücksichtigt werden.
20Der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 3 Satz 1 AuslG, wonach ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden kann, daß das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter abgeschlossen wird, kommt dem Antragsteller gemäß Satz 2 Nr. 1 der Vorschrift nicht zugute, da nach dem zuvor Gesagten ein Sachverhalt vorliegt, der nach Abs. 1 der Vorschrift eine Ausweisung rechtfertigt.
21Der dem Antragsteller zustehende besondere Ausweisungsschutz hat ferner zur Folge, daß an die Stelle der Regelausweisung gemäß § 47 Abs. 3 Satz 2 AuslG über die Ausweisung nach Ermessen entschieden wird. Die vom Antragsgegner angestellten Ermessenserwägungen lassen Fehler der in § 114 VwGO bezeichneten Art nicht erkennen. Insbesondere genügen sie den Anforderungen des § 45 Abs. 2 AuslG. Es begegnet keinen Bedenken, daß der Antragsgegner dem Umstand, daß der Antragsteller seinen eigenen Bekundungen nach seinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland habe und ihn in der Türkei Integrationsprobleme erwarten würden, ein gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Beendigung seines Aufenthaltes vorrangiges Gewicht nicht eingeräumt hat. Der Antragsteller ist trotz seines langen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland und des Umstandes, daß sich sowohl seine Mutter als auch seine Geschwister hier aufhalten, in einem Alter, in dem es ihm möglich und zumutbar ist, sich in der Türkei eine neue Existenz aufzubauen. Im übrigen zeigen die zahlreichen vom Antragsteller begangenen Straftaten, daß es ihm bisher nicht gelungen ist, sich in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einzufügen.
22Die Ausweisung widerspricht auch nicht inter- bzw. supranationalem Recht. Die der Ausweisung zugrundeliegenden Gründe sind besonders schwerwiegend im Sinne von Art. 3 Abs. 3 ENA. Einem dem Antragsteller etwa aus Art. 7 Abs. 1, 14 Abs. 1 ARB 1/80 zustehenden assoziationsrechtlichen Ausweisungsschutz trägt die Ausweisungsverfügung in ausreichendem Umfang Rechnung, indem sie u. a. - selbständig tragend - das spezialpräventive Anliegen verfolgt, einer durch das Verhalten des Antragstellers bedingten tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begegnen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft (Schutz des Eigentums und von Leben und Gesundheit der Bevölkerung vor körperlichen Übergriffen) berührt. Der Ausweisung steht auch nicht Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen, da sie durch Abs. 2 der Vorschrift gedeckt wird. Danach sind Eingriffe in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Familienlebens statthaft, soweit sie in einer demokratischen Gesellschaft u. a. zur Verhinderung von strafbaren Handlungen oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Das bedeutet, daß Eingriffe durch eine zwingende soziale Notwendigkeit und insbesondere durch ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel gerechtfertigt sein müssen.
23Vgl.: EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/191/291 -, InfAuslR 1991, 149.
24Das ist hier der Fall. Nach dem bisherigen Erscheinungsbild besteht die dringende Gefahr, daß der Antragsteller erneut auch einschlägig in Erscheinung treten wird. Angesichts der Volljährigkeit des Antragstellers erweist sich seine mit der Ausweisung verbundene Trennung von seiner im Bundesgebiet lebenden Mutter und seinen Geschwistern als verhältnismäßig. Die familiären Kontakte können durch Briefe und Telefonate sowie durch Besuche in der Türkei in ausreichender Weise aufrecht erhalten werden.
25Soweit der Aussetzungsantrag die Abschiebungsandrohung betrifft, ist er infolge Wegfalls des Rechtsschutzinteresses unzulässig geworden. Nachdem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 18. Mai 1995 gegenüber dem Antragsteller eine neue Abschiebungsandrohung mit Ausreisefrist erlassen hat, hat sich die in der Ordnungsverfügung vom 12. Januar 1995 enthaltene Abschiebungsandrohung erledigt. Anhaltspunkte dafür, daß der Antragsgegner aus der Abschiebungsandrohung weiterhin Rechte herleiten würde, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat der Antragsgegner die ursprünglich für den Zeitpunkt der Haftentlassung des Antragstellers am 17. Mai 1995 vorgesehene Abschiebung nach dem am 11. Mai 1995 gestellten Asylantrag zunächst nicht weiter verfolgt.
26Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
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